23. Dezember 2008

Noviziat

 

Obwohl Kiel die Hauptstadt des nördlichsten Bundeslandes Schleswig-Holstein ist, lässt sich die Atmosphäre kaum als großstädtisch beschreiben. Die überschaubare Ansammlung der wenigen Kieze, die sich um die Förde gruppieren, bleibt die meiste Zeit über beschaulich und wird nur einmal im Jahr zur Metropole, nämlich dann, wenn sich Ende Juni die weltweite Prominenz der Segler auf den Wellen tummeln und die Parade der Windjammer Massen von Besuchern anlockt. Dagegen erscheint der Gedanke, hier ein Zentrum wichtiger Filmfestivals zu sehen, abwegig und absurd, was wohl daran liegt, dass sich die Festivals in Kiel jeweils an ein besonderes Publikum wenden. Auf dem Filmfestival „Augenweide“ präsentieren die Kulturelle Filmförderung Schleswig-Holstein (die inzwischen mit der Filmförderung Hamburg fusioniert ist) zusammen mit dem Kommunalen Kino im Kulturzentrum Pumpe aktuelle Produktionen aus dem auf ewig ungeteilten Land zwischen Nord- und Ostsee sowie Filme, in denen dieses Bundesland Teil der Handlung ist. Als Biennale in den ungeraden Jahren hat sich „Cinarchea“ internationales Renommee vor allem bei Ur- und Frühgeschichtlern, Ägyptologen, Altphilologen und Medienwissenschaftlern erworben. Den neuesten Zugang zu diesem anspruchsvollen Reigen bildete das „Fetisch Film Festival“, dessen Premiere vom 20. bis zum 29. November  2008 in der TraumGmbH zelebriert wurde, das erste deutschsprachige Filmfestival der SM-Kultur. Der Stammbaum verwandter Festivals verweist allerdings auf internationale Metropolen:  Unter dem Titel „Cinekink“ erblickte der Urvater dieser Gattung in New York City das Licht der Welt, das seit 2003 jährlich stattfindet und zeitweise in Seattle wiederholt wird. 2004 ging im norditalienischen Bologna das ebenfalls jährlich aktualisierte Festival „Bizarro“ an den Start.

 

Zu den Wiederentdeckungen gehört der schwarz-weiße Kurzfilm „Noviciat“ von Noël Burch aus dem Jahr 1965. Der religiös geprägte Titel weckt Assoziationen an eine autoritäre klösterliche Erziehung zu Demut, Gehorsam und Duldsamkeit, in der sich Neulinge zu bewähren haben, bevor sie in einem definitiven Ritual endgültig in den Orden aufgenommen werden. Eine verderbte Fantasie respektive die libertäre Denunziation der altehrwürdigen klerikalen Institutionen assoziiert mit diesem Setting jedoch zugleich das erotische Potenzial von Dominanz und Submission. Schon im Mittelalter finden sich Anklagen über das ausschweifende Leben von Nonnen und Mönchen, literarisch aufbereitet unter anderem in Boccaccios Novellensammlung „Der Decamerone“. Eine Hochphase erlebt dieses Genre vor allem in der französischen Aufklärung. Erinnern möchte ich hier an die Doppelbiografie der fiktiven Schwestern Justine und Juliette mit ihren prägenden Klosterkapiteln aus der Feder des göttlichen Marquis de Sade und den 1760 erstmals erschienen Roman „La religieuse“ („Die Nonne“) des Enzyklopädisten Denis Diderot, die beide bis heute nachgedruckt werden. Der bekannteste Film in dieser Hinsicht dürfte Fred Zinnemanns Verfilmung der Biografie der Nonne Marie-Louise Habets aus dem Jahre 1959 sein, „The Nun’s Story“, mit der zierlichen Audrey Hepburn in der Hauptrolle. Der Mönch als diabolischer Sittenstrolch schrieb sich durch Matthew Gregory Lewis‘  „The Monk“ in die Literaturgeschichte ein, zählt dieser Roman doch zu den Gründungsmythen des Genres Gothic Novel oder Schauerroman.

 

Burchs Werk bläst den Staub der Vergangenheit von dem Topos und bereitet es modern auf. Die exzellent fotografierten Szenen aus dem damals alltäglichen Paris atmen das Flair der Nouvelle Vague und könnten Doubles aus Godards „À bout de souffle“ („Außer Atem“) sein. An der Stelle des Knautschgesichts Bébél sehen wir den jungen Mann, der vor Schaufenstern oder Kinoreklamen herumlungert und versucht, möglichst unauffällig junge Frauen zu beobachten, die heftig mit ihren Stöckelschuhen klackern. Eine der vom ihm Beobachteten betritt eine Seitengasse, die von der belebten Straße weg zu einem Dojo führt, einer Turnhalle, in der Frauen üben, sich gegen Angreifer zu wehren. Plötzlich wird der Voyeur auf dem Glasdach entdeckt. Bevor er flüchten kann, wird er gestellt und als Gefangener abgeführt, hinein in das Dojo. Weil der Gestellte ein vorzügliches Demonstrationsobjekt für die schmerzlichen Griffe abgibt, verwirft die Kursleiterin ihren ersten Gedanken, die Polizei anzurufen. Der Mann lässt sich unter dem Gekicher und Gelächter der jungen Frauen kampfunfähig schlagen, für diese eine Stunde, wie er glaubt. Doch da irrt er sich. Als er gehen will, verstellt ihm die Instruktorin den Weg und befiehlt ihm, den Dojo mit dem Staubsauger zu reinigen. Er gehorcht, sein Noviziat beginnt. Obwohl er ahnen muss, was auf ihn zukommt, fügt er sich und schläft fortan auf einer Trainingsmatte. Die Regeln sind eindeutig und dulden keinen Widerspruch. Er wäscht ihre Kleidung mit der Hand, bügelt sie, reinigt und ordnet ihre Schuhe, die er devot liebkost, und zieht seine Herrin an, die ihn für jede Unachtsamkeit bestraft. Irgendwann wird das abgerichtete Objekt Mann einer anderen Frau vorgeführt, der er schließlich verkauft wird. Die asiatische Chauffeuse seiner neuen Besitzerin zieht im herrschaftlichen Oldtimer derweil eine große Spritze mit einer Flüssigkeit auf und erwartet ihr Opfer. Sobald der erfolgreiche Prüfling im Wagen sitzt, hat er seine letzte Chance zur Flucht verloren. Dabei erregen die Frauen auf der Straße das Interesse eines anderen jungen Mannes, der sich nicht ertappen lassen will. Sollte dieser Mann der Versuchung nachgeben, schlösse sich der Kreis und ein weiterer Novize hätte sich gefunden.

 

Der auf 16mm gedrehte Kultfilm „Noviciat“, das zweite auf Zelluloid gebannte Werk des 1932 in San Francisco geborenen Burch, lief auf Filmfestivals in London, Knokke le Zoute, Hyères, bei „Wet Dreams“ in Amsterdam und wurde auf dem Festival in Evian 1965 mit einem zweiten Preis ausgezeichnet, der zu gleichen Teilen mit einem anderen Film geteilt wurde. In den 1950er Jahren war Burch Regieassistent bei Preston Sturges und Michel Fano. Weil sich der Marxist, der eine Zeitlang in der Kommunistischen Partei war, in den USA nicht wohl fühlte, siedelte er 1951 nach Frankreich über. Mit J.-A. Fieschi und D. Mancier gründete, leitete und lehrte er von 1967 bis 1971 am Institut de Formation Cinémathographique. Der Essayist und Filmemacher vertrat in einem seiner Bücher die These, die Filmsprache habe eine soziale und ökonomische Geschichte. Die heutige Filmästhetik sei das Ergebnis der Entwicklungen des kapitalistischen und imperialistischen Westens, die 1892 begannen und 1929 abgeschlossen waren.

 

Mit seinen Werken versucht er, die dominante Ästhetik aufzubrechen, indem er andere Modelle der Gestaltung nutzt. In einem Interview, das er im Mai 2002 im Künstlerhaus Stuttgart gab, spitzte er zu: „Grundsätzlich geht es darum, dass das, was in einem Film zählt, die mise-en-scène ist, und dass die Narration / die Geschichte eigentlich nur eine Art von praktischer Unterstützung darstellt, die sonst überhaupt keine Bedeutung besitzt.“ Mit japanischer Kultur im allgemeinen und japanischen Filme im Besonderen hat er sich dezidiert auseinandergesetzt, die Allusionen in „Noviciat“ sind also kein Zufall. Dabei betont er, dass ein Dialog zwischen verschiedenen Kulturen illusorisch bleiben muss, weil fundamentale Missverständnisse sich zu intellektuellen Barrieren auftürmen, die sich nicht bezwingen lassen. Sogar die Kluft zwischen Frankreich und den USA oder zwischen einzelnen europäischen Staaten scheinen ihm unüberwindlich. In seinen letzten Jahrzehnten hat er sich als Professor in London, Paris, Brüssel, New York und Lille mit Genderfragen und dem Orientalismus beschäftigt. Obwohl „Noviciat“ die Atmosphäre der Swinging Sixties verkörpert, finden sich verwandte Bilder in der von Peter O’Donnell und Jim Holdaway kreierten Comicfigur „Modesty Blaise“ oder in Emma Peel aus der britischen Fernsehserie „The Avengers“ („Mit Schirm, Charme und Melone“). Die demonstrative Schwäche des masochistischen Mannes lässt sich mit gewissen Freiheit wohl auch als lustvolle Replik auf das zunächst anonym publizierte Skandalbuch „L’histoire d’O“ interpretieren, zumal dieses Motiv in Burchs Filmographie wiederkehrt: Für den britischen Fernsehsender Channel 4 und das ZDF drehte er den 54minütigen Film „The Year oft he Bodyguard“ (1981) über englische Suffragetten, die 1912 von einer weiblichen Jiu-Jitsu-Experten lernen, wie sie gegen die Polizei kämpfen und ihre Sprecherin beschützen können.

 

Britta Madeleine Woitschig (12/08)

 

 

Noviciat, Frankreich 1964, schwarz-weiß, 17 Minuten, Regie: Noël Burch, mit Frédérique Franchini, André S. Labarthe, Annette Michelson – erhältlich auf der DVD Gala Fur Vol. 1