21. Dezember 2008

Der Kick des Lebens

 

Tim Winton hat ein Faible für die großen melodramatischen Geschichten. 1960 in der Nähe von Perth, in Westaustralien geboren, schreibt er über obsessive Liebesbeziehungen, rohe Gewalt, verlorene Gestalten und die Sehnsucht nach einem Leben, das größer ist als jenes, das man gerade führen muss. Wintons Protagonisten sind häufig schicksalsschwer bepackt, doch selten risikoscheu. Manchmal werden sie für ihren Mut bestraft, manchmal belohnt. Da Winton seine Geschichten in eine leidenschaftliche, bilderreiche und hochpoetische Sprache kleidet, erscheint einem bei der Lektüre seiner Bücher das eigene Leben wie ein klitzekleiner Krümel, kaum der Rede wert. Was teilweise auch an der unglaublichen australischen Landschaft liegen mag, die Winton gekonnt vor einem aufmalt – anziehend und unbarmherzig, endlos und erhaben.

Kein Wunder, dass Winton seit Jahren einer der erfolgreichsten Autoren Australiens ist. Hierzulande gilt er immer noch als Geheimtipp. Daran haben weder sein 2004 auf Deutsch erschienenes Opus Magnum „Der singende Baum“ noch die wundervolle Geschichtensammlung „Weite Welt“ aus dem letzten Jahr etwas geändert. Gerade ist „Atem“ erschienen, Wintons neunter Roman. Ein Buch, das man eigentlich am Meer lesen sollte, schließlich geht es ums Wellenreiten. Doch das ist nicht alles.

Sawyer heißt der winzige Küstenort in Westaustralien. Viel Sonne gibt es dort, ein Sägewerk, Elstern und Kängurus. Sonst kaum etwas. Das attraktionslose Kaff ist die Heimat des 13-jährigen Bruce Pike. Ein sympathischer, sensibler Junge, der seine Eltern liebt, zwei aus England stammende, bis zur Unsichtbarkeit scheue Menschen. Sogar auf ihre Ratschläge hört er, bis er den gleichaltrigen Loonie trifft, dessen „manische Energie“ ihn sofort mitreißt. Die zwei befreunden sich, streunen herum, übertreffen sich gegenseitig im Luftanhalten bei Tauchspielen und bringen sich das Wellenreiten bei. Dem risikoreichen Wettstreit zugeneigt, wachsen die wellenförmigen Herausforderungen schneller als ihre schmalen Jungskörper. An der „Monotonie des Atemholens“ wird Pike schon mal nicht zugrunde gehen.

Endlich atmen können, Atem holen, vielleicht auch aufhören zu atmen – der körperliche Reflex ist in Wintons packend erzählter Coming-of-Age-Geschichte die zentrale Metapher im Leben seines Protagonisten. Ein Leben, bei dem Entgrenzungsversuche nur dann etwas taugen, wenn der Tod in der Nähe ist. Man muss das nicht gut finden. Der Ich-Erzähler tut es auch nicht: Pikes Jugend betrachten wir in einer kommentierten Rückschau, aus der melancholisch-skeptischen Perspektive eines Mannes mittleren Alters, der seinen Lebensunterhalt als Rettungssanitäter verdient. Die Vergangenheit ist ihm bis heute nicht geheuer. Beinahe wäre er daran zerbrochen, was freilich nicht allein an den immer gigantischeren Wellen lag.

„Kein Mumm, kein Ruhm“ – Wie in den Surfer-Romanen seines amerikanischen Schriftstellerkollegen Kem Nunn („Wellenjagd“, „Wo Legenden sterben“) ist das Surfen auch bei Winton eine Art Religionsersatz, ein ewiges „Spiel mit der Vernichtung“ und eine Droge für Übermenschen, die man allerdings nur genießen kann, wenn man entsprechende Lektionen in Demut gelernt hat: „Ich sah sie nicht kommen, die große Wasserplatte, die mich an den Knien abschnitt. Loonie sagte, sie wäre hinter mir heruntergekommen wie ein Erdrutsch und hätte mich einfach weggeschnippt. Ich hatte nicht einmal die Zeit, Luft zu holen. Abrupt war ich in die Dunkelheit getaucht, wurde über den Sandboden der Bucht gewirbelt, klammerte mich an den Rest Luft in meiner Lunge, während der Grus mir durch die Haare fuhr und meine Glieder sich anfühlten, als würden sie aus den Gelenken gerissen. Als ich wieder durch die Oberfläche stieß, war mein Brett längst verschwunden, und bevor ich anfangen konnte, an Land zu schwimmen, prasselte eine weitere Gischtladung auf mich hernieder, so dass ich tauchte und mich noch einmal durchprügeln ließ.“

Zahlreiche solcher und noch dramatischere Beschreibungen gibt es in „Atem“. Dass sie in ihrem überbordendem Detailreichtum nicht langweilen, dass man sie sogar bald herbeisehnt wie der Surfer die perfekte Welle, die es selbstverständlich auch gibt in diesem Buch, liegt an Wintons brutal sinnlicher Sprache. An Sätzen, die so sehr im Fluss sind, dass man sie am liebsten laut lesen möchte. Und selbstverständlich liegt das auch an seiner enormen Routine als Schriftsteller: Tempo rausnehmen, Tempo anziehen. Komplexe Figuren erfinden. Ganz langsam die Spannung steigern, die Wellen größer, gefährlicher, immer fieser machen. Vom Scheitern erzählen, nicht zu oft vom Siegen. Manchmal meint man, die Endorphine, dieses narkotische Gefühl, das die zwei Jungs so süchtig macht, würde auf einen übergreifen.

Eine der treibenden Kräfte bei Pikes und Loonies Suche nach dem ganz großen Kick ist Sando, ein 36-jähriger Surfguru – auch so ein Getriebener. ein ehemaliger Supersurfer von rauem Charme und schweigender Beredsamkeit. Winton hat ihn als wechsellaunigen und egozentrischen Geheimnisträger entworfen. Rasch buhlen die Jungen um seine Gunst, eine schlecht ausgependelte Männerfreundschaft beginnt. Diese Dreiecksbeziehung hat etwas ungemein Sektenartiges, beinahe Dämonisches. Und es ist bedrückend zu lesen, wie die Freundschaft zwischen Pike und Loonie zerbricht. Sie sind zu verschieden. Loonie ist sehr viel rücksichtsloser als Pike, vor allem aber überlebt ihre Beziehung die allzu chauvinistischen, auf dem Konkurrenzprinzip beruhenden Initiationsrituale nicht.

Insbesondere in diesen Passagen, in denen es um Selbstbehauptung und die verzweifelte Suche nach Anerkennung geht, wächst der Roman weit über das normale literarische Maß eines bloß spannenden Surferromans hinaus. Der kommentierende Ton des erwachsenen Pike bekommt dann etwas Tastendes, behutsam Empathisches und Grundtrauriges. Auch der Leser versteht den jungen Pike nur zu gut, wenn der sich, im Stich gelassen von Sando und Loonie, in Sandos Ehefrau Eva verliebt und mit ihr ein Verhältnis anfängt. Ein Verhältnis, das nicht gut enden kann. Das ahnt man schon, bevor Pike sich mit sexuellen Neigungen Evas auseinandersetzen muss, die er in seinem ganz normalen jugendlichen Drang nicht versteht – schlimmer, denen er kein Stück gewachsen ist. So ringen bald beide nach Luft, auf verschiedene Weise. Atem – wer ihn hat, darf weitermachen. Im Meer und an Land.

 

Michael Saager

 

Tim Winton: „Atem“, Luchterhand 2008, 236 Seiten, 16,95 EUR

 

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