17. Dezember 2008

Die Unsichtbarkeit des Mediums

 

Ein Fotograf streunt in einem Ausstellungsraum herum, in dem Fotos aus Afrika gezeigt werden, er ist nicht der einzige Fotograf, vielleicht handelt es sich um eine Vernissage, der Raum ist recht gut gefüllt, man weicht sich freundlich aus, so auch der Fotograf, plötzlich hebt er seine Kamera hoch und drückt ab. Der Film, in dem sich diese kleine Szene abspielt, zeigt dem Zuschauer unmittelbar das entwickelte Bild des Fotografen (Robert Lebeck). Man fragt sich sofort: Wie hat Lebeck das sehen können, was er da fotografiert hat, das Bild ist eine verblüffende und umwerfende Kombination aus ausgestelltem Fotomaterial des Raumes und einem formal entsprechenden Kleidungsstück eines Betrachters der Ausstellung. Hat er da einfach nur Glück gehabt, oder macht das Warten auf den „entscheidenden Augenblick“ (Cartier-Bresson) eben den Unterschied zwischen Amateur und Profi (in der Verlängerung: Paparazzo)? Ohne die glückliche oder glückende Intervention Lebecks hätte es diese Überschneidung niemals gegeben, sie wäre niemandem aufgefallen, und insofern lässt sich sagen, dass Lebeck hier tatsächlich etwas erfunden hat. Lebeck dokumentiert nicht (zumindest in diesem Fall), sondern er kreiert.

 

Das, was Roland Barthes in „La chambre clair“ das Moment des « ça-a-été », also des « das ist gewesen » genannt hat, um damit die Vorgängigkeit des Referenten/Gegenstands etc. vor dem fotografischen Bild zu betonen, fällt bei diesem Beispiel mit Lebeck ins Leere. Es ist vielmehr das Bild, das uns darauf aufmerksam macht, dass wir etwas nicht gesehen haben, das auch niemand anderes, einschließlich Lebeck, gesehen hat. Genau diese doch ziemlich anachronistische Auffassung von Fotografie im Sinne Barthes’ ist es, die André Rouillé in seinem dicken Schmöker zur Fotografie immer wieder im Visier hat: Die nach wie vor starke Tendenz, Fotografie mit Dokumentarfotografie in eins zu setzen, den Fotografen als bloßen Maschinisten ohne subjektive Zutat zu verstehen und die „Entwicklung“ des Bildes von den Einstellungen über das Abdrücken bis hin zum fertigen Abzug zu vernachlässigen.

 

Fotogramm und Fotomontage sind nur zwei Beispiele der Überwindung des gewissermaßen ontologischen Moments des „Klebens“ des Referenten am Bild, so dass die Fotografie als eigenständiges Moment des Zeigens gar nicht mehr in den Blick gerät, der vielmehr durchschießt auf das „Urbild“ im Sinne Barthes’. André Rouillés ein wenig lang geratene, a-chronologisch-umherschweifende Geschichte der Fotografie zerfällt in drei Teile; der erste behandelt das Verhältnis von Dokumentarfotografie und dem, was er „photographie-expression“ nennt, also die „Erfindung“ des Fotografen als Autor und der Dialog mit dem „Anderen“, der nicht einfach schon da ist.

 

Im zweiten Teil steht das Verhältnis von Kunst und Fotografie im Mittelpunkt. Anders als heute war Fotografie die längste Zeit ihres Bestehens keine Unterabteilung der Kunst, sondern eher ein Dienstleister (Familienalbum) oder ein Nachahmer der wirklichen Kunst (Malerei). Der so genannte Piktorialismus ist die wohl bekannteste Spielart der Verleugnung der Eigengesetzlichkeit von Fotografie. Ein paar Jahrzehnte später versuchen wiederum die Maler, allen voran Francis Bacon, auf einer höheren Ebene der Spirale gegen die „Clichés“ innerhalb der Malerei selbst anzumalen, auf die sie sich jedoch noch berufen (als Fotovorlagen), um sie dann allerdings radikal umzuarbeiten. In einem dritten Teil werden die Künstler und ihre Konzepte vorgestellt, die (auch) als Fotografen gearbeitet haben.

 

Rouillé erweckt den Eindruck, als ob erst die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts bzw. die Postmoderne die Fotografie zu einer eigenständigen Kunstrichtung geführt hätten, während noch in dem Jahrzehnt zuvor zum Beispiel im Bereich der „concept art“ Fotografie ein eher parasitäres Dasein zugemutet wurde. Rouillés Betrachtungen zur Fotografie sind immer in Kräfte- und Machtverhältnisse eingebunden, was den Nachteil hat, dass singuläre Ereignisse immer schon von diskursivierenden Effekten eingeschränkt, hervorgebracht oder begleitet betrachtet werden. Zu unterschiedlichen Zeiten sind aber selbstverständlich auch andere Kräfteverhältnisse am Werk, so dass es schwer fällt, die jeweiligen Zeitspannungen in andere zu übertragen.

 

„La Photographie“ will beides sein: Geschichte der Photographie (die zerfällt in Geschichten) und Kritik eben dieser Geschichte, die sich gegen bestimmte Konzeptionen richtet wie den naiven Dokumentarismus. An vielen Stellen gelingt es Rouillé, die Eigenlogik von Fotografie herauszustellen, paradoxerweise landet er aber damit genau an der Theoriestelle, die er, durch Namen wie Clement Greenberg besetzt, hinter sich lassen wollte. Wer „die“ Fotografie sein lassen möchte, müsste eigentlich großen Spaß daran haben, die „Fotografie“ Revue passieren zu lassen. Das lässt aber Übervater Gilles Deleuze nicht zu, der im Hintergrund den Boden absteckt und bestimmte Positionen von vornherein nicht in den Blick bekommt. Aber was gibt es eigentlich gegen Roland Barthes’ „Schwäche“ für Nostalgie zu sagen?

 

Dieter Wenk (12-08)

 

André Rouillé, La photographie, Paris 2005 (Gallimard; folio essais)