17. Dezember 2008

Verbundsystem

 

Wie entstehen Arschlöcher? – vorausgesetzt, man wird nicht als ein solches geboren. Verbocken es die Eltern, ist „die Gesellschaft“ schuld oder hat man einfach nur Pech gehabt auf dem Weg zu sich selbst? Professor oder Penner, manchmal sind es nur fünf Minuten im Leben einer viel versprechenden Existenz, die zu ihrer völligen Degradierung führen. So sieht es jedenfalls Enno Stahl in seinem jüngsten Roman „Diese Seelen“.

 

Da ist zum Beispiel Robert, sehr guter Schüler, allerdings auch ziemlich arrogant, ehrgeiziger Student mit dem Willen, im Wissenschaftssystem etwas zu reißen. Am Ende wird dann doch ein anderer den von ihm beanspruchten Weg der akademisch-universitären Laufbahn einschlagen dürfen. Robert wird damit nicht fertig, gibt seiner Freundin den Laufpass, arrangiert sich mit der Arbeitslosigkeit und steuert auf die Katastrophe zu. Oder da ist Tess, die schon als Schülerin Reportagen fürs Lokalblatt schreibt. Mit einem Faible fürs Soziale, für die Verbesserung der Welt. Ein paar Jahre später gehört sie selber zu denen, die sie als Schülerin verachtete. Underdog Jürgen hat durchaus Talente, aber beim Fußball zieht leider sein bester Freund an ihm vorbei und macht Karriere im Profifußball.

 

Und dann ist da noch Mika, ein Aschenputtelschicksal, arbeitsam, aber wenig sich selbst zutrauend, deren Leistung andere überhaupt erst erkennen, weil sie selbst sich so zurücknimmt. Nützen tut ihr das schließlich auch nichts, weil das Schicksal ihr eine unselige Begegnung beschert – ausgerechnet mit Robert, der es nicht wahrhaben will, dass geringer Qualifizierte als er über seinen weiteren Weg bestimmen dürfen, Mika arbeitet nämlich beim Arbeitsamt und bearbeitet Roberts „Fall“. Wie in Robert Altmans „Short Cuts“ sind die vier Schicksale miteinander verwoben, die vier Porträtierten stellen sich gegenseitig das Bein oder provozieren mehr oder weniger willentlich kleine oder große Katastrophen.

 

Enno Stahl nimmt den Leser jeweils mit in bestimmte Milieus und Befindlichkeiten wie Post-Doc-Mentalitäten, Fernsehzirkus-Zynismen, Kleinkriminellen-Anschnitte oder Biederfrau-Angepasstheiten. Das liest sich, als ob das Genre sich selbst über die Schulter schauen würde, um zu prüfen, ob das alles auch so stimmt, wie es aufgeschrieben wurde. Man kann auch von Sollübererfüllungsliteratur sprechen. Damit teilt der Roman einen gewissen Teil der Probleme, die die Figuren selber mit sich rumtragen. Sie haben zu wenig Distanz zu sich selbst. Zu dicht mit sich selbst verwoben. Der Anspruchsgedanke, genau dort angekommen sein zu müssen, wo sie auch selbstverständlich weitermachen dürfen. Das heißt aber nur, Identität mit Selbstidentifizierungsüberschuss zu verwechseln. Leider sind eben immer auch noch ein paar andere Instanzen für einen selbst zuständig.

 

Die Geschichten, die Stahl präsentiert, gehen alle ziemlich traurig aus. Und doch sind die Fäden nicht so eng zusammengezurrt, dass man deutlich Verantwortlichkeiten für die Missgeschicke aussprechen könnte. Das Buch ist hart an der Sozialreportage, und doch könnten auch ganz andere Biografen weitergesponnen werden. Niemals wird der sogenannte Neoliberalismus den Zufall abschaffen. Denn wenn er es täte, hätten wir auch keine Literatur mehr.

 

Dieter Wenk (11-08)

 

Enno Stahl, Diese Seelen. Roman, Berlin 2008 (Verbrecher)

 

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