6. Dezember 2008

Dirty Dens letztes Interview

 

Sie waren zu dritt, damals, irgendwann im März: Dennis, Rupert und Melvyn. Sie saßen in einem karg eingerichteten Studio des privaten Senders Channel 4 und sprachen miteinander. Nein, nicht alle drei. Rupert schwieg, weil er eigentlich nicht reden konnte, denn Rupert war ein Teil von Dennis und zwar ein bösartiger Teil. Gut ein Vierteljahr später hätte Rupert nämlich Dennis ins Grab gebracht. Rupert befand sich in Dennis’ Körper und bestand aus Krebszellen, die in seiner Leber und seiner Bauchspeicheldrüse wucherten. Mit trockenem britischen Humor hatte ihn sein Wirt nach jemandem getauft, den er nicht ausstehen konnte: Seinen Namen erhielt der Tumor nach dem Medienmogul Rupert Murdoch. Für Dennis Potter personifizierte dieser Tycoon den Niedergang der britischen Medienlandschaft, in der fortan Einschaltquoten und zerstreuende Unterhaltung den Ton angaben. Ein derart niedriges Niveau verabscheute Dennis.

Vielleicht wäre ein anderer Anfang besser: Angenommen, der vorhergehende Absatz sei nicht geschrieben, was böte sich dann an? Schließlich war Dennis Potter zu Lebzeiten eine Legende, wenn auch nicht jedermanns Liebling. Nach der Ausstrahlung seiner BBC-Serie „Blackeyes“ über ein Model mit schwarzen Augen, das ihre eigene Geschichte gegen das erfolgreiche Buch ihres Onkel verteidigt, den skandalösen Bestseller eines alternden Schriftstellers, wurde er von Germaine Greer und anderen Feministinnen der Misogynie bezichtigt und erhielt den Spottnamen „Dirty Den“. Nun ja, polarisiert hat Dennis mit seinen Fernsehspielen und -serien seit Jahrzehnten, kein Wunder, waren diese doch durchsetzt von sexuellen Anspielungen, beschämendem menschlichen Verhalten und drastischen Situationen. In „Blue Remembered Hills“ zeigt er, wie Kinder während des Zweiten Weltkriegs einen gleichaltrigen Außenseiter umbringen. Die Vergewaltigung einer Behinderten in „Brimstone & Treacle“ führte dazu, dass der Film von der BBC jahrelang unter Verschluss gehalten wurde; ironischerweise gab es ein Remake mit Sting in der Rolle des verführerischen Teufels, das während des Banns entstand. Tja, die Remakes, das wäre ein Kapitel wert – genug der Abschweifungen, zurück zum Thema: Seine Werke für das Fernsehen waren Tagesgespräch bei arm und reich, jung und alt, quer durch die Klassengesellschaft des Vereinigten Königreichs. Und sie heimsten Preise ein: Zunächst verdiente sich Dennis unter anderem zweimal den BAFTA Award für das beste Drehbuch, 1966 und 1978; ein Jahr nach seinem Tod wurde der Preis ihm zu Ehren nach ihm benannt. Mit seinen Werken machte er jedoch Schauspieler zu Stars: Seine Serie „Pennies from Heaven“ beförderte den Ruhm von Bob Hoskins, mit „The Singing Detective“ wurde Michael Gambon zu einer festen Größe, und auch Ewan MacGregor ist ihm zu Dank verpflichtet, wegen „Lipstick on Your Collar“.

Wie? Das klingt alles unverständlich? Diesen Vorwurf musste sich auch Dennis öfters anhören. Seine Geschichten entfalteten sich langsam, häufig auf mehreren Ebenen, die zunächst disparat nebeneinander standen – Serien bilden schließlich einen wichtigen Teil seines Werks. Hinzu kam sein gebrochenes Verhältnis zum Realismus, den er ebenso wenig leiden konnte wie das Genre der Autobiografie. Sicher, seine Filme und Serien sind reich an autobiografischen Elementen, aber darum ging es ihm nicht. Der fiktive Teil war ihm wichtiger. Er war der Meinung, es käme nicht darauf an, die Ereignisse in journalistischer Manier zu dokumentieren, wenn er sein Publikum erreichen wollte; entscheidend sei es, so intensiv zu erzählen, dass das Gesehene nacherlebbar wurde. Zu diesem Zweck schlug er unkonventionelle Wege ein, für das Medium Fernsehen unkonventionelle Wege: Bewusstseinsstrom, Träume, Vorstellungen, Fiktionen und Imaginationen seiner Figuren, unsichere oder konkurrierende Erzählinstanzen, subjektive Perspektiven. Das gesamte Arsenal der modernen und postmodernen Literatur übersetzte er in das Medium Fernsehen und revolutionierte damit die Gewohnheiten des Publikums erst in Großbritannien, dann in den USA und schließlich weltweit. Ohne den Erfolg der BBC-Serie „The Singing Detective“ hätte David Lynch nie die Erlaubnis erhalten, in „Twin Peaks“ nach Belieben zu schalten und zu walten. Nicht-lineare Formate, die durchaus ästhetisch mit den besten Kinofilmen konkurrieren können, wären ohne ihn nie zum Standard geworden. Noch zu seinen Lebzeiten wurde Dennis ernsthaft mit Shakespeare auf eine Stufe gestellt; einen vergleichbaren Nimbus hat bestenfalls Alan Moore.

Vielleicht sollte ich mich in meiner Lobeshymne zügeln, da zu viel des Guten Misstrauen erwecken könnte. Aber die eben erwähnten drei Herren haben wesentlich mehr als ihre Staatsbürgerschaft und ihren Ruhm gemein. Shakespeare, Moore, Potter – das sind vergleichbare Wege in den künstlerischen Olymp: Jungen aus der englischen Provinz, aus den niederen Ständen oder der Arbeiterklasse stammend, jedenfalls nicht aus dem Adel beziehungsweise der Oberschicht, deren Aufstiege fantastisch und unglaubwürdig wirken können. Die Legenden um die angeblich wahren Identitäten des Barden aus Stratford-upon-Avon bilden inzwischen ein eigenes Subgenre im Nonfiction-Bereich; die biografische Literatur über den unheimlich produktiven Magier aus Northampton wuchert fröhlich – und über Dennis …?

Dennis Potters Leben enthält die nötigen Zutaten für einen Roman oder einen Kinofilm. Am 17. Mai 1935 erblickt er im „Brick House“ in Joyford Hill bei Coleford im Forest of Dean in der englischen Grafschaft Gloucestershire als Sohn eines Bergmanns das Licht der Welt. Als sich seine Mutter 1945 von ihrem Mann trennt, nimmt sie ihre beiden Kinder, Dennis und seine jüngere Schwester June, mit zu ihren Eltern nach Hammersmith. Die neun Monate in London, nach denen seine Mutter zurückkehrt, werden für den Jungen verheerend sein. Ein traumatisches sexuelles Erlebnis wird sich in sein Leben einschreiben, wahrscheinlich eine Vergewaltigung durch seinen Onkel Ernie. Der intelligente Junge beendet seine Schulkarriere zwar mit einem Stipendium für die University of London, aber vorher wird er einberufen. Im National Service lernt er Kenith Trodd kennen, eine Freundschaft fast bis in den Tod. Für den Geheimdienst übersetzen die beiden während der Suez-Krise russische Zeitungstexte. Wieder frei, immatrikuliert er sich in Oxford, wo er die britische Klassengesellschaft stärker spürt als je zuvor. Dennis artikuliert seinen Unmut in journalistischen Artikeln und tritt in die Labour Party ein, für die er 1964 im Wahlbezirk Hertfordshire East vergeblich kandidieren wird. Obwohl Labour gewinnt und die neue Regierung stellt, verliert er nicht nur gegen den konservativen Kandidaten, sondern auch sein Vertrauen in Politik und Journalismus. Nachdem er in seinen Nonfiction-Büchern, darunter das erste über die Bewohner des Forest of Dean, in seinen Augen gescheitert ist, weil die einfachen Leute seine realistisch formulierte Kritik an den Zuständen als Beleidigung und Diffamierung auffassen, wendet er sich der Fiktion zu. In den folgenden gut 30 Jahren wird er so 40 Fernsehproduktionen erschaffen, darin inbegriffen 28 Originaldrehbücher und elf Serien; für neun Kinofilme wird er das Drehbuch verantworten; des Weiteren entstehen drei Romane und ein Theaterstück. Seine einzige Kurzgeschichte wird kurz vor seinem Tod in einer Zeitung gedruckt werden. Die ersten Anzeichen seiner schweren Krankheit zeigten sich allerdings schon 1961. Seine psoriatische Arthropathie behindert den jungen Mann extrem, denn bei dieser Form der Schuppenflechte löst sich seine Haut nicht nur in hässlichen Fetzen, vielmehr schwellen auch seine Gelenke an, und sein vegetatives Nervensystem verliert die Kontrolle über die Körpertemperatur. Der monströse Invalide kann nur unter Qualen arbeiten; ein im Krankenhaus verfasstes Manuskript soll mit Blut und Vaseline verschmiert gewesen sein. Als ihm das Guy’s Hospital 1977 eine Therapie mit der zytotoxischen Droge Razoxane anbietet, eine experimentelle Behandlung, stimmt er zu. Der Erfolg scheint seinem Vertrauen recht zu geben. Sechs Jahre später muss er das Mittel absetzen, da die Nebenwirkungen zu stark werden. Bei einer Routineuntersuchung Ende 1993 oder Anfang 1994 erfährt er, dass sich in seinem Körper ein Tumor gebildet hat, dessen Metastasen rettende Operationen unmöglich machen. Sein Arzt gibt ihm bestenfalls ein halbes Jahr.

In dieser Situation entsteht das Interview mit Melvyn Bragg, eine Sondersendung mit einem Geistesverwandten, keine aggressive Demontage eines Umstrittenen. Wie Dennis hat Bragg sowohl journalistisch als auch belletristisch gearbeitet. Der erfolgreiche Romancier wurde später zum Lord geadelt, hat für das Fernsehen als Produzent, Drehbuchautor und vor der Kamera als Moderator Renommée erworben. Bragg hegt Sympathien für die Labour Party, ist mit Tony Blair befreundet und außerdem nur wenige Jahre jünger als Dennis. Nach den Attacken wegen „Blackeyes“ tritt Dennis höchst ungern auf – und mit der BBC hatte er gebrochen. Den seit 1992 amtierenden Intendanten John Birt beschimpfte er als „krächzenden Dalek“ (nach einem der klassischen Erzfeinde des Timelords „Dr Who“), als beschränkten Automaten, der stumpf und stur vernichtet, was kein Dalek ist – deshalb ein Privatsender. Die Versöhnung gelang erst postum: Seine intertextuell verflochtenen, jeweils vierteiligen Serien „Karaoke“ und „Cold Lazarus“ wurden im selben Zeitraum 1996 parallel von der BBC und Channel 4 ausgestrahlt. Wegen der sich daraus ergebenden Copyrightprobleme gibt es bisher von keiner der Serien eine DVD-Version.

Seine ersten Triumphe erlebte Dennis zu Lebzeiten: 1980 richteten das britische National Film Theatre und National Film Archive eine Retrospektive aus, 1992 zeigte das Museum of Television & Radio in New York seine Werke. Im folgenden Jahr gibt er in Edinburgh eine Ehrenvorlesung. Bei der Begegnung mit Bragg weiß er, dass dieses Interview sein künstlerisches Vermächtnis sein wird. Der Kettenraucher nimmt die Anstrengung auf sich, die mehrmals unterbrochen werden muss, wenn er seinen Flachmann mit dem Morphiumsirup aufschrauben muss, um den Schmerz zu betäuben. Champagner trinkend sitzt der alte Mann mit verkrampften Fäusten (seine offizielle Webseite heißt „Clenched Fists“) im Stuhl und gibt Auskunft über sein letztes Projekt „Karaoke / Cold Lazarus“, seinen persönlichen Kampf mit dem Tod, bei dem die größte Sorge des Humanisten ist, dass er vier Seiten vor dem Finale seines Manuskripts abberufen werde. Obwohl sich der Dialog auch als Transkript nachlesen lässt, ist die audiovisuelle Version vorzuziehen, mit der eine Epoche britischer Mediengeschichte beendet wurde. Sogar dieses Interview hat seine Fans, und der Ruhm des Dennis Potter wächst mit jedem Tag.

 

Britta Madeleine Woitschig (11/08)

 

Without Walls Special: An Interview with Dennis Potter, mit Dennis Potter, Melvyn Bragg, Judy Daish, Produktion: LWT, Erstausstrahlung: Channel 4, 5. April 1994, 68 Minuten, Regie: Tom Poole

 

Dave Evans: Clenched Fists – The Official Dennis Potter web site 1994-2005

 

www.yorksj.ac.uk/potter