20. November 2008

Himmel, Hölle, Alltag

 

VON: THOMAS VON STEINAECKER

 

Sowohl hinsichtlich der Lakonie der Handlung, der Lethargie der Figuren wie auch der klaren Linie der schwarzweißen Zeichnungen steht Arne Bellstorf, Jahrgang 1979, seinen US-Kollegen Adrian Tomine, Chris Ware und Daniel Clowes nahe.

 

Arne Bellstorf: Acht, neun, zehn, Reprodukt Verlag 2005

 

 

„Du bist ja schon da“ ist an sich ein harmloser Satz. „Du bist ja schon da“ kann aber auch ein ziemlich abgründiger Satz sein. Zum Beispiel wenn man 16 ist, die 10. Klasse wiederholen muss, die Sommerferien lang und ereignislos, die Hecken in dem Viertel, in dem man wohnt, akkurat geschnitten, die Gartenzäune frisch gestrichen und die Straßen leer sind, und man nach Hause kommt, obwohl es da doch fast noch langweiliger ist als draußen. Und dann begrüßt einen die Mutter mit genau diesem Satz: „Du bist ja schon da.“

 

„Du bist ja schon da“ ist der erste Satz in Arne Bellstorfs Comic-Debüt „Acht, neun, zehn“, ein Buch, in dem hinter den kleinen, unscheinbaren Sätzen und Gesten des Alltags manchmal ein Abgrund lauert – aber hier und da auch ein stilles Glück. Die Geschichte, die dabei Christoph, der Hauptfigur dieser Welt, zustößt, erscheint auf den ersten Blick wie eine klassische Coming-of-Age-Geschichte. Seine Mutter ist geschieden und hat keinen rechten Draht zu ihrem Sohn. Christoph weiß nichts mit sich anzufangen, bis er ein Mädchen kennen lernt, vielleicht ist er in sie verliebt, vielleicht sie in ihn, jedenfalls versuchen die beiden dann die Sachen zu tun, die man eben tut, wenn man glaubt, verliebt zu sein. Am Ende sind sowohl die Mutter als auch der Sohn um eine schmerzliche Erfahrung reicher, und die Mutter findet – vielleicht zum ersten Mal – ihm gegenüber die richtigen Worte.

 

Sowohl hinsichtlich der Lakonie der Handlung, der Lethargie der Figuren wie auch der klaren Linie der schwarzweißen Zeichnungen steht Arne Bellstorf, Jahrgang 1979, seinen US-Kollegen Adrian Tomine, Chris Ware und Daniel Clowes nahe, dessen David Boring Christoph Bachmanns großer Bruder sein könnte. Auch wenn Bellstorfs zweifellos genauer Blick manchmal ein bisschen zu oft auf den alltäglichen Details verharrt – in den sterilen wie poetischen Panels, dem Gespür für knappe Dialoge der Nicht-Kommunikation und den unaufdringlich eingesetzten Symbolen braucht „Acht, neun, zehn“ den Vergleich mit diesen großen Namen tatsächlich nicht zu scheuen.

 

Gleichzeitig ist das Buch aber mehr als die Fortschreibung eines mittlerweile bewährten, aber auch inflationär gewordenen Erfolgsrezeptes: Einerseits verzichtet Bellstorf im Unterschied zu Tomine und Clowes darauf, seine Handlung mit Versatzstücken aus Krimis oder der Sciencefiction anzureichern; andererseits kommt es im Buch aber auch nie zu radikalen Experimenten mit dem Medium à la Wares „Jimmy Corrigan“. In „Acht, neun, zehn“ ist die stringent erzählte Boy-meets-Girl-und-Mutter-Sohn-Geschichte stattdessen von scheinbaren Banalitäten geprägt: Ähnlich wie die Klasse, die Christoph wiederholen muss, geht auch hier nichts wirklich voran und ist schon wieder vorbei, bevor es angefangen hat – wenn Christoph auf dem Gehsteig über das Himmel-und-Hölle-Spiel eines kleines Mädchen tritt, dann befindet er sich selbst mit seinem Leben dazwischen: im endlosen Fegefeuer des Alltags. Der Bus, der am Ende von Clowes „Ghost World“ die Hauptfigur abholt – hier fährt er nie.

 

Dass aber Bellstorf eben diese buchstäblich graue Welt, die wir alle kennen und deshalb häufig übersehen, ohne jeden Knalleffekt sichtbar macht, das macht „Acht, neun, zehn“ zu einem kleinen, großen Comic-Buch.

 

Arne Bellstorf: Acht, neun, zehn, Reprodukt Verlag 2005

 

 

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