27. Oktober 2003

Die Ungeduld des Psychiaters

 

Einen Moment lang hätte man Dr. Broden für den halten können, der sich selbst für den einzigen würdigen Nachfolger Freuds hielt, obwohl er, Broden, von sich sagte, eben kein Freudianer zu sein, sondern einfach nur ein Genie, was der andere Psychiater ja schon ein bisschen war. Aber so beeindruckend die Kurzsitzung und der Rauswurf eines Menschen war, der sich immerhin als krank bezeichnet hatte, so endete in dem Moment die Zuschreibung, wo Broden einen Fehler eingestand. Lacan hätte das niemals getan. Außerdem war ja die Scharlatanerie auf der anderen Seite des Ärztezimmers, also auf der Seite von David Stilwell, der von sich behauptete, seit zwei Jahren an Erinnerungsverlust zu leiden, und der einzige Fehler des Arztes darin bestand, nicht erkannt zu haben, dass der Gedächtnisschwund eben gerade eingesetzt hatte, und somit das traumatisierende Erlebnis ganz frisch sein musste, also maximal zwei Tage alt.

Aber damit spielt ja der Film nicht nur an dieser Stelle: Was ist überhaupt los mit diesem Menschen, den andere begrüßen, der andere aber nicht wiedererkennt, obwohl er nach deren Verhalten davon ausgehen müsste, dass man mindestens schon mal Kaffee zusammengetrunken hat. Und dann diese Leute mit Pistole. Was wollen die eigentlich. Sie sind so merkwürdig entscheidungslos oder einfach nur tollpatschig David gegenüber, als ob man ihn mit seidenen Fingern anfassen müsste, obwohl man sich vorstellen kann, was denn einen Kostenrechner so wertvoll macht.

Den Einbruch bringt das Surreale in Gestalt einer fast Picabia-mäßigen Landschaft. Ein Nicht-Ort, flach, hier und da Bäume, unter einer Gruppe stehen zwei Menschen, Männer, die sich zu unterhalten scheinen. Das ist immerhin ein Anhalt. Und auf jeden Fall eine Gegend, die es in New York nicht gibt. Nachdem David seinen leutseligen und für seinen ersten Fall gar nicht mal so schlechten Privatdetektiv verloren hat – eine ähnliche Isolierungsstrategie wie bei Aldrichs „Baby Jane“ zwei Jahre früher, man möchte jemanden wirklich ganz für sich haben, um mit ihm machen zu können, was man will – geht er ein zweites Mal zu seinem Psychiater, der sich diesmal etwas mehr Mühe gibt und immerhin ein Schuldgeständnis abliefert. Und ein bisschen Freud ist auch dabei. Die geschlossenen Augen, was sehen sie, Picabia tritt wieder auf, David soll sich in seinem Kopf bitte ein wenig umsehen, die Augen inwendig nach rechts und links schweifen lassen, und in der Tat, die Mühe lohnt sich, was man da zu sehen bekommt ist ein Lynch’scher Blick auf das Kolossale selbst wie aus dieser ein wenig albernen Trackerfahrt des Alten zu seinem Bruder.

Die Landschaft gehört also nicht der Kunst oder dem Wahnsinn, sondern ist geografisch eindeutig nach Kalifornien (schon wieder) zu verorten. Und David ist kein Kostenrechner, sondern ein Chemophysiker, der sich erfolgreich Gedanken gemacht hat über die Zurückhaltung des Fall-Out bei radioaktivem Zerfall. Das ist ja der militärischen Atomlobby auf den brennenden Leib geschrieben, und doch gibt es da den Frieden liebenden Charles Calwin, der damit was ganz anderes vorhat als Leiter der Stiftung der Garrisson-Laboratorien. Oder täuscht diese Einschätzung? Was treibt er wirklich mit Crawford, den alle den Major nennen, wenn sie seine Untergebenen sind, und auch Calwin nennt ihn so. David jedenfalls setzt nun alles brav zusammen, er wollte die Formel nicht rausrücken, und als er sie in New York im 27. Stock anzündete, und das brennende Blatt aus dem Fenster werfen wollte, wollte Calwin das verhindern, wobei er aus dem Fenster fiel. David aufgrund der fast väterlichen Bindung kriegte davon natürlich sofort einen Knacks, und so fängt der Film an, direkt nach dem Fenstersturz, hier also in New York.

 

Dieter Wenk

 

<typohead type=2>Edward Dmytryk, Die 27. Etage, USA 1964</typohead>