13. November 2008

Die „Neuvermessung“ der Welt

 

Der renommierte Soziologe Ulrich Beck leitete auf dem diesjährigen Soziologentag die Erforschung der „Unsicheren Zeiten“ mit einem Vortrag ein, der die Frage nach der globalen Gerechtigkeit neu stellt. Mit Becks essayistischen Ausführungen stieg die Soziologie aus ihrem Elfenbeinturm und kann sich nun den drängenden Fragen unserer Zeit zuwenden.

 

Die Schere zwischen Arm und Reich geht zunehmend auseinander, im nationalen wie im internationalen Bereich. Die Prozesse der Globalisierung führen jedoch dazu, dass der nationale Bezug immer stärker in den Hintergrund gerät und im internationalen Bezug ein stärkerer Wunsch nach Gleichheit entsteht. Die Modernisierung der asiatischen Riesen China und Indien ist letztlich ebenso Resultat von diesem Wunsch nach Gleichheit wie die zunehmenden Migrantenströme, die an den südlichen Grenzen Europas auflaufen. Der Wunsch nach gleichen Lebensbedingungen wird zum erklärten Menschenrecht, welches sich in diesen Entwicklungen niederschlägt. Die nationalstaatlichen Bezüge im Kampf gegen soziale Ungleichheit bleiben zwar in den Köpfen bestehen, verlieren aber in einer zunehmend vernetzten und zusammenwachsenden Welt ihre Relevanz.

Was der Soziologe Ulrich Beck, der an der Universität München und der London School of Economics an Political Science lehrt, auf dem diesjährigen Soziologentag in Jena eröffnend feststellte, war nur der Beginn einer zeitgemäßen „Neuvermessung der Ungleichheit unter den Menschen“. Diese müsse im postmodernen Zeitalter ihre eigentliche Verbindung im Weltmaßstab suchen und nicht mehr in den kleinteiligen nationalstaatlichen Ebenen der industriellen Moderne, so das Credo des Soziologen.

Am deutlichsten wird dies, so kann man seinem Eröffnungsvortrag entnehmen, am Beispiel des Klimawandels. Hier finde eine zunehmende Entkoppelung der Verantwortlichkeiten vom sozialen Handeln statt. Beck nennt dies „Nebenfolgenprinzip“. Damit meint er, dass Gesellschaften und Regionen von den Nebenfolgen der Entscheidungen anderer betroffen sind. Das heißt, wenn sich die westlichen Industrieländer nicht zur Durchsetzung der in Kyoto vereinbarten Klimaschutzziele entschließen können, sind die ersten Betroffenen mehrheitlich eben nicht die Klimafolgen verursachenden Länder, sondern diejenigen Gesellschaften, die am wenigsten oder gar nichts dazu beigetragen haben. „Globale Umweltgefahren setzen genau dies voraus und in Gang: Risikoerzeugung und Risikobetroffenheit werden räumlich und zeitlich entkoppelt. Was eine Bevölkerung an Katastrophenpotenzial schafft, trifft ‘Andere‘: die Menschen in fremden Gesellschaften und zukünftige Generationen. Entsprechend gilt: Wer die Entscheidung fällt, Gefährdungen anderer auszulösen, kann dafür nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden. Es entsteht – weltweit – eine organisierte Unverantwortlichkeit.“

Diese Unverantwortlichkeit ist auch in der Finanzkrise zu spüren. Wenn Spekulanten Gelder investieren, ohne nach rechts und links zu schauen, mag das Sache der betroffenen Banken sein. Wenn allerdings Gewinne privatisiert, wie es in der Vergangenheit der Fall war, und nun die Verluste sozialisiert werden, zeigt das deutlich, dass die Verantwortlichkeiten nicht mehr stimmen bzw. nie existent waren. Plötzlich werden die öffentlichen Haushalte und damit die zahlenden Bürger zur Kasse und damit zur Verantwortung gebeten, die sich bisher bitte nicht einmischen sollten – von teilnehmen ganz zu schweigen. Spekulanten, Investmenthäuser, Fondgesellschaften und Banken haben sich in diesem System der kollektiven Verantwortungslosigkeit ebenso eingerichtet, wie die Staaten und Regierungen es getan haben. Alles natürlich in der Hoffnung, dass nichts schief geht. Resultat: Diejenigen zahlen, die am wenigsten dazu beigetragen haben.

Doch zurück zum Klimawandel, denn diese Frage ist wohl die existenziellere. Beim Klimawandel löst sich die natürliche Gleichheit auf, da menschliches Handeln zur Verschiebung natürlicher Grundlagen und Gegebenheiten führt. Unterschiedliche Lebensgrundlagen aufgrund der gegebenen natürlichen Verhältnisse können nicht mehr mit diesen begründet werden, wenn diese Verhältnisse aktiv und wissend in die Extreme getrieben werden. Das heißt, wenn der soziale Habitus des Menschen dazu beiträgt, Küstenregionen in Überschwemmungsareale zu verwandeln oder Trockengebiete zu Dürrezonen degenerieren zu lassen, kann kaum mehr von natürlich gegebenen Unterschieden gesprochen werden. Der Mensch ist es, der hier die grenzenlose Eskalation der natürlichen Ungleichheiten herbeiführt und die Natürlichkeit der differenten Lebensbedingungen aufhebt. Homo homini lupus. Willkommen im Naturzustand. Thomas Hobbes lässt grüßen.

Wer in Becks Ausführungen eine grundsätzliche Hoffnung des Soziologen auf eine lösungsorientierte Weltgesellschaft zu erkennen meint, sieht sich getäuscht. Natürlich hat Beck recht, wenn er sagt, dass in den globalen Herausforderungen des Klimawandels, der Naturzerstörung, der Weltfinanzkrise oder dem Terrorismus auch eine Chance läge, da Menschen beginnen müssten, global zu denken und zu handeln, ihr Leben im Austausch mit „den Anderen“ zu verstehen und zu führen. Wenn er sagt, dass Leben generell kosmopolitischer werden müsste. Müsste halt. Der Konjunktiv ist der Realität sein Tod! Warum sollte sich die Menschheit denn plötzlich kosmosozial verhalten? Auch Beck sieht hierfür keinen wirklichen Anlass, abgesehen von der menschlichen Erkenntnis. Nun ja, aber wer will der schon vertrauen. Eines sei aber klar, so der Münchner Soziologe: „Grenzübergreifende Lebens- und Überlebenslagen lassen sich nur in einer kosmopolitischen Perspektive … deutend verstehen und ursächlich erklären.“ Will Politik also Lösungen für die globalen Probleme finden, muss sie eine solche Perspektive einnehmen, sie muss dem „kosmopolitischen Imperativ“ der Postmoderne folgen.

Wenn sie dies nicht tut, dann tritt das ein, was kürzlich ein zweiter, nicht minder renommierter deutscher Soziologe formuliert hat: Es kommt zur Anwendung von Gewalt, um soziale Probleme zu lösen. Harald Welzer heißt dieser Kollege Becks und überschrieb seine These kurz und knapp mit „Klimakriege“. Die globalen Folgen des Klimawandels könnten zu einer Auflösung der Kulturen führen, mutmaßt er in seinem Bestseller. Was bleibt, wäre nur noch die „Unterschiedslosigkeit bloßen Überlebenswillens“, der pure Kampf um die Ressource Lebensraum. Es bleibt abzuwarten, ob es erst zu einer solchen Situation kommen muss oder ob sich kosmosoziales Verhalten als Erkenntnisgewinn bereits vorher durchsetzt.

 

Thomas Hummitzsch

 

Ulrich Beck: Die Neuvermessung der Ungleichheit unter den Menschen. Soziologische Aufklärung im 21. Jahrhundert. Eröffnungsvortrag zum 34. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie am 6. Oktober 2008 in Jena. Edition Suhrkamp. Frankfurt/Main 2008. 58 S., 7,00 €. ISBN: 3518069942