8. November 2008

Letztes Jahr in Venedig

 

 

 

Ein merkwürdiges Gespräch über einen noch merkwürdigeren Film

 

 

 

 

„Entschuldigung. Kennen wir uns nicht?“

„Ich denke nicht. Vielleicht …“

„Habe ich Sie nicht letztes Jahr hier gesehen?“

„Hier?“

„Oder war es in Cannes. Vielleicht auch Berlin. Ich bin mir nicht sicher.“

„Ich kann mich nicht an Sie erinnern.“

„Doch. Sie standen im Park. Ihre Hand lag auf der Brüstung. Wir sprachen über diesen Film.“

„Sie müssen mich verwechseln.“

„Es war im letzten Jahr. Dieser Film von Resnais gewann einen Preis. Ein seltsamer Film.“

„Meinen Sie LETZTES JAHR IN MARIENBAD?“

„Nein, es war in Venedig. Erinnern Sie sich nicht?“

„Ich meinte den Film LETZTES JAHR IN MARIENBAD.“

„Ja, ich glaube so hieß er.“

„Das kann nicht sein. Der Film gewann 1961. Jetzt schreiben wir das Jahr 2008.“

„Sind Sie sich da sicher?“

„Na hören Sie mal. Natürlich.“

„Aber ich sehe Sie vor mir, als wäre es gestern gewesen. Der Wind spielte mit Ihrem Haar. Sie standen im Park. Ihre Hand lag auf der Brüstung und Sie erzählten mir von Resnais. Von seinen Anmerkungen über einen Künstler, der vertikale und horizontale Linien auf ein Papier malt. Er malt diese Linien, damit aus diesen Linien schließlich ein Hochhaus erwachsen kann. Sie erzählten mir von der formalen Logik, die seinem Film zugrunde liegt, eine Logik, die vorherrschen muß, um schließlich untergehen zu können.“

„Ich kann mich nicht erinnern, jemals so etwas erzählt zu haben.“

„Doch. Ich kann mich an Ihr Gesicht erinnern. Es war im letzten Jahr. Vielleicht auch im vorletzten Jahr. Der Mond tauchte ihr Gesicht in Blässe, eine totenähnliche Blässe. Der Wind spielte mit Ihrem Haar. Sie standen im Park. Ihre Hand lag auf der Brüstung. Sie erzählten mir von Resnais und diesem Autoren. Ich glaube er hieß Alain Robbe-Grillet. Wir sprachen über den Inhalt des Films. Sprachen so gut es ging darüber. Die Geschichte, die keine Geschichte ist, sondern erzählend erst eine wird, spielt in einem Schloss, einem prunkvollen Anwesen. Da ist dieser Mann, der sich zu erinnern meint, im letzten Jahr eine Frau dort kennen und lieben gelernt zu haben. Nun trifft er sie wieder. Damals hatte sie ihm versprochen, nach einem Jahr bei ihm zu bleiben. Die Frau widerspricht. Sie kann sich nicht erinnern. Der Mann erzählt vom letzten Jahr. Er gibt nicht auf. Lässt das letzte Jahr immer wieder neu erstehen. Am Ende geht sie mit ihm fort. Sie glaubt an ihn“

„Eine sehr konventionelle Geschichte. Immer diese Dreiecksbeziehungen.“

„Machen Sie sich nicht lustig über mich.“

„Aber das mache ich doch nicht.“

„Damals machten Sie sich nicht lustig. Sie sprachen viel über den Film. Ich kann mich an Ihr Gesicht erinnern. Es war im letzten Jahr. Vielleicht auch im vorletzten Jahr. Der Mond tauchte ihr Gesicht in Blässe, eine totenähnliche Blässe. Der Wind spielte mit Ihrem Haar. Sie standen im Park. Ihre Hand lag auf der Brüstung. Sie schienen von dem Film entzückt. Sie erzählten von den Produzenten, die nach de ersten Sichtung des Materials den Film aufgaben. Sie sprachen davon, dass Resnais und Robbe-Grillet nicht aufgaben. Sie organisierten Privatvorführungen. Berühmte Persönlichkeiten kamen zu den Vorführungen. Andre Breton bekam den Film zu sehen. Sie hatten ihm den Film ursprünglich widmen wollen. Aber er gefiel Breton nicht. Und dann bekam er diesen Preis in Venedig.“

„Ja, daran kann ich mich erinnern. Ich glaube, ich habe davon gelesen.“

„Nein. Sie haben nicht darüber gelesen. Sie waren dort. Sie waren hier.“

„Ich war nicht dort.“

„Doch, Sie waren dort. Ich sah sie zuerst im Hotel, sie schlichen durch die Flure wie ein Dieb in der Nacht durch ein fremdes Haus schleicht. Unendliche Gänge gab es dort. Fluchten. Und wieder Fluchten. Stuck an den Wänden. Später sah ich Sie im Park. Die Sonne schien in Ihr Gesicht. Sie waren geblendet. Vielleicht hatten Sie auch Probleme mit dem Kreislauf. Sie taumelten, griffen mit der Hand nach der Brüstung. Ich eilte zu Ihnen, sprach Sie an. Wir unterhielten uns. Wir sprachen über den Film. Sie redeten so begeistert darüber. Sagten, der Film sei eine formale Meditation, die keine rationalen Erklärungen dulden würde. Ich widersprach. Sie lachten auf. Gerade Widerspruch sei es, nach dem er verlangt, hielt ich Ihnen entgegen. Alle Deutungen sind erwünscht. Ein perfektes Kunstwerk, da es den Betrachter zum Weiterträumen einlädt. So müsste auch die Kritik funktionieren, alles Handeln. Sie haben mich damals seltsam berührt angesehen und haben dann nur ein „vielleicht“ geflüstert, ein vages und unsicheres „vielleicht“. Aber es stand im Raum und wirkte fort.“

„Je länger wir darüber reden, umso sicherer werde ich mir, diesen Film überhaupt nicht zu kennen.“

„Sie kennen ihn. Und Sie kennen mich. Sie waren dort, klatschten ergeben und eifrig. Die Hände schmerzten Ihnen. Sie kühlten Sie in diesem Teich dort. Den Teich gibt es noch immer. Dort drüben ist er. Sehen Sie nur. Anschließend gingen Sie zu der Brüstung, die Hände hielten Sie eng am Körper. Wir sprachen über den Film und sie lachten und weihten mich in Ihre Begeisterung ein. Nein. Sie mussten mich nicht einweihen. Ihr ganzer Körper sprach von dieser Begeisterung. Sie erzählten mir von Ihrem Mann. Einem Spieler. Er sei drüben im Hotel. Sie fassten meine Hände und erzählten mir von diesem Film, der einen Preis gewonnen habe. Wir blickten nach den Statuen im Park. Dort prunkte ein Löwe. Ein goldener Löwe. Die Statik dieser Figuren erinnerte uns an die Filmfiguren, allesamt Tote. Aber die Liebe, sagten sie damals zu mir, die Liebe erlöst unsere Helden. Die Liebe und die Poesie. Das sehen sie so, sagte ich. Wir könnten uns auch der Theorie eines Schriftstellers anschließen, der im Mann, der die Liebe beschwört, einen Schauspieler sieht, der gegen die Statik des Films ankämpft, um schließlich die Szenen zu verändern. Auch das wäre eine Möglichkeit, flöteten sie.“

„Was ich alles gesagt haben soll. Sie irren sich gewaltig. Mein Mann ist kein Spieler. Er ist Politiker. Er sitzt drüben im Hotel und verhandelt mit dem Außenminister irgendeines Landes. Ach, was schert mich die Politik. – Aber Sie irren sich. Das müssen Sie endlich begreifen.“

„Kommen Sie mit mir. Kommen Sie mit mir in die Stadt. Ich kenne ein Kino, dort läuft unser Film. Wir sollten ihn ansehen. Dann werden Sie sich auch wieder erinnern. Glauben Sie mir. Ich sehe es schon jetzt vor mir. Sie sitzen in ihrem Sessel, den Blick starr zur Leinwand, während Ihre Hand nach der meinen tastet.“

„Jetzt reicht es mir aber wirklich. Eine wahrhaft tolldreister Flirt.“

„Sie hatten mir im letzten Jahr versprochen, wieder hier her zu kommen. Jetzt sind Sie hier. Wir waren doch längst in diesem Kino. Erkennen Sie mich denn nicht?“

„Wenn Sie nicht aufhören, werde ich Hilfe rufen.“

„Aber was soll das denn?“

„Hallo, Sie dort drüben. Dieser Mann belästigt mich.“

„Schweigen Sie doch!“

„HILFE!!!!!!“

„Sie brauchen nicht so laut zu werden. Dann gehe ich eben alleine.“

 

Guido Rohm

 

 

Originaltitel: L´ année dernière à Marienbad

Regie: Alain Resnais

Drehbuch: Alain Robbe-Grillet

Kamera: Sacha Vierny

Darsteller: Delphine Seyrig, Giorgio Albertazzi, Sacha Pitoeff

Label: Arthaus

Genre: Drama/Romance

Produktionsjahr: 1961

Produktionsland: Frankreich/Italien

FSK 16

Lauflänge: ca. 90 Minuten

 

Technische Angaben

 

DVD Bild: 2,35:1 (anamorph)

DVD Sprachen/Ton: Deutsch, Französisch (Mono Dolby Digital)

DVD Untertitel: Deutsch

 

DVD-Extras

 

Booklet mit exklusiven Texten zum Film, „Im Labyrinth von Marienbad“, alle Filme der Arthaus Collection im Überblick