8. November 2008

Der Ekel vor den eigenen Bedürfnissen

 

Blick in deutsche Zeitschriften

 

"Kultur & Gespenster" erkundet postmoderne Triebstauungen

 

Den Verächtern der visuellen Kultur wird momentan das Leben schwer gemacht. Denn auch von akademischer Seite springt man ihr längst bei. Am verblüffendsten vielleicht der Aachener Philologe Ludwig Jäger im Zürcher Jahrbuch für Wissensgeschichte „Nach Feierabend“. Unter Rückgriff auf evolutionsbiologische und neurowissenschaftliche Erkenntnisse rollt er die Frage nach Herkunft und Natur der Sprache auf. Allgemein anerkannt ist längst die These, dass die Aufrichtung des Gangs ein entscheidender Moment für die Entwicklung der menschlichen Spezies war.

Überraschender ist die Einsicht, dass das Freiwerden der Hand nicht nur die technische Entfaltung des Menschen möglich machte, sondern auch die Entwicklung einer vielschichtigen Gebärdensprache. Erst nach vermutlich vielen hunderttausend Jahren „fand dann offenbar mit der Auslagerung der Sprache aus dem gestisch-visuellen in das vokal-auditive System eine zweite Befreiung der Hand statt: Sprachliche Instruktion und technisches Handeln konnten nun in ein neues komplexes Verhältnis treten, das offensichtlich zu einem revolutionären kulturellen Schub führte.“

 

Wort gegen Bild, ein hegelianisches Erbe

 

Für die Gestensprache, zu der man Ansätze schon bei Primaten findet, macht Jäger die Spiegelneuronen verantwortlich, jene Hirnzellen, die nicht nur bei Tätigkeiten ihres Besitzers aktiv werden, sondern auch, wenn er Handlungen seiner Artgenossen beobachtet. Hier liegen die Wurzeln für eine „gemeinsame Kodierung von Rezeption und Aktion“ und damit für eine symbolische Darstellung von Handlungszusammenhängen.

 

Genau dieses Vermögen zur Nachahmung führte zur Gebärdensprache, die als Inszenierung im Ausdrucksbereich der Hand nicht weniger begrifflich und abstrakt war, als die heutige Wortsprache seit jeher an impliziten Bildern reich ist. Jäger erinnert daran, dass das medienkritische Ressentiment gegenüber der „Aufdringlichkeit des Piktoralen“ auf Hegel und den deutschen Idealismus zurückgeht, der das Wort im Namen der befreienden Abstraktion gegen das Bild in Stellung brachte.

 

Mitfühlen aus der Distanz des Theaters

 

Auf ganz anderem Wege kommt der Bonner Germanist Helmut J. Schneider zu einem vergleichbaren Ergebnis. In der „Deutschen Vierteljahrschrift“ widmet er sich dem Neuentwurf von Öffentlichkeit, der in der Guckkastenbühne des achtzehnten Jahrhunderts zum Ausdruck kam. Anders als im höfischen Theater, wo die Grenzen zwischen Zuschauern und Spielern verflossen, löscht man nun das Licht und macht das Publikum zu stummen Voyeuren von Darstellern, die wiederum so tun, als gäbe es eine vierte Wand zum Publikum. Die vor allem von Lessing und Diderot dazu entwickelte Theorie sieht vor, dass das Auditorium von den aufgeführten Dramen gerührt, ja in ein synchrones Beben der Sympathie mit den Leiden der Figuren versetzt werde.

 

"Nach Feierabend" bringt Wort und Bild gegeneinander in Stellung

 

Die körperliche Ferne bei gleichzeitiger emotionaler Nähe zu den Charakteren sollte das menschliche Geschick geistig erfahrbar machen und die Gesellschaft als Ganze in einem allgemeinen moralischen Gefühl verbünden. Was im wirklichen Leben an Leidenschaften grell, egoistisch und anstößig erscheinen mochte, wurde im Theater auf annehmbare Weise temperiert und – man möchte sagen: durch die Aktivität der Spiegelneuronen – als symbolischer Wert des menschlichen Daseins konsumierbar gemacht. Bei der Uraufführung von Lessings „Miss Sara Sampson“ soll das Publikum dreieinhalb Stunden leise vor sich hin geweint haben: vereint im Gefühl der geteilten Humanität.

 

Die geopferte Fleischeslust

 

Im Guckkastentheater erkennt Schneider den Archetypus für „die abstrakten Kollektive der Moderne“, für Solidaritäten, die sich von persönlicher Bekanntschaft emanzipieren. Er weist darauf hin, dass den heute selbstverständlichen Meinungs- und Sympathiekartellen ein abstrahierender Schnitt und eine kategoriale Trennung zwischen Fühlendem und dem, mit dem er sympathisiert, vorausging. Im Rückgriff auf Jochen Schulte-Sasse spricht Schneider sogar von der „Opferstruktur der Moderne“.

 

Die "Vierteljahreschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte" schaut in den Guckkasten

 

Was geopfert wird, um sich eins mit dem Rest der Welt fühlen zu können, ist das „fleischliche Begehren“. Vom Zuschauer der Sara Sampson, der heulend im Dunkeln sitzt, führt ein direkter Weg zu der Empathie des einsamen PC-Benutzers. Was er für ihm elektronisch zugestellte Wirklichkeit halten mag, ist ein seit Jahrhunderten präformiertes symbolisches Ereignis, das seinen Trieb zur unmittelbaren Kontaktaufnahme diszipliniert.

 

Der Ekel des postmodernen Individuums vor der Lust

 

Auch der Linzer Kulturwissenschaftler Robert Pfaller („Kultur & Gespenster“) traut den sinnlichen Verheißungen der Gegenwart nicht. Als Grund des Übels sieht er die „endlose Affäre, die postmoderne Individuen mit sich selbst unterhalten“, verurteilt dazu, „ihre ganz persönliche Identität“ ständig neu zu „sampeln“. Bei den Vorlieben, Eigenarten und Leidenschaften, zu denen sie sich bekennen, gehen sie immer schon davon aus, dass der nächste sie nicht teilt. So kommen sie nicht länger in den Genuss jener kollektiven Dimension, die einst Aberglaube und kulturelle Riten garantierten.

Im Gegensatz zu den erzindividualistischen Möchtegernhedonisten von heute ist Pfaller aber der Ansicht, dass nur eine verbindliche Kultur den Einzelnen zur periodischen Überschreitung seiner Genusshemmung bewegen kann. Es ist noch nicht lange her, da verlangte der öffentliche Raum geradezu, dass man beim Eintritt in ihn aus sich herausging. Zum Rauchen spazierte man ins Café, zum Trinken in die Bar, zum Singen in die Kirche, und wer zum Tanzen zog, hatte gefälligst ein Mädchen aufzufordern. Heute beherrscht die Öffentlichkeit der Ekel vor diesen Bedürfnissen, und sie werden hinter die vierte Wand der heimischen Stube verbannt.

Doch weil auch der Einzelne sich ohne kulturelle Stütze vor seinen Bedürfnissen zu ekeln beginnt, leben wir in einer „extrem lustfeindlichen, asketischen Kultur“, die „Scharen von Spielverderbern und Nasenbohrern auf allen Ebenen erzeugt“. Nur rituelle Entgrenzungsfeste und -zonen, über die frühere Kulturen verfügten, haben es dem Einzelnen erlaubt und ihn geradezu dazu gezwungen, seine persönliche Hemmschwelle zu überwinden. „Sublimation“ nennt Pfaller diese kollektive Lust pikanterweise.

 

FAZ, Ingeborg Harms, 07. November 2008

 

Kultur & Gespenster Nr. 7: Autofiktion