26. Oktober 2003

Kalifornien-Irland 1:0

 

Es gibt ein paar schöne Stellen zu lesen über die Schlange, ihre himmlische Herkunft, ihr Fall als Luzifer, ihr Verfangensein im Baum, ihre Verführung. Und dass das nicht nur eine Person erzählt, sondern die Erzählungen ineinander greifen, die von Eleasar und dem Indianer Eherne Schlange mit der Parabel der kleinen Cora als Finale, so als ob sie auf eine gemeinsame Erfahrung zurückgreifen könnten und als ob sie sich nicht zum ersten Mal in der amerikanischen Wüste getroffen hätten. „Aber das, wodurch die Schlange tötet, ist stets eine Geste der Liebe.“ Nämlich Kuss oder Umarmung. Ein und dieselbe Sache ist immer beides, Gefahr und Rettung, angefangen bei Gott, dann Abraham gegenüber Isaak, die Schlange, der Indianer als Schlange, der Bandit José, der überläuft, nicht zuletzt verführt durch den Hund, der eben nicht nur ein Maul mehr zu stopfen bedeutet. Als ob bei allem, würde man nur entsprechend lange innehalten, die richtige Seite zum Vorschein kommen würde. Alles hat seine Zeit, und alles, was man tun kann, ist darauf zu warten.

Diese Passagen der einmütigen Weisheit, des Zusammenkommens des Unbekannten, sind ganz schön, aber am Ende fragt man sich doch, was so ein Buch heute anstellen soll. Diese Parallellektüre zur Bibel, die der Erzähler ja selbst thematisiert und auch ein wenig lächerlich macht, ohne doch auch ihre ergreifende und nachvollziehbare Seite aufzudecken. Irland, das von Wasser umgebene Land, das Land ohne Feuer, die ewig so dahingehenden Tage mit der Schafherde, die feindliche Umgebung gegenüber Katholiken, der kleine Protestant, der früh schon eine einschneidende Erfahrung mit dem Schäfer macht, das Kennenlernen der Schwestern, die Heirat, der Mord, die ersten Anzeichen einer Lektüre und eines großen Vorbildes, Moses, die Einladungen, diese Lektüre zu bestätigen, nämlich den Mord und die zu erwartende Hungersnot, schließlich dieser geheimnisvolle und alles versprechende Name, Kalifornien, wo es dann kein Zurück mehr gibt, der Aufbruch, die Überfahrt, die beschwerliche Reise und all das.

Tournier deckt all das vielleicht einfach nur ganz bewusst auf, was sonst beim Lesen und Schreiben im Hinterstübchen ruht und lockt und sich ebenfalls bemerkbar macht und ankommt, ohne dass man es merken muss. Und in diesem kleinen Buch ist ja wirklich fast alles versammelt, was schon ganz früh menschheitsbildend war, die Annahme des Schicksals (eine Situation, von der heute nicht mehr die Rede ist, weil es ja anscheinend in die Hand jedes einzelnen fällt, die Selbstbestimmung, die Verantwortung, bei gleichzeitigem Bedacht darauf, dass die soziale Absicherung stimmt, die einen Grad von Selbstverständlichkeit erreicht hat, von der frühere Zeiten nur träumen konnten), die einschneidende Erfahrung, die im Grunde alles organisiert, also die gewollte oder ungewollte Versammlung der Gedanken und Handlungen um ein Zentrum, dem man nicht mehr ausweichen kann, schließlich die Erfahrung einer wirklichen Vision, von der sich heutige Menschen keine Vorstellung machen können, weil sich die heutige Vision nur noch darum dreht, ob der Kugelschreiber rot oder blau aussehen soll. Ein Leben also der totalen Abstoßung und der totalen Attraktion, ein bisschen so vielleicht, wie sich das Artaud geträumt hat, nur ohne das Ruppige und rankünehafte. In diesem Sinn ist Eleasar ein Erbauungsbuch, das erst anfängt zu wirken, wenn man das Buch zugeklappt hat und nur noch die Essenz zwischen den Buchdeckeln bleibt.

 

Dieter Wenk

 

Michel Tournier, Eleasar oder Quelle und Dornbusch. Roman, Hamburg 1998 (Hoffmann und Campe)