26. Oktober 2003

Mrs. Verloc und die Auslassung

 

Manchmal, denkt man sich vielleicht, müsste man Geheimagent sein. Romantische Sechzehnstundentage, Essen in schmierigen Lokalen, ständiges Im-Stau-Stecken auf der Autobahn oder erholsames Reisen in überfüllten Bahnwagons, Telefonrechnungen, die über das vereinbarte Limit gehen. Natürlich sieht die Wirklichkeit des Agenten ganz anders aus. Er hat eine liebe, ihn respektierende Familie, zum Beispiel bestehend aus einer ganz hübschen Frau, deren etwas zurückgebliebenem Bruder und ihrer Schwiegermutter. Er übt einen ganz normalen Beruf aus, gleich unter seiner Wohnung hat er einen Laden, wo er nicht ganz jugendfreie Photos und Bücher verkauft. Davon kann er natürlich nicht leben, aber dem Schein ist Genüge getan, vielleicht auch der eigenen Familie gegenüber. Seine äußere Erscheinung lässt nicht auf seine konspirative Tätigkeit schließen. Das fällt irgendwann auch seinem Auftraggeber auf, der sich wundert, dass der Mann doch eher beleibt ist. So hatte er sich einen aufzehrenden Beruf nicht vorgestellt, insbesondere bei einem, der in einschlägigen Kreisen als Anarchist bekannt ist. Aber so ist das nun mal, auch diese Leuten essen ganz gerne und lassen sich durchaus verwöhnen, was Bekanntschaften mit eigentlich reaktionär zu nennenden Personen einschließt. Kurz gesagt, auch Agenten mag es nicht erspart bleiben, dass ihnen der Vorwurf der Faulheit gemacht wird.

In der Botschaft ist man unzufrieden mit den Tätigkeiten Mr. Verlocs, des Geheimagenten (Bob Hoskins). Auf einer diplomatischen Ebene, die sicherlich nicht die letzte ist, aber das interessiert weder im Buch noch im Film, möchte man etwas mehr Unruhe in der englischen Gesellschaft um 1880, auf dass die Gesetze straffer werden, auf dass die Unzufriedenheit in der Bevölkerung wächst, auf dass … irgendwann ist man dann bei der Revolution. Mr. Verloc ist also wirklich ein wichtiger Mensch. Aber er nimmt seinen Job nicht richtig Ernst. Sicher, er nimmt es sich zu Herzen, kauft Sprengstoff beim völlig verrückten nietzscheanisch verdorbenen Professor (Robin Williams) und nimmt dankbar den Hinweis mit der heiligen Kuh der Gesellschaft, der Wissenschaft, auf, und macht sich auf, um auf die astronomische Anlage in Greenwich einen Anschlag zu verüben. Aber er ist ein furchtbarer Angsthase und legt die Bombe nicht selbst, sondern schickt den schwachsinnigen Bruder seiner Frau (Patricia Arquette) ins Rennen. Der ahnungslose Junge stolpert und bringt die Bombe zu früh zum Zünden, wobei er sich selbst in die Luft jagt. Die Polizei ist ihm schnell auf den Fersen, seine Frau erfährt das Unglück in mehreren Etappen und ist untröstlich.

Das ist in Joseph Conrads Roman grandios beschrieben, wie überhaupt im Roman alles Wichtige zwischen den Dialogen passiert. Das kann man in der Ausführlichkeit natürlich nicht filmen, aber auch nicht in die Dialoge pressen. Diese Romanwirklichkeit ist dem Film schlicht unzugänglich, logischerweise. Ganz einfach, weil sie Literatur ist, unerhörte Analyse eines Autors, der mehr wissen will, als ein späteres Medium auch nur ahnen lässt. Ein netter Film, ein wichtiges Buch.

 

Dieter Wenk

 

Christopher Hampton, Der Geheimagent, USA 1996