31. Oktober 2008

Literaturen

 

Je tiefer man in die Zeit zurückgeht, desto mehr wird man selber zum imaginären Migranten. Nicht nur, dass man zeitweilig selbst die Sprache nicht (mehr) versteht – das Lateinische der Humanisten –, auch der Rahmen ist anfangs oder in den Anfängen so erlesen, dass man nicht einfach mit Lesen loslegen kann. Das gilt vor allem auch für die Leute von damals, zum Beispiel um 1200, die möglicherweise Aristokraten waren, aber zugleich Analphabeten. Die einen hörten zu (lasen also nicht, es gab ja auch noch keine Bücher wie heute), die anderen („wir“) können zwar lesen, haben aber gleich mehrere Barrieren zu überwinden, das Mittelhochdeutsch, die Begrifflichkeit, die Wertigkeit. Einen „Parzifal“ etwa zu verstehen ist also an hohe Auflagen geknüpft.

 

Literaturgeschichten weisen zum einen genau auf solche Hürden hin und versuchen zum anderen zugleich ein wenig eben diese Hürden zu nehmen. Dass das nur ansatzweise gelingen kann, sollte klar sein. Wichtiger ist, dass Literaturgeschichten spannender, interessanter und kurzweiliger sein können als so mancher Roman. Metzlers „Deutsche Literaturgeschichte“ fällt mit ca. 750 Seiten eher kurz aus. An Musils „Mann ohne Eigenschaften“ wird man vermutlich länger „arbeiten“ (was sich unbedingt lohnt). Die von verschiedenen namhaften Literaturwissenschaftlern (Wolfgang Beutin, Wolfgang Emmerich, Volker Meid, Inge Stephan und andere) verfasste Geschichte bietet eine Tour de force einer etwa tausendjährigen Zeitspanne, die in ihrer Disparatheit zeigt, dass heute gern als selbstverständlich zu Grunde gelegte Erwartungen alles andere als Kulturkreis- oder Zeitepochen-übergreifend zu verstehen sind. Es gibt keine folgerichtige Entwicklungslinie hin zur ja auch nur „Weimarer“ Klassik, schon in der Zeit um 1800 muss man im Grunde von zwei Literaturen sprechen (Schiller beispielsweise versus Kotzebue und Iffland), wobei die eine, die namhaftere, vor allem mit ihren Autorennamen durchschlägt (also Goethe, Schiller, Lessing…), ohne vom Literaturhimmel zum alltäglichen Boden diffundieren zu können.

 

Gerade weil diese Literaturgeschichte so knapp ist, lassen sich gut und klar ein paar wichtige Dinge herauskristallisieren: zum Beispiel Luthers Initiative, die Bibel dem Volk zugänglich zu machen (ihre Lektüre war seit dem Hochmittelalter dem Laien verboten!), die Tatsache, dass der „freie Schriftsteller“ eine moderne Erfindung ist, dass Literatur gerade in der Frühzeit eine Angelegenheit von sehr wenigen war: für sehr wenige (was zeitweise dazu führte, dass Produzenten identisch waren mit Rezipienten), dass Literatur nicht direkt von einem Zeitalter zum anderen führt, es also auch Brüche gibt, die vor allem soziologisch zu erklären sind und nicht allein innerliterarisch, ferner dass die Natur nicht immer schon diejenige war, die es nachzuahmen galt, sondern phasenweise vor allem vorgegebene Muster (in beider Hinsicht), nicht zuletzt dass es nicht immer schon Romane gab in unserem heutigen Verständnis. Die Lektüre einer solchen Geschichte macht es doch erheblich schwer, ein „deutsches Wesen“ herauszufiltern, an dem dann auch noch die „Welt“ „genesen“ soll, wie das einst Fichte und Gleim forderten. Es erstaunt, wie zu manchen Zeiten überhaupt Literatur zustande kam (etwa aufgrund von massiver Zensur im Vormärz), und man lernt als Leser, doch sehr vorsichtig mit einem einsinnigen Literaturkonzept zu hantieren.

 

Man hat es dann eben auch mit einem Stück Rollenprosa zu tun, wenn hier und da im Eifer des Gefechts um das rechte Literaturverständnis von der „ursprünglichen Intention“ (qua Aufklärung) der Literaturfunktion gesprochen wird. Literatur ist keine Haube, die eine Gesellschaft sich selbst aufsetzt. Der so genannte Überbau sitzt häufig doch ziemlich daneben. Literatur ist eben nicht die Welt oder die Gesellschaft in nuce. Das sei auch zur Entlastung von Literatur gesagt. „Außengelenkte Ästhetiken“ muten Literatur viel zu viel zu. Eher nebenher wird mit dem Mythos „Leseland DDR“ aufgeräumt, Literatur kann keine Parallelaktion des Staates sein. Fast auf jeder Seite dieser Literaturgeschichte sind gleich mehrere Schwarzweiß-Abbildungen (Stiche, Fotos, Illustrationen) zu sehen, die die Lektüre auflockern und beleben, Stichworte am Rand der Seite laden zum Blättern und Schmökern ein. Gerade bei der zeitgenössischen Literatur merkt man freilich auch, wie wenig Stoff eine solche Siebenmeilenstiefel-Literaturgeschichte zur Verfügung stellen kann: Lesen muss man die Bücher dann schon selber, aber immerhin können hier schon Einladungen und Empfehlungen ausgesprochen werden.

 

Nur ganz wenige Stellen dieser Geschichte sind schlicht absurd, so Klaus Ehlerts Vorwurf an Fontane bezüglich „Effi Briest“ (1895), wo es heißt: „Solidarität mit real lebenden und leidenden Frauen ist in Fontanes Roman nicht erkennbar – und sein Beispiel kann für die gesamte Epoche des literarischen Realismus gelten.“ Hier wird nicht im Namen eines bestimmten Literaturverständnisses gesprochen, dieser Satz ist einfach Unfug. Gerade der Anfang dieser Literaturgeschichte dürfte für Laien nicht sehr ertragreich sein, da er viel Wissen voraussetzt und doch sehr knapp ausfällt, aber insgesamt ist die Lektüre sehr aufschlussreich über das, was unter Literatur verstanden werden kann.

 

Dieter Wenk (10-08)

 

Wolfgang Beutin (et al.), Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 7., erweiterte Auflage 2008 (Metzler)

 

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