Berlin-Comic als Pflichtlektüre
Endlich ist es so weit. Fünf Jahre mussten die Comicfans darauf warten, bis Jason Lutes Berlin-Trilogie nun mit „Berlin. Bleierne Stadt“ ihre Fortsetzung erhält. Wie schon im ersten Band entwirft Lutes ein vielschichtiges Panorama auf die Stadt in einer Zeit radikaler Umbrüche. Beleuchteten die ersten acht Abschnitte dieses auf 24 Kapitel angelegten epochalen Werks den Anfang, die Krise und den beginnenden Niedergang der Weimarer Republik aus den verschiedenen Perspektiven des Lutes’schen Personenkarussells, stehen in den Kapiteln neun bis sechzehn, versammelt in dem nun vorliegenden Band, der Niedergang der Weimarer Republik im Mittelpunkt des Geschehens. Nach den Steinen der Arbeiter schwängert nun zunehmend der Gewehrrauch der Milizen die Berliner Luft. Die Hauptstadt der Weimarer Republik wird in Lutes Band zu jener „unwirklichen Stadt“, als die T.S. Eliot in seinem Jahrhundertgedicht „The Waste Land“ das London im Jahr 1921 beschreibt.
Die Erzählung nimmt dabei ihren Ausgang im Berliner Blutmai 1929 und verfolgt das Schicksal der ersten deutschen Republik bis zu dem erdrutschartigen Wahlerfolg der Nationalsozialisten im September 1930. Der Tod Gustav Stresemanns, der Weltbühne-Prozess gegen den Herausgeber des Berliner Wochenblatts Carl von Ossietzky, das Ende der großen Koalition unter Hermann Müller, das Einsetzen der Regierung Brüning und der Tod Horst Wessels bilden den historischen Kontext, vor dem Lutes den inneren Kampf der gesammelten Linken und die gleichzeitige Eroberung der deutschen Köpfe durch die Nationalsozialisten veranschaulicht. Im Zentrum der Handlung stehen wieder die beiden aus der „Steinernen Stadt“ bekannten Hauptfiguren, der Journalist Kurt Severing und die Künstlerin Marthe Müller. Während Severin als „verzweifelter Pazifist“ (Severin über Severin) versucht, die Deutschen mit seinen Beiträgen vor dem gesellschaftlichen Niedergang im Nationalsozialismus zu warnen und zu bewahren, verliert sich Marthe Müller in den Verlockungen der Berliner Bar- und Kabarett-Szene und vergisst dabei ganz, welch gesellschaftliche Tragödie sich um sie herum anbahnt. Geschickt greift Lutes in seinem Fortsetzungsband die verschiedenen Schicksale aus dem ersten Band seiner Trilogie auf und entwickelt sie weiter, während er fast beiläufig noch weitere Personen und Geschichten in das von ihm geordnete gesellschaftliche Chaos der Großstadt Berlin einfügt. In „Berlin. Bleierne Stadt“ gleiten sie alle dahin, diese verteufelten Figuren aus Eliots Poem, „unter dem braunen Nebel eines Wintermorgens“, wie es darin heißt. Unter den Bradford-Millionären der High Society kommt die kulturierte (kaum kultivierte) Schicht des Snobs, dann die kleinen Angestellten und schließlich die Niederen, auf die die Knute der Zeit herniederfährt. Das ganze Sosostris’sche Kabinett ist in Lutes genialem Comic versammelt und betreibt, bekämpft oder befeiert den Niedergang der Demokratie.
Lutes ist ein wirklicher Künstler unter den Schaffenden in der Comic-Branche. Ihm gelingt es auf außergewöhnliche Art und Weise, seine verschiedenen Leidenschaften, Talente und Passionen symbiotisch so zu verbinden, dass sich deren Einzelwirkung im Zusammenspiel potenziert. Jason Lutes macht Comics auf hohem Niveau – künstlerisch, literarisch und sachkundig. Welche Ambitionen er dabei hegt, beweist allein die Tatsache, dass er an den acht neuen Berlin-Kapiteln ganz vier Jahre gearbeitet hat, zwei Kapitel pro Jahr. In dieser zeit publizieren andere mehrere Alben – die sind dann aber auch nicht von einer solchen Qualität.
Begonnen hat Jason Lutes seine Karriere als Comicautor mit dem Band „Narren“, das anlässlich des Luthusiasmus nun neu aufgelegt wurde. Nach seinem Designstudium entwarf er für das Stadtmagazin der amerikanischen Autometropole Seattle „The Stranger“ die melancholische Geschichte des gescheiterten Magiers Ernie Weiss, der nur noch einem Traum nachhängt, dessen Erfüllung sein Leben schon lange nicht mehr ist. Sein Leben hält ihn und er sein Leben zum „Narren“. In schlichten, schwermütigen Bildern erzählt Lutes in seinem Comicdebüt von Ernies verzweifelten Versuchen, sein Dasein wieder in den Griff zu bekommen. Die Vorlage für den gescheiterten Magier Ernie Weiss boten die Geschichten um den mythenumrankten Entfesselungskünstler Harry Houdini, dessen bürgerlicher Name Ehrich Weiss die Verbindung der beiden Charaktere mehr als deutlich macht. Dass Lutes der Menschenverzauberer Houdini nie losgelassen hat, beweist der erst im Juni erschienene Comic „Houdini“ (Carlsen-Verlag 2008), den er in Kooperation mit dem herausragenden Zeichner Nick Bertozzi gestaltet hat. Darin macht Lutes den dreisten Versuch, hinter die Tricks und Kulissen des „Königs der Handschellen“ zu schauen. Zugleich wird darin die Faszination deutlich, die das scheinbar Unmögliche in einer Zeit des technischen Fortschritts bei den Massen auslösen konnte.
Verzauberung, Verführung, Magie – dies sind die großen Themen, denen sich der junge Amerikaner schreibzeichnend annähert und die sich durch sein gesamtes künstlerisches Werk ziehen. Nicht umsonst hat er für seine Berlinhistorie die Zeitenwende der nationalsozia-listischen Verführungspolitik gewählt, der ein ganzes Volk auferlegen ist. In faszinierend-geduldigen Sequenzen lässt er darin den Leserbetrachter in die Seelen und Gedanken seiner Protagonisten schauen. Über den Umweg der individuellen Geschichten macht er die innere Zerrissenheit der untergehenden Weimarer Republik deutlich, ohne politisch-historischen Symbolen übermäßig viel Raum geben zu müssen. So taucht in beiden Bänden nicht ein Hakenkreuzsymbol auf, obwohl man meint, an jeder gezeichneten Hauswand eins gesehen zu haben. Die Weimarer Verhältnisse sprechen für sich und Lutes gibt ihnen die Möglichkeit dazu. Und damit schafft der Amerikaner mehr, als die meisten Geschichtswälzer über die erste deutsche Republik. Dieser Comic schafft neue Gier nach deutscher Gesellschafts-geschichte und gehört damit zweifelsfrei in das Curriculum eines modernen Geschichtsunterrichts.
Dabei vollzieht sich in seinen Comics auf besondere Weise der aktive Prozess des Comiclesens. Die „Erzählung im Panelgraben“ (Scott McCloud) entfaltet sich in Lutes’ Comics in Perfektion. Und darin liegt sein Geheimnis, denn das Wesen des Comics liegt zwischen den Einzelbildern, wo der Leser ausreichend Freiraum zur persönlichen Imagination und Suggestion erhält. Lutes beherrscht diese Kunst, der Freiheit zur persönlichen Entfaltung genügend Freiräume zu schaffen, wie kaum ein anderer. Insbesondere in seinen stummen Sequenzen zeigt sich, wie seine Zeichnungen und ihre rhythmische Anordnung ihre ganz eigene Geschichte erzählen. Allein die Werke Will Eisners kommen hier in den Sinn, die kompositorisch mit Lutes’ Comics mithalten können. Darüber hinaus gibt sich der Amerikaner keinen überflüssigen Experimenten hin, für die das Genre seiner Kunst so verschrien ist. Lutes vertraut den klassischen Elementen des Comics, so dass sich selbst dem ungeübten Comicleser die Bedeutung der verwendeten verbalen Markierungen und grafischen Zeichen ohne größere Probleme erschließt. Sein klarer, realistischer Zeichenstil unterstützt den schnellen Zugang zur erdachten Wirklichkeit zusätzlich.
Der Redakteur des Berliner Stadtmagazins Zitty, Lutz Göllner, hat die von Heinrich Anders übertragenen Texte an den Berliner Dialekt angepasst und ließ damit dem Comic eine einzigartige Authentizität zukommen. Ihm ist es grandios gelungen, die genialen Dialoge an die verschiedenen Milieus ihrer comicalen Sprecher anzupassen. Soziolektbildung, so das Fachwort, das sich hinter dieser grafisch-rhetorischen Kunst verbirgt.
Aber zurück zu Lutes: Am Ende des zweiten Bandes erfindet sich der Autor und Zeichner in seinem eigenen Werk noch einmal neu. Er lässt dort seinen Journalisten Kurt Severin stellvertretend für sich sprechen: „Die Buchstaben schwammen einzeln davon. Und ich sitze hier und tippe immer neue – gegen den Strom.“ So hält der Journalist Kurt Severin seinen Kampf gegen den Strom der heraufziehenden Unzeit fest, kurz bevor der Wahlerfolg der Nationalsozialisten den zweiten Band beendet. Und so kann weder Severin noch Lutes den Lauf der Geschichte aufhalten, dem sie beide mit ihrem Schaffen entgegenwirken wollen – dem Niedergang der Demokratie in der Weimarer Republik. Lutes Erzählstil ist derart engagiert, dass man meinen könnte, er wolle selbst Einfluss auf den längst vergangenen Lauf der Dinge nehmen.
Bleibt es, Kritik zu üben: Lutes’ Werk als solches bietet dafür keinen Anlass. Bedauerlich ist allein die verlegerische Strategie, „Berlin. Bleierne Stadt“ (wie schon den Vorgängerband und die weiteren Comics des Amerikaners) als so genannte grafische Novelle (graphic novel) in die Buchhandlungen zu bringen. Es handelt sich bei diesem Anglizimus lediglich um eine Marketingstrategie, die eine bestimmte Klientel an Lesern einfangen soll. Dies geht insbesondere bei einem Autor wie Lutes in doppelter Hinsicht nach hinten los: Zum einen greift nun eine andere Leserschaft wahrscheinlich gar nicht erst zu seinen Comics, abgeschreckt von dem neudeutschen Buchmarktanglizismus, dessen einziger Sinn und Zweck darin besteht, das Genre Comic aus seiner vermeintlichen Schmuddelecke zu holen. Dies haben aber insbesondere Lutes’ Comics gar nicht nötig und damit wären wir beim zweiten Punkt. Bisher hat sich noch immer Qualität – erst recht auf dem Comicmarkt – durchgesetzt. Schlechte oder überambitionierte Text-Bild-Geschichten werden schlicht nicht gekauft, auch und erst recht nicht von der angeblich ambitionierteren Leserschaft, die durch den Euphemismus „Grafische Novelle“ angelockt werden soll. Schade, dass ausgerechnet der renommierte Carlsen-Verlag, der im Comic-Bereich manch bahnbrechenden Weg gegangen ist, dieser Logik nicht vertraut, auf der doch bisher sein Erfolgsgeheimnis beruhte. Der werbestrategische Gesinnungswandel des Verlagshauses vollzieht sich nun ausgerechnet zulasten derjenigen Leserschicht, der ein hervorragend gezeichneter Grundkurs deutscher Geschichte nicht schaden könnte. Damit schiebt der Verlag sein selbst so gehegtes Hausmedium direkt wieder in die Ecke der angeblichen Irrelevanz.
Doch Jason Lutes Berlin-Comic ist alles andere als das. Es ist eine geradezu soziohistorische Studie eines Volkes am Abgrund, die attraktiver kaum sein könnte. Er betreibt mit diesem Werk Reklame für eine ambitionierte Gesellschaftskunde, die sich mit dem Zur-Kenntnis-Nehmen historischer Fakten nicht zufrieden gibt. In seinem Genre hat diese Erforschung der menschlichen Psyche in der Masse einzig Art Spiegelman in seinen legendären „Maus“-Comics vollzogen. Wie er sucht Lutes zu verstehen, welche Prozesse sich in einem Menschen vollziehen, die ihn zur Tat und/oder Untat antreiben. Die beiden epochalen Berlin-Bände machen deutlich, dass es an beidem keineswegs mangelte und es der sinnlosen Opfer bereits zu viele gab, bevor der nationalfaschistische Untergang überhaupt begann. „Das dacht ich nicht, dass derart viele schon verblichen wären“, wie Eliot angelehnt an Dantes „Inferno“ in seiner „Göttlichen Komödie“ schreibt. Mit seiner Berlin-Erzählung gelingt Jason Lutes das umfangreiche Porträt einer Stadt in Unruhe, dessen Fortsetzung man nur herbeisehnen kann.
Thomas Hummitzsch
Werke von Jason Lutes:
Jason Lutes: Berlin 02. Bleierne Stadt. Carlsen-Verlag. Hamburg 2008. 214 S. 14,00 €. ISBN: 3551766762. Cohen+Dobernigg Buchhandel
Jason Lutes: Berlin 01. Steinerne Stadt. Carlsen-Verlag. Hamburg 2003. 213 S. 14,00 €. ISBN: 3551766746.
Jason Lutes: Narren. Carlsen-Verlag. Hamburg 2007. 144 S. 14,00 €. ISBN: 3551737827.
Jason Lutes (Autor) & Nick Bertozzi (Zeichner): Houdini. König der Handschellen. Carlsen-Verlag. Hamburg 2008. 95 S. 12,00 €. ISBN: 3551779635.
Jason Lutes (Zeichner) & Ed Brubaker (Autor): Herbstfall. Reprodukt-Verlag. Berlin 2004. 48 S. 10,00 €. ISBN: 3931377881.