28. Oktober 2008

Das letzte Spiel

 

Ich bin Anton Chigurh nur einmal begegnet. Und bei Gott, ich bin allen Mächten des Himmels dankbar, dass es dabei geblieben ist. Ich lebe noch. Und das ist mehr, als die meisten behaupten können, die Chigurh irgendwann vor die Stiefelspitzen geraten sind. Ich weiß nicht, wo einer wie er herkommt. Aus welchem Rattennest. Wie soll man das auch wissen. Da kann einem schon mächtig schlecht werden. Ich denke immer wieder an das Buch. Und den Film. Wenn das alles stimmt, dann hat der Junge wirklich eine Menge auf dem Kerbholz.

Ich war damals am Rande der Wüste unterwegs. Ein trauriges Stück Land. Am Tag zu heiß. In der Nacht zu kalt. Wer will da schon leben. Du findest deinen eigenen Schatten nicht mal. Auch einem Anton Chigurh wird es da nicht gefallen haben. Warum er dort war? Ich kann nur raten.

Ich war in einer schmierigen Kneipe gelandet, einem verflixten Höllending von einer Bar. Dort rauben sie dir nicht nur die letzten Dollars, sondern gleich noch die Seele und die Eingeweide. Ich war aber trotzdem dort. Die Dinge waren in der letzten Zeit nicht so gut gelaufen. Und da verliert man auch die Angst. Ist viel zu sehr mit sich beschäftigt. Ach, scheiß drauf. Es war, wie es war. Und es ist vorbei.

Am Abend veranstalteten sie eine Dichterlesung. Ich konnte es kaum glauben. Aber es war wirklich so. Es kamen relativ viele Leute, was mich in noch größeres Erstaunen versetzte. Die lesen hier doch bestimmt nicht. Das ist doch alles Pack hier. Abschaum.

Und dann fing es an. Der Typ las mit einer leisen und sonoren Stimme. Ich verstand ihn kaum. Er saß hinter einer Lesebrille, die ihm ständig von der Nase rutschen wollte. Er schob das verflixte Ding wieder zurück, und zack, im nächsten Augenblick war es schon wieder geschehen. Er las aus diesem Buch. Ich kannte es. Sie hatten es auch verfilmt. No Country for old man.

Das Buch handelt von ihm. Besonders gut kam er nicht weg. Scheint einem so, als wäre er geradewegs aus der Hölle zu uns nach oben gekommen. Er tötet. Wahllos. Hält sich für das Schicksal. Für einen Wirbelsturm. Für einen verfluchten Gott der Dunkelheit.

Der Typ, der uns das Buch vorlas, kam mir auch nicht koscher vor. Zu herbe Züge. Aber die haben sie alle hier. Ich auch. Warum sollte ich ihm das vorwerfen.

Chigurh stand seitlich von ihm. Er hatte sich hinter ein paar Mexikanern verschanzt, wackelte unruhig hin und her. So kannte ich ihn gar nicht. Aber eigentlich kannte ich ihn ja auch nicht. Kannte nur Buch und Film über ihn. Die können lügen. Die lügen meistens. Ich hasse die Lüge. Sie hat die Welt zu einem verkehrten Ort gemacht. Aber vielleicht war diese Welt schon immer der verkehrte Ort für uns Menschen. Für Menschen wie mich oder Cormac McCarthy oder Llewelyn Moss.

Ja, Moss. Das war vielleicht ein Typ. Wann war das nur alles passiert? Irgendwann 1980 im Süden von Texas. Moss war ein prima Kerl gewesen. So einen wünschte man sich als Freund. Trocken wie der Wüstenwind. Er war auf der Jagd nach Antilopen gewesen. Und dann fand er plötzlich diese Ansammlung Autos und Leichen, die sein Leben auf immer verändern sollten. Es stank zum Himmel. Ein Drogendeal. Irgendwas war schief gelaufen. Aber der alte Bluthund Moss nahm die Spur des letzten Überlebenden auf. Fand ihn. Tot. Und das Geld. Eine Menge Geld. Einen Koffer voller Geld. Ach Moss, hättest du den verfluchten Koffer doch nur dort gelassen. Alles wäre anders gekommen. Aber er nimmt ihn mit. Und damit beginnt die ganze Scheiße. Ihr müsst wissen: In dem Koffer befand sich ein Peilsender. Moss wusste es nicht. Fand es viel zu spät erst raus. Und dann hing ihm Chigurh an den Fersen. Jagte ihn wie eine Antilope. Gab nicht auf. Folgte seinem ureigensten Instinkt des Tötens. Er würde Moss bekommen. Bekam ihn aber nicht. Und auch nicht das Geld. Aber es gibt ihn noch. Und heute ist er hier.

Ich blickte von McCarthy auf. Rüber zu Anton. Er sah anders aus, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Nicht wie Javier Bardem. Ist ja auch blöd von mir. Der hat ihn nur gespielt. Aber das hier war der echte Anton Chigurh. Er hatte einen steifen Arm. Könnte überallher stammen. Woher sollte ich das wissen. Er hatte einen rasierten Schädel. Damit fiel man eigentlich auf. Aber hier hausten eh nur Galgenvögel. Die bemerkten so etwas nicht. Die kauten ihren Tabak und lauschten McCarthy und seiner glasklaren Sprache.

Mann, ich sage euch, der kann vielleicht schreiben. Das sind Haken, sind schnelle Schläge. Er trifft dich, und ehe du dich versiehst, bist du zu Boden gegangen. Da kommt schon wieder einer dieser Sätze. Drei Worte reichen bei McCarthy, um dich umzuhauen. Du gehst auf die Bretter. Ende. Der Kampf ist beendet. Der Film war ähnlich gut. Aber der Roman ist besser, zumal fast alle Dialoge des Romans originalgetreu übernommen wurden. Ist ja das gute Recht von diesen Filmemachern. Was soll ich schon dazu sagen. Mit Filmen habe ich es nicht so. Mit Büchern eigentlich auch nicht. Mit Flinten schon eher. Da geht es mir wie den meisten hier unten. Ja, wir sind die hier unten. Wir sind ein Stück näher an der Hölle als ihr.

Irgendwann beendete McCarthy seine Lesung. Applaus gab es keinen. Aber auch keine Drohungen. Das ist so gut wie Applaus in diesem Winkel der Welt.

McCarthy verschwand. Er schlüpfte in einen Mantel und dann ins Dunkel der Nacht. Folgte seiner Straße. Wir werden noch mehr von ihm hören. Bin sicher.

Ich blieb noch eine Weile an meinem Tisch sitzen. Ich schwitzte und trank zu viel und plötzlich spürte ich den weichen Atem eines Fremden an meinem Ohr.

„Lust auf ein Spiel?“

Ich blickte auf. Blickte in die verfluchte Fresse von Chigurh. Hatte er etwas bemerkt. Hatte er meine Blicke gesehen. Leute, ich wurde unsicher. Die Sache gefiel mir nicht. Gefiel mir überhaupt nicht.

„Nein. Danke. Lass ich mal lieber. Hab im Spiel kein Glück.“

Chigurh grinste nicht. Keine Regung. Er griff in seine Hosentasche und beförderte eine Münze auf den Tisch.

„Kopf oder Zahl?“, sagte er zu mir.

„Will nicht. Ist nichts für mich. Was soll das überhaupt?“

„Kopf oder Zahl. Sag schon, alter Mann. Du könntest alles gewinnen.“

„Alles? Was soll das heißen?“

„Das, was es heiß t…“

„Leck mich. Dann eben Kopf.“

Chigurh warf die Münze in die Luft, schnappte sie sich auf halben Weg und knallte sie auf den wurmstichigen Tisch. Langsam zog er die Hand von der Münze.

„Kopf!“ Jetzt grinste Chigurh zum ersten Mal. Er nickte kurz. Dann ging er. Ich sah ihn nie wieder. Und wie ich schon gesagt habe, bin ich darüber nicht gerade unglücklich. Soll er doch bleiben, wo der Pfeffer wächst. Wer braucht schon so einen. Vielleicht dieser McCarthy. Um seine Romane zu schreiben. Oder diese Filmleute. Ich brauch ihn nicht. Hier draußen treiben sich genug Monster rum. Da kann man auf eines mehr gut verzichten.

Ich trank ein letztes Glas. Dann nahm ich meinen Hut und ging. Wohin werde ich verflucht noch mal nicht verraten. Vielleicht liest dies hier auch irgendwann dieser Chigurh. Und der muss nicht wissen, wo ich bin.

So. Es hat eben an meiner Tür geklopft. Ich muss Schluss machen. Mal sehen, wer es ist. Ich bekomme eigentlich nie Besuch. Der Sensenmann wird es ja nicht gerade sein.

 

Guido Rohm

 

Cormac McCarthy: Kein Land für alte Männer, Rowohlt 2008

 

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