19. Oktober 2008

Vom Winde verweht

 

Kaum einer schreibt Geschichten derart prägnant, pointiert und aberwitzig, wie der Amerikaner T.C. Boyle. Die Büchergilde Gutenberg widmete dem New Yorker mit „Windsbraut“ eine weitere Ausgabe seiner „Tollen Hefte“.

 

Würde man von einem Schriftsteller Tom Coraghessan B. schreiben, wüssten wohl nur eingefleischte Fans seiner Erzählungen und Romane, von wem hier die Rede wäre. Schriebe man aber, dem Duktus seit seiner literarischen Entdeckung folgend, von einem Autoren namens T.C. Boyle, bliebe kaum ein Leser über die Identität des Literaten im Dunkeln. Und doch entspräche es wohl eher dem Stile Boyles, die erste Form zu verwenden, denn es bräche mit der Gewohnheit und würde den eingefahrenen Geist der literarischen Welt wecken.

 

Nichts anderes macht der inzwischen schon 60-Jährige – ja, wer hätte das gedacht, dass der ewig junge Boyle eines Tages einfach kein junger Wilder mehr ist – in seinen Romanen und Erzählungen. Er bricht den dahergekommenen Stil, stellt das Gewohnte auf den Kopf, lässt eine absurd surreale Wirklichkeit entstehen, die zugleich absolut unmöglich und durchaus real ist. Ein Beispiel gefällig? „Am ersten Abend führte er Junie Ooley zu ihrem Quartier wie ein Filmkavalier – die beiden hielten sich an den Händen und stemmten sich gegen den Wind, während Katzen, Blumentöpfe und kleine Kinder an ihnen vorbeiflogen –, und von da an war er nie länger als fünf Minuten von ihr getrennt.“ Es ist dieses auf engstem sprachlichem Raum perfektionierte Zusammenspiel aus Surrealität und Wirklichkeit, Übertreibung und dem richtigen Maß, das die Lektüre der Geschichten von T.C. Boyle unvergleichlich fasziniert. Das Lesen der Boyle’schen Werke bereitet eine wahre Mordsgaudi und weckt zugleich Zweifel an der grundsätzlichen Möglichkeit, die Gedanken und Ideen des Künstlers jemals nachvollziehen zu können. Boyle ist einfach ein bezaubernder Magier, nicht umsonst erhielt er 1987 für seinen Roman „World’s End“den renommierten PEN/Faulkner-Award.

 

Die nun hervorragend illustriert vorliegende „Windsbraut“* ist eine jener Boyle’schen Grundsatzerzählungen. Es geht um eine völlig unmögliche, doch umso intensiver geführte und erlebte Liebe auf den Shetland-Inseln, die als die stürmischste Gegend der Welt gelten. Es ist daher nur nahe liegend, dass die verschiedenen Winde in dieser Erzählung tragende Rollen einnehmen. Irgendwie ist es der wortwörtliche Wind, der die attraktive Junie Ooley auf die Insel Unst verschlug. Mit ihr kommt der Wind des Wandels auf, der das Leben des Schafzüchters Robbie Baikies für immer verändern wird. Und der Orkan einer jungen Liebe bringt schließlich die dörfliche Ordnung mächtig durcheinander und sorgt für einen weiteren Sturm, nämlich den der Entrüstung. In der „Windsbraut“ treibt die Witterung noch so einiges durch die windleeren Gassen und es überrascht keineswegs, dass er schlussendlich auch die Illusionen und Hoffnungen des jungen Schafzüchters davonträgt. Dies macht er bei Boyle natürlich nicht im metaphorischen Sinn. Nein, dies geschieht surrealistischerweise ganz plastisch.

 

„Sie wusste nur, dass der Wind schlimm war. … Ihr war kalt, sie fröstelte, denn das Feuer war unter den Böen, die am Schornstein zerrten, längst erloschen. Und dann brach der Schornstein ab, mit einem Geräusch, als würden Klauen an einer Fensterscheibe kratzen. Es knackte, und die Dachbalken gaben nach, und dann starrte die schwarze Nacht auf sie herab. Sie klammerte sich an den Kaminbock, doch der Kaminbock wurde davongeweht, und dann klammerte sie sich an die Steine, aus denen der Kamin gemauert war, doch die Steine wurden ebenfalls davongeweht, als wären sie Staubkörner, und woran sollte sie sich nun noch festklammern?

Wir haben sie nie gefunden.“

 

Nach „Mein Abend mit Jane Austen“ (Tolles Heft 14) und „Der Hardrock-Himmel“ (Tolles Heft 16) liegt nun mit „Windsbraut“ eine dritte Erzählung Boyle’s als literarisch-grafisches Kleinod vor. „Swept Away“, so der Originaltitel, galt nach der Erstveröffentlichung in The New Yorker 2003 als eine der besten Kurzgeschichten des Jahres. Sie ist ein sprachliches Feuerwerk, voller Genialität, Einfallsreichtum, Witz und Ironie. Die von dem New Yorker Grafikdesigner entworfenen vierfarbigen Flachdruckgrafiken, die in ihrer groben Pixelausführung an die Mutter aller Computerspiele, „Packman“, erinnern, illustrieren nicht nur ausgezeichnet die Erzählung, sondern auch geradezu genial den surreal-realen Erzählstil T.C. Boyle’s. Und was sagt Boyle selbst zu der Idee der „Tollen Hefte“, deren dritte Ausgabe nun schon dem Amerikaner gewidmet ist? „Als wir zum ersten Mal gemeinsam ein ‚Tolles Heft’ gemacht haben, sagten einige Journalisten in Deutschland zu mir: ‚Warum machen Sie das? Bedeutende Künstler machen solche Hefte nicht.‘ Und ich sagte zu ihnen: ‘Weil es Spaß macht.‘ Gute Erklärung, nicht wahr? Weil es schön ist und weil ich mich geehrt fühle.“

Dem will der Rezensent nur noch das Nötigste hinzufügen? „Windsbraut“ ist eine großartige, ja, man möchte fast sagen, kongeniale Ausgabe der „Tollen Hefte“ und ein literarisches Schmuckstück für jeden Buchliebhaber.

 

Thomas Hummitzsch

 

 

* Die Kurzgeschichte „Windsbraut“ ist auch in dem kürzlich im Hanser-Verlag erschienenen Erzählband „Zähne und Klauen“ von T.C. Boyle zu finden.

 

T.C. Boyle: Windsbraut. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren. Mit vierfarbigen Original-Flachdruckgrafiken und einer Beilage. Limitierte Auflage. Edition Büchergilde. Frankfurt/Main 2008. 32 S.; 16,90 €. ISBN: 3940111517.