7. Oktober 2008

Mit Jaeger unterwegs

 

Scott McCloud und Warren Ellis dürften die prominentesten Vertreter der wachsenden Fangemeinde der Serie „Finder“ von Carla Speed McNeil sein, die in den USA und Kanada kein Geheimtipp mehr ist, während sie im deutschsprachigen Raum weitgehend unbekannt sein dürfte. „Finder“ ist die Comicserie einer Autorin aus Annapolis (in der Nähe von Washington, D.C.), die sie 1996 mit einer winzigen Auflage von 30 Exemplaren begann und die sie ein Leben lang in Story Arcs fortsetzen möchte. Von der Qualität der eleganten Layouts von Speed McNeil konnte sich das Deutsch sprechende Publikum schon in ihren Gastbeiträgen überzeugen: Ellis unterstützte Speed McNeil mit Gastseiten in seiner Serie „Transmetropolitan“, während sie für Steve Rucka den fünften Band der Serie „Queen & Country“ umsetzen durfte.

 

Im zweimonatlichen Rhythmus publiziert sie im Eigenverlag ihre Hefte, die als Tradepaperback mit ausführlichem Kommentar – teilweise mit Gastbeiträgen von befreundeten Kolleginnen und Kollegen wie Steve Lieber, John Peters, Rachel Hartman und Jeffrey Thompson angereichert – erscheinen, sobald ein Story Arc abgeschlossen ist oder sich gut 200 Seiten angesammelt haben. Dass sie mehr war als eine unter den zahllosen Anfängern, wurde 1998 klar, als sie sowohl vom Frauenverband der Comicindustrie, Friends of Lulu, den Kim Yale Promising Newcomer Award erhielt als auch den Ignatz für das beste neue Talent. Eisner-Nominierungen konnte sie für den ersten Band ihres dritten Story Arc, „Talisman“, und den gesamten Story Arc gewinnen, außerdem wurde sie für ihre laufende Serie und als beste Szenaristin nominiert.

 

Doch wer ist „Finder“ eigentlich? Und was ist ein „Finder“ eigentlich? Tja, das ist kompliziert, obwohl sich die Bände genussvoll schmökern lassen. Protagonist der Serie ist Jaeger Ayers, der als Finder die Sünden anderer Personen auf sich nimmt und heimatlos von Ort zu Ort zieht – um einen Übersetzungsversuch zu wagen: Jaeger ist ein Seelenverwandter von „Corto Maltese“ der sich in einer Welt mit eigenen Gesetzen bewegt, die zwar nicht die unsere ist, die aber dermaßen plastisch gestaltet ist, dass sie ihren eigenen Sog besitzt: eine Mischung aus den besten Seiten von Dave Sims und Gerhards „Cerebus“ mit den Sahnestücken aus Neil Gaimans „The Sandman“.

 

Diese Serie umfasst inzwischen gut 1000 Seiten, die für eine enzyklopädische Sicht zu umfangreich ist. Obwohl ihr Niveau kontinuierlich über dem Mittelmaß liegt, schwankt ihre Qualität innerhalb der Serie, die nicht-linear aufgebaut ist. Deshalb spielt es kaum eine Rolle, in welcher Reihenfolge die Bände gelesen werden. Der erste Story Arc, „Sin-Eater“, birst mit insgesamt 340 Seiten in zwei Bänden vor Ideen und wirkt unübersichtlich, sodass es schwerfällt, den roten Faden zu verfolgen. Meine Empfehlung lautet daher: Mit dem dritten Story Arc und dem vierten Band „Talisman“ erst mal prüfen, ob „Finder“ den eigenen Geschmack trifft; dann mit dem zweiten Story Arc resp. dritten Band „King of the Cats“ versuchen, das Erlebnis zu wiederholen; und erst dann zu „Sin-Eater“ greifen, um die meisten der bisher aufgeworfenen offenen Fragen zu klären. Auf diese Bände möchte ich meine Rezension denn auch beschränken.

 

Jeder Story Arc ist wie eine Graphic Novel aufgebaut, mit eigenem Thema, einem ausgefeilten Spannungsboden, jeweils einer neuen Kulisse – sprich: eine neue fiktive Stadt – und neuen Hauptfiguren. Jaeger Ayers ist zwar der Serien-Protagonist, häufig tritt er jedoch zugunsten anderer Figuren in den Hintergrund, teilweise begnügt er sich wie in „Talisman“ mit einem Cameo-Auftritt. Ein Barmann charakterisiert den schlanken Mann indianischer Abstammung als Borderline-Persönlichkeit mit paranoiden und schizoiden Tendenzen. Er zieht als Einzelgänger trotz seines trainierten Körpers, seiner intelligenten Wachsamkeit und seiner kämpferischen Fähigkeiten lieber die Flucht vor, bevor er in die Defensive gerät. Dabei kann er sich zurückhalten, wenn es angebracht ist, sich auf passive Rollen wie die eines Beobachters beschränken und masochistisch Schmerz oder Leid ertragen. Jaeger entzieht sich so einer platten Kategorisierung als Held oder Anti-Held, vielmehr ist er eine der lebendigsten Figuren des amerikanischen Kontinents – und als einer der attraktivsten Männer im US-Comic ein Sex-Symbol nicht nur beim heterosexuellen Publikum, sondern auch bei Lesben und Schwulen. In einem Interview berichtet Speed McNeil von einer queeren Convention, bei der sie die einzige heterosexuelle Teilnehmerin war und ein Ribbon als Erkennungszeichen tragen musste.

 

Selbst nach acht Story Arcs verweigert Speed McNeil eine eindeutige Einordnung ihrer fiktiven Welt: Ob es sich dabei um eine Zukunft, um einen anderen Planeten, eine Parallelwelt, einen Traum oder um eine kybernetische Simulation handelt, bleibt offen. Schlimmer, diese Elemente fügen sich wie Puzzleteile zu einem postmodernen Ganzen, gespickt mit Anspielungen nicht nur auf Americana – so haben Johnny Cash und June Carter einen Gastauftritt. Speed McNeil ist Anime-Fan, besonders von Hayao Miyazaki, und referiert ausgiebig diverse Götterwelten, so kommt zum Beispiel der hinduistische Elefantengott Ganesha mehrfach vor.

 

Fremdartige Spezies, von anthropomorph bis zu den bizarrsten Wesen, drängeln sich wie in der klassischen Barszene von „Star Wars“, und selbst diejenigen, die auf den ersten Blick ziemlich menschlich aussehen, handeln und benehmen sich nach fremdartigen Regeln. So gibt es Clans, bei denen sich sowohl Mädchen als auch Jungen in der Pubertät verweiblichen und erwachsene Männer es als demütigend empfinden, als besonders männlich gelobt zu werden. Einige Clans heiraten heterosexuell, andere homosexuell. Metamorphosen zwischen tierisch und humanoid oder von alt zu jung sind ebenso gang und gäbe wie das Klonen innerhalb von Clans. Einige Spezies leben in Themenparks, und es gibt Prüfungen für Magie. Überwachungskameras sind allgegenwärtig, und wie Konzerne organisierte Kirchen verarbeiten dieses Material zu Kinofilmen. Wer etwas aus der Vergangenheit wissen will, wendet sich an das Painwright Museum, das als Gegenwert für die gesuchte Information die Schilderung eines besonderen persönlichen Erlebnisses verlangt – ein Mindgame à la „Cerebus“ in der Form des „Chinesischen Roulettes“.

 

Marcie ist die Tochter von Emma, Jaegers Geliebter in Anvard, zu der er in erratischen Abständen zurückkehrt, und Brigham, einem traumatisierten Veteran und ehemals Vorgesetztem von Jaeger. „Talisman“ erzählt die Geschichte von Marcie, die traurig ist, weil sie bei der Magieprüfung durchgefallen ist. Falls er denn mal da ist, liest er Marcie aus ihrem Lieblingsbuch vor. Weil sich das Mädchen in ihrer Fantasiewelt zu verlieren droht, verkauft Emma das Buch. Zunächst ist die Kleine todtraurig, dann beginnt sie zu schreiben – erfolglos. Ihre Mitschüler finden ihre Geschichten langweilig, aber Marcie gibt nicht auf und sucht in Antiquariaten nach so etwas Überholtem wie einem gedruckten Buch, ihrem Buch! Als sie es endlich findet, muss sie ansehen, wie es an jemand anderen verkauft wird. Als junge Frau finanziert sie ihre Ausbildung zur Schriftstellerin als Scream Queen im Synchronstudio ihres jung gebliebenen Großvaters. – Dieses Juwel ist eine Liebeserklärung an das Lesen und Schreiben schlechthin! Konkurrenzlos!

 

Britta Madeleine Woitschig (08/08)

 

Carla Speed McNeil: “Finder”, bislang 9 Tradepaperbacks, Lightspeed Press 1996 bis heute, 96 bis 300 Seiten.

 

www.lightspeedpress.com