20. September 2008

« Ma journée est faite, je quitte l’Europe »

 

Einen Heimatroman von Christian Kracht würde man wohl am wenigsten erwartet haben – und tatsächlich ist „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ auch kein richtiger Heimatroman, obwohl die Schweiz, Geburtsland des Autors, darin eine prägnante Rolle spielt. Allerdings fehlt so ziemlich alles, was man üblicherweise mit der Schweiz assoziiert, so der Schweizer Käse (den der Zwerg Uriel arg vermisst), die Banken, der Dialekt und vor allem die politische Neutralität, denn die Schweiz, so wie sie uns Kracht präsentiert, befindet sich seit langem in einem aufreibenden Krieg mit den faschistischen Mächten Deutschland und England und ist selbst seit Lenins und Trotzkis Tat eine SSR, also eine Sozialistische Sowjetrepublik – Lenin nahm also gar nicht den berühmten plombierten Zug, sondern blieb bei den Dadaisten des Cabaret Voltaire. Geschichtsklitterung? Aufklärerische Bemühungen um Alternativ-Konstruktionen des geschichtlichen Verlaufs?

 

Wohl kaum. Dieser Roman, wenn man sich auf sein fiktionales Spiel einlässt, ist eine düstere Gegenwartsdiagnose im Gewande eines allegorisch-romantisch-historischen Settings. Zugleich ist dieser Roman aber auch die Geschichte einer wenn auch völlig zukunftsoffenen Befreiung. Die Handlung des Buchs ist einigermaßen lapidar: Ein Schweizer Offizier, eigentlich ein gebürtiger Afrikaner, also ein Schwarzer, macht sich auf die Suche nach einem polnischen Oberst, Brazhinsky mit Namen, den er im sogenannten „Réduit“, dem kriegsbedingt architektonisch ausgebauten Innenbereich der Schweizer Alpen, trifft, sich von ihm faszinieren lässt und von ihm die Wahrheit über die SSR erfährt. Da es zwischen dem völlig leer laufenden sozialistischen Kaderbetrieb der Schweiz und dem brutalen faschistischen Deutschland kein Drittes mehr in Europa gibt (die USA kommen erst gar nicht vor), kehrt der namenlose Held über Italien in seine alte Heimat zurück, wo gerade eine Revolution stattfindet, allerdings eher im retrograden Sinn, zurück zur Natur, vielleicht aber auch zurück zu den Wurzeln.

 

Auch ästhetisch kann man dem Buch eine gewisse Archaik und Regionalistik nicht absprechen, ganz bewusst setzt Kracht auf Schweizer Idiom (verzeigen, Velo, Camion, Nastuch, fiche, Beiz, währschaft), zugleich übersetzt Kracht das Phänomen der Globalisierung auf seine ganz eigene Art: Entfernungen werden in Werst gemessen, bestimmte Altersklassen liest man in Suaheli, polnische Juden zitieren auf Lateinisch, rein fiktionale Gestalten wie Uriel lesen die Bibel in einer afrikanischen Übersetzung – fast könnte man sagen, dass solche Deplatzierungen den ganzen Roman bestimmen. Was hat es zum Beispiel mit diesen seltsamen Steckdosen unterhalb der Achselhöhlen bei einigen der Romanfiguren auf sich. Oder sind nicht vielmehr die normalen Krieger die eigentlichen Roboter? Warum trägt der Held sein Herz auf der rechten Seite? Ein Scherz der Sprache? Das „Réduit“ soll ein Bollwerk gegen den Faschismus sein. Zugleich ist es – als verkleinertes Modell der SSR – ein völlig autonomes Gebilde, dem die Umwelt abhanden gekommen ist und dass nur noch als sein eigenes Museum funktioniert, ohne dass das der Feind bereits wahrgenommen hat oder der vielleicht in einer ähnlichen Selbstblindheit befangen ist.

 

Gegen solche automatisierten rationellen Selbstläufer hilft nur noch Mystik oder der ethnografische Rückblick auf Mythenbildung. Und genau hier schlägt das seltsame Herz dieses wunderbaren Romans, der in einem ganz positiven Sinne Kunsthandwerk ist: Man wird nichts Neues in „Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“ finden, er ist poetisch in einem romantischen Sinn (die Begriffe Kitsch oder Trash passen hier nicht), er ist aber auch konstruiert in einem romantischen Sinn, d.h. es gibt einen intellektuellen Überbau, der allegorisch in eine einfache bildhafte Struktur überführt oder auch ganz grob namentlich kenntlich gemacht wird – zum Beispiel ist die Höhlenmalerei des Réduit zugleich eine menschheitsgeschichtliche Kunstgeschichte in nuce. Oder die festgefahrene politische Lage in Europa liest sich wie ein Musil’sches „Seinesgleichen geschieht“ und wird so dekadenztheoretisch begreifbar. Man kann aber auch an Baudrillard denken oder an die idiotischen Luhmann’schen Systeme, die es immer nur mit sich selbst zu tun haben.

 

Gegen solche Selbstläufer fährt Kracht andere Logiken auf, so die „Rauchsprache“ des Juden Brazhinsky, die Wahrsagekraft des afrikanischen Stammesältesten oder auch Einsprengsel, die an das wunderbare Mark von Filmen wie „Twin Peaks“ denken lassen. Das „Faserland“ des Autors muss man sich als großen Bedeutungs- und Klangraum vorstellen, in dem es nicht mehr wichtig ist, das oder das als bestimmtes Zitat bestimmen zu können, weil es so oder so passt. Ob man die Laurie-Anderson-Zitate bemerkt oder nicht, was soll’s. Kracht ist ein perfekter Einschmelzer, der es versteht, verschiedenste Register bedienen zu können. Man wird diesem schmalen Buch vieles unterlegen können, man kann es aber auch lesen wie eine Stifter’sche Erzählung. Manches lässt an „Heinrich von Ofterdingen“ erinnern, manches ist aber auch nicht weit entfernt von den „Stahlgewittern“ Ernst Jüngers.

 

Das Ende des Buchs läutet nicht weniger als eine Zeitenwende ein durch eine grandiose Aufwertung Afrikas und die Abdankung des alten Kontinents, dessen „Bauhaus“ als nicht-funktional enttarnt wird, der reale Tod des enttäuschten Architekten wird zum symbolischen Tod einer ganzen Geschichte, die sich bislang als Autor eben dieser Geschichte begriff. All das gibt es hier ganz unangestrengt zu lesen, von einer Beiläufigkeit, die einem zumutet zu denken, dass es wirklich noch ein ganz anderes Kapital zu heben gibt als bislang geglaubt. In der heutigen Schweiz wird es kaum liegen.

 

Dieter Wenk (08-08)

 

Christian Kracht, Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten, Köln 2008, Kiepenheuer & Witsch, 150 Seiten, 16,95 €

 

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