Die gekappte Flosse
Wer durch den Louvre flaniert, kann der Skulptur einer Liegenden begegnen, die im Jahre 1619 im Garten eines römischen Karmeliterklosters gefunden wurde, in der Nähe der Thermen des Kaisers Diokletian. Der Kardinal Scipione Borghese (1579-1633) war von dem antiken Fundstück dermaßen begeistert, dass er den Mönchen eine neue Kirchenfassade finanzierte, um die Statue in seinen Besitz zu bekommen. Damit sie ihren Prunk entfalten konnte, beauftragte er den damals noch jungen Gianlorenzo Bernini (1598-1680), einen Meister des römischen Barock, mit der Restaurierung. Die Statue war zwar perfekt erhalten, dennoch veredelte Bernini das Kunstwerk durch eine Matratze, auf der sich die Preziose präsentiert. Die scheinbar lasziv Schlafende enthüllt ihr Geheimnis, sobald sich der Betrachtende um die Skulptur herumbewegt: Ein deutlich erregtes Glied offenbart die Identität eines Hermaphroditen.
Lustvolle Schauder waren intendiert, denn die ästhetischen Darstellungen des Sohns der Liebesgöttin Aphrodite und des Götterboten Hermes, des Gottes der Diebe und des Handels, verstieß gegen den antiken Kodex des Begehrens. Mäßigung galt damals als Tugend, aber das doppelgeschlechtliche Wesen konnte sowohl die aktive als auch die passive Rolle einnehmen und galt deswegen als maßlos. Bis vor wenigen Jahrzehnten wurde ein solcher Körper denn auch als erotisches Phantasma betrachtet, ein Mythos in der Tradition von Ovids „Metamorphosen“. Menschen, die das Pech hatten, so geboren zu werden, fanden sich vom Mittelalter bis in das 20. Jahrhundert als „lusus naturae“ (Spiel der Natur) oder als Freaks auf Rummelplätzen wieder. Im 19. Jahrhundert übernahm eine sich aufgeklärt gebende, sich humanistisch verstehende Medizin, die ihre Patienten fortan mit drastischen Eingriffen wie Hormongaben und chirurgischen Interventionen zwangsbeglückte.
Erst seit wenigen Jahren emanzipieren sich Intersexuelle, erheben ihre eigenen Stimmen und fordern Anerkennung, ohne verstümmelt zu werden. Was lange Zeit als Fallstudien in den Archiven der Mediziner schlummerte und auf Kongressen vom geschlossenen Publikum begafft werden konnte, gewinnt seit der Wende zum 21. Jahrhundert an Dynamik. Nachdem fast ausschließlich Dokumentarfilme die Sicht bestimmten, hat nun endlich ein Spielfilm den Weg in die deutschen Kinos gefunden. „XXY“ von Lucía Puenzo widmet sich der Coming-of-Age-Geschichte des 15-jährigen Hermaphroditen Alex. Wie dieser kam auch der erste Spielfilm (teilweise) aus Lateinamerika: Die Regisseurin von „Both“, der 2006 den Langfilmpreis Globola bei den Lesbisch-Schwulen Filmtagen Hamburg gewann, wuchs in Peru auf. „Both“ erzählt den mit Traumata verbundenen Erkenntnisprozess einer bisexuellen Stuntfrau, die lernen muss, dass ihr kleiner Bruder nicht gestorben, sondern dass sie ebendieser Bruder ist. Durchsetzt mit Rachefantasien gegen die eigene Mutter und den selbstgerechten und zynischen Chirurgen ist dieser Erstling keine leichte Kost.
„XXY“ ist in dieser Hinsicht konformer, lässt Platz sowohl für Identifikation als auch für Reflektion und durchbricht unsere Klischees vom rückständigen Lateinamerika mit brutaler Machokultur. Gut, die gibt es zweifellos, trotzdem haben Länder wie Argentinien und beispielsweise Kolumbien enorm aufgeholt. Denn dort werden nicht nur homosexuelle Partnerschaften anerkannt, Homosexuelle können auch Kinder adoptieren (was in Deutschland nicht möglich ist). Puenzo ist sich dieser im Ausland weitgehend unsichtbaren Tradition bewusst. In einer der ersten Szenen des Films wird das klar: Bei dem Treffen der beiden Familien, der des Meeresbiologen und der des Schönheitschirurgen, wird es auf eine Weise angedeutet, die wahrscheinlich häufig überhört wird. Der Wunsch nach vier Töchtern bringt einer der Mütter nämlich den Spitznamen Susanita ein, einer Figur aus dem argentinischen Comicklassiker „Mafalda“ von Quino. Obwohl die Serie Anfang der 1960er Jahre entstand, machte sich Susanita, die sich einzig durch Mutterschaft definierte, schon damals lächerlich und zum Gespött der anderen Kinder.
Die 1960er Jahre sind vergangen, anwesend sind sie nur im Hintergrund wie in der Scheibe des Pick-up von Alex’ Vater, auf der die Pilzköpfe der Fab Four zu sehen sind. „XXY“ kann deshalb nicht verleugnen, auch ein Film über die argentinische Vergangenheit zu sein. Wie Uruguay, das als Pufferstaat zwischen Argentinien und Brasilien gegründet wurde, sieht auch der Meeresbiologe Nestor Kraken sein gewähltes Exil als neutralen Grund. In ihm als Forscher verkörpert sich eine distanzierte Perspektive auf sein Objekt, die Meeresschildkröten, die er beobachtet und verstehen will, ohne vorschnell zu werten und zu urteilen. Dem ergrauten Hippie steht als Antagonist der befreundete Schönheitschirurg mit seinen rigiden Vorstellungen gegenüber: ein Yuppie, der korrigiert, was nicht mehr den Normen entspricht oder nie entsprochen hat. Gebiete mit fließenden Grenzen wie der Strand bieten aber eine breite Angriffsfläche und kaum Deckung, sodass Alex nicht vor den Söhnen der Fischer flüchten kann, die sie/ihn nötigen und fast vergewaltigt hätten.
Der aufgebrochene Panzer einer Schildkröte, die Alex kurz zuvor findet, muss in Verbindung mit den lauernden Jugendlichen als Geste der Drohung gelesen werden; andererseits wirken die leeren Hülle wie die Reste eines übergroßen Eies, aus dem etwas geschlüpft ist: Erwachsen zu werden bedeutet auch, nackt zu sein, schutzlos und verletzlich zu sein. Wie ein Leitmotiv durchzieht Alex’ flackernder Blick den gesamten Film, eine Mischung aus aggressiver Wildheit, die sich zu wehren weiß, und tastender Angst, die nach einer Begegnung sucht, einem Ausweg aus ihrer/seiner Einsamkeit. Das Graublau ihrer/seiner Pupillen findet sich in der Farbe des Meeres wieder, dem Biotop der Schildkröten. Doch die (männlich geprägte) Welt der Fischer, der Biologen und des Mediziners ist von Gewalt durchsetzt. Augenfällig wird das in einer Schildkröte, die in den Netzen der Fischer ihre Vorderflossen verloren hat. Mit Alex beobachten wir das verstümmelte Tier, dessen blutige Stümpfe sich trotzend bewegen, als ob es die Flossen noch hätte. Statt wortreich zu plappern, findet Puenzo ein poetisch eindringliches Bild, in dem sie gegen jede wie auch immer gerechtfertigte Zerstörung eines lebendigen Körpers plädiert.
Das Duell der Väter wird durch das Casting unterstützt. Der argentinische Superstar Ricardo Darín, Alex’ Vater, trägt zwar einen Bart, aber sein Gesicht wirkt weich, und außerdem sucht er den Dialog. Mit ihren schmalen Augen und ihrer untersetzten Statur besitzt Alex’ Mutter indigene Merkmale, während das Bilderbuchehepaar des Chirurgen hart und konfrontativ handelt. Solange Widerspruch nicht geduldet wird, erübrigen sich Gespräche, die mehr sein wollen als der Austausch von Höflichkeiten. Die geflohenen Hippies und die erfolgreichen Yuppies (denen die Junta unter General Videla anscheinend nicht geschadet hat) bilden so zwei Erzählungen der jüngsten argentinischen Vergangenheit, die versöhnt werden müssen, damit es nicht zu neuem Blutvergießen kommt. Wenn sich Alex entscheidet, die Jungen anzuzeigen, die sie/ihn überfallen haben, obwohl das mit einem Outing ihrer/seiner körperlichen Verfassung verbunden ist, impliziert das eine vorurteilslose Aufarbeitung der verübten Verbrechen.
Die Geschichte reicht in die Familien hinein, die grundlegende Einheit des Films, in dessen Zentrum die Beziehung zwischen Vätern und Söhnen steht. Das gilt auch für das Umfeld, in dem der Film entstand. Lucía Puenzo ist die Tochter des Filmemachers Luis Puenzo, der für Argentinien einen Oscar gewonnen hat. Verheiratet ist die Schriftstellerin mit dem ebenfalls schreibenden Sergio Bizzio, in dessen Kurzgeschichtensammlung „Chicos“ (Jungen) sich die Story „Cinismo“ (Zynismus) findet, auf der „XXY“ beruht. Puenzos Bruder stand hinter der Kamera, während das Ferienhaus der Puenzos in Uruguay zur Wohnung der Familie Kraken wurde. Die töchterliche Ebene bleibt extrem spärlich besetzt: nur die Übernachtung bei der Freundin und das Haarewaschen unter der Dusche. Dass es zum Schluss nur Söhne gibt, liegt in der Logik des Films, dessen erstes Wort „Weiblich“ lautet und Krakens Theorie bestätigt: „Alle Wirbeltiere sind urgeschlechtlich weiblich“, liest Alex im Buch des Vaters. Wenn Alex das Cortisol absetzt und sich vermännlichen wird, entspricht das dem eingeschlechtlichen Modell des Mittelalters, das Thomas Laqueur aufgearbeitet hat. Und in Nestor Krakens affirmativer Erzählung der Geburt seines Kindes als „perfekt“ klingt die Begeisterung des Kardinals an.
Britta Madeleine Woitschig
XXY, Frankreich/Spanien/Argentinien 2007, Lucía Puenzo, FSK: ab 12, mit Inés Efron, Ricardo Darín, Martín Piroyansky