Langeweile im Niemandsland
Adrian Tomine war schon immer der Beobachter der kleinen Gesten, jener Steuerungselemente der zwischenmenschlichen Beziehungen, die augenscheinlich so wenig bedeuten und doch umso mehr zerstören können. Mit "Halbe Wahrheiten" legt Reprodukt nun, nach zwei Kurzgeschichtensammlungen ("Echo Avenue" und "Sommerblond"), seine erste lange Erzählung vor, und auf den ersten Blick hat sich nicht viel geändert: Den früheren Protagonisten nicht unähnlich bestimmen auch hier Tristesse, unterschwellige Aggressionen und zerfahrene Kommunikation die Beziehung zwischen Ben Tanaka und Miko Hayashi, einem jungen Paar Anfang 30 aus Berkley. Oft wird aus derlei Sachverhalten, besonders wenn das Alter des Autors und das seiner Figuren so deckungsgleich ausfallen, das Sittengemälde einer ziellosen Generation gemalt. Was Individualisierung in der Soziologie meint, zeigt sich demnach als Essenz im Kleinen, in der Beziehungsunfähigkeit der Protagonisten, aus der in letzter Instanz implizit immer Identitätssuche spricht. Im vorliegenden Fall erhöht Tomine noch diesen Eindruck, indem er Ben an seiner asiatischen Herkunft laborieren lässt. Die zeigt sich als latente Abscheu gegenüber jedweder Aktivität, die mit asiatischem Hintergrund verbunden ist (bspw. Mikos Engagement beim asiatischen Independent-Film-Festival) sowie in einer großen Leidenschaft für weiße, westliche Frauen, rührt aber laut seinem Bekunden keinesfalls aus rassistischen Erfahrungen. Nicht zuletzt hieran zerbricht jedoch das fragile Gespann zwischen ihm und Miko, als sie ein viermonatiges Praktikum in New York antritt. Zurückgelassen in seiner Welt aus Zynismus und Kino, versucht er nun genau diesen stets geleugneten Gelüsten nachzugehen, nur um in New York erfahren zu müssen, dass die Trennung auf Zeit von Anfang an als endgültige beschlossen war.
Tomine konzentriert sich ganz auf die Empfindungen seiner Figuren, vornehmlich jene von Ben. Der Kniff der Kurzgeschichten bestand darin, episodisch aus dem Leben zu berichten, für einen kurzen Moment die erfassten Beschädigungen mit melancholischem Witz zu vermengen und ohne Aussicht auf Besserung die Szenerie wieder zu verlassen. "Halbe Wahrheiten" folgt demselben erzählerischen Prinzip, setzt ein mit der Endphase einer längst veralltäglichten Liebe und blendet aus, wenn wirklich nichts mehr zu retten ist. Aber neben den Problemen der Selbstfindung, der drögen Langeweile im Niemandsland, der kulturalistischen wie ethnischen Selbst- und Fremdpositionierung sind es vor allem Bens Projektionen, die den Kern der Geschichte bilden: Seine instrumentalisierten Bedürfnisse werden jederzeit den Umständen angepasst. Das Desinteresse an Miko schwindet, je deutlicher wird, dass ihm sein idealisierter Frauentyp keine Lebensbereicherung bietet. Die Leidenschaft für Miko bemisst sich ausschließlich am Austesten der sonst verfügbaren Alternativen. Das erscheint zweckrational, man könnte aber auch von der Fetischisierung der Liebe sprechen: Das unausweglose Dasein im Elend soll durch sie wenigstens erhellt werden, und kann sie das nicht leisten, so liegt das Problem bei ihr. Allein Bens verhärteter Zynismus zeugt von der Ahnung, dass mehr in ihm rumort als unerfüllte und missverstandene Liebeswehen. Da ist es natürlich umso galligere Ironie, wenn ihn Tomine bereits in der Exposition in diesem Zynismus bestärkt: Dort überreicht in der Schlussszene eines Films ein Vater seiner Tochter einen Glückskeks, der verkündet: Du wirst Glück und Harmonie in der Liebe finden. Abschließende Umarmung. Dem begeisterten Publikum kann Ben angesichts der verkitschten Arthouse-Larmoyanz nur noch mit Irritation begegnen. Sei dies nun der erste Schritt zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung oder Ausdruck seiner Empathielosigkeit: In diesem Fall sollte er recht behalten.
Sven Jachmann
Adrian Tomine: Halbe Wahrheiten, 104 Seiten, Reprodukt 2008, 13 EUR