22. Oktober 2003

Schneller als die Gegenwart

 

Es stimmt einfach, dass die Welt in gewisser Hinsicht ärmer wird durch den gesellschaftlich-technologischen Wandel. Bestimmte Verbrechen zum Beispiel können in einer späteren Zeit so nicht mehr stattfinden, wie sie einmal möglich waren. Uhren bleiben beispielsweise nicht mehr stehen, oder Frauen haben dadurch, dass auch sie berufstätig sind, nicht mehr so viel Zeit zu Müßiggang, der sie auf abwegige Gedanken bringt. Der paternalistische Ton der Ehemänner fällt weg ebenso wie die resignative Note im Gefühlsleben beschäftigungsloser Ehefrauen. Verfasser von Kriminalgeschichten haben deshalb auch weniger Möglichkeiten, durch ihr Eindringen in eine solche Konstellation, etwa dadurch, dass sie den Liebhaber abgeben, noch das auszulösen, was ihnen ihrer nächsten Geschichte zuträglich sein könnte. Und wenn der Charme und die Eleganz und die Haltung damaliger Täter in heutiger Zeit von Betroffenheitsritualen oder Härtegesten abgelöst sind, dann ist man ganz bezaubert von der Tatsache, dass einstige Verbrechensabläufe auch noch anderes zu Tage fördern als die Blutspur, die zum Mörder führt.

Aus dieser Perspektive ist es zum Beispiel falsch zu behaupten, dass erst das digitale Zeitalter uns mit Geschwindigkeiten beglückt, die uns den Atem verschlagen. Wie rasant in diesem Film ein von seinem Weg abgekommenes Verbrechen umgeschrieben wird, weil derjenige, der dafür verantwortlich ist, die Kleinigkeit unbeachtet ließ, dass Uhren, die man aufziehen muss, auch stehen bleiben können, sodass man sich wahnsinnig anstrengen muss, um die Zeit wieder einzuholen, das hier vorgeführt zu bekommen, ist umso beeindruckender, als man als Zuschauer zwar die Anstrengung sieht, sie einen aber vorführt in dem Sinne, dass man selber keine Chance gehabt hätte, diesen „Moment des Schließens“ so genial zu benutzen wie eben der alerte Tony. Wir sind eben sehr weit entfernt von solchen Obsessionen wie dem des perfekten Verbrechens. Und wir haben ein stilles Vergnügen an dem für den Krimiautor Mark als Verfasser von Geschichten konsequenzlosen Spruch, dass das Leben doch immer für Überraschungen gut ist, gerade weil wir uns darüber klar sind, dass das auf unser Leben am allerwenigsten zutrifft. Wir messen, überprüfen, vergleichen, lassen rechnen, schreiben fleißig auf, und befinden uns plötzlich in der seltsam bekannten Lage, die wir als die der Archivschnipsel einklebenden Margot gezeigt bekommen. Eine nur selten abschüttelbare Lethargie hat von uns Besitz ergriffen, und die allerwichtigste Figur ist uns abhanden gekommen, nämlich die, die wir noch betrügen könnten. Jede Figur läuft herum mit einem Band, auf dem geschrieben steht, an wen man sich als verantwortlichen zu wenden habe. Allein es gibt auch keinen Inspektor mehr, der uns mit einem aufmunternden Blick unsere Unschuld beglaubigen könnte. Wir haben definitiv Platz genommen auf der anderen Seite des Kammerspiels, dem wir eine Träne nachweinen und das wir uns immer wieder vorführen müssen, um zu merken, dass wir noch da sind.

 

Dieter Wenk

 

Alfred Hitchcock, Bei Anruf: Mord, USA 1954