3. August 2008

Flic am Spieß

 

Zumindest dem Namen nach dürfte „Themroc“ auch jüngeren Cineasten bekannt sein. Vor Kurzem lief der Film mal wieder im intellektuell angehauchten Sender Arte, allerdings zu einer Zeit, der die arbeitende Bevölkerung ausschloss – ein Schelm, wer böses dabei denkt! Im Gegensatz zu anderen Werken aus derselben Zeit scheint sein anarchistisches Potenzial auch heute noch zu bestehen und könnte auf die staatstragende Arbeitsethik zersetzend wirken.

 

Im Zuge der Befreiung aus den muffigen Verhältnissen innerhalb der 1960er Jahre, die unter dem Schlagwort „1968“ derzeit massiv in die Kritik geraten sind, entwickelte sich ein Widerstand gegen die verkrusteten autoritären Verhältnisse der Nachkriegszeit. In dieser Atmosphäre des (sich schon wieder legenden) Aufruhrs drehte der eigenwillige Claude Faraldo seine Epiphanie als günstigen Film, der aus Sicht der bildungsbürgerlichen Kritiker in keine Kategorie passte und deshalb von diesen nicht verstanden wurde. Beim Publikum jedoch kam er prächtig an und fand rasch seine Fans, was ihm auch Preise einbrachte. Auf dem Festival des fantastischen Films im französischen Avoriaz wurde Michel Piccoli 1973 als bester Schauspieler ausgezeichnet, während der Film selbst den Sonderpreis der Jury erhielt. Und Michel Piccoli ist auch der Grund, weshalb „Themroc“ heute noch präsent ist ...

 

Der Ausnahmeschauspieler grunzt, brüllt und schnauzt sich durch die Hauptrolle des farbigen Films, in dem kein Dialog im üblichen Sinne stattfindet: Von seiner weinerlich fiependen Mutter getriezt, hockt ein mies gelaunter Malocher frühmorgens vor seinem frugalen Frühstück, putscht sich mit Kaffee auf und wirft lüsterne Blicke auf seine nackt schlafende Schwester. Bald darauf verlässt er seine kleine Hinterhofwohnung auf seinem Rad. Seinen Kumpel trifft er auf der Straße, an den er sich solidarisch anlehnen kann. Auf dem Bahnhof geht’s in den überfüllten Pendlerzug, dann in die Fabrik. Durch verschieden farbige Overalls wird die Belegschaft gespalten, sodass es schon während des Umziehens zur ersten Prügelei zwischen den Arbeitern kommt. Dann folgt die trostlose Arbeit, bei der die wenigen Frauen in der Verwaltung begehrte Sexualobjekte sind. Unser namenloser Arbeiter flirtet bei seinem dumpfen Job mit einer der Sekretärinnen und kommt dadurch einem Rivalen ins Gehege. Der entledigt sich der Konkurrenz durch einen kurzen Prozess, indem der Patron den Arbeiter feuert. Allein verlässt dieser die Fabrik, wobei sich seine jahrelang angestaute Aggression Bahn bricht: Der fürchterlich gereizte Namenlose wird zu Themroc, einer tierischen Gewalt, und kehrt ehrerbietend fauchend auf den Schienensträngen der Metro nach Hause zurück, wo er aufräumt. Von einer Baustelle holt er sich Steine und Zement, um sich im Wohnzimmer einzumauern, dann nimmt er den Vorschlaghammer, haut die Mauer zum Hinterhof weg, entrümpelt die gesamte Einrichtung und schläft mit seiner Schwester. In der kleinen Nachbarschaft mischen sich Entsetzen, Bewunderung und sexuelle Lust für den kompromisslosen modernen Höhlenmenschen, und eine von ihnen versucht es, ihm gleichzutun. Doch bald rückt eine Sondereinheit der Polizei, die CRS an, um die gewohnte Ordnung mit Megafon, Feuerwehrleitern, Waffengewalt und Maurern wieder durchzusetzen. Vergeblich. Themroc begegnet der Herausforderung, indem er die Flics jagt und fröhlich am Spieß grillt. Der Aufruhr breitet sich aus, bis aus mehr und mehr Quartieren das Themroc’sche Brüllen über die Wohnblöcke der Banlieue dringt.

 

Als Parabel eines Aufmüpfigen verweigert sich „Themroc“ dem klassischen Erzählkino à la Hollywood. Der Ausbruch aus dem bedrückenden Alltag steht jedoch in der langen, einer in Europa verankerten Tradition sozialromantischer Utopien, in denen Outsider, Underdogs und Nonkonformisten gefeiert werden. In dieser Hinsicht ist Themroc der böse Bruder des scheinbar harmlosen Monsieur Hulot. Denn wie Faraldo legte auch Jacques Tati mehr Wert auf die Komposition der Bilder und die musikalische Qualität als auf möglicherweise platte Dialoge. Aber diese Tradition reicht weiter zurück – bis zu Charlie Chaplin.

 

Der in den übergroßen Schuhen des Tramp berühmt gewordene Einwanderer aus Großbritannien war ja nicht nur Schauspieler, sondern gehörte mit Mary Pickford und Douglas Fairbanks senior zu den Gründern von United Artists, damals ein Independent-Studio. Hier konnte er zum Autor seiner Werke werden, weil er nicht nur die Hauptrolle spielte, sondern auch Drehbuch, Regie und mit dem Durchbruch des Tonfilms Musik und Tonspur verantwortete. Chaplin mochte die Talkies nicht, sah in ihnen eine Bedrohung, der eine entstehende Kunstgattung, der Stummfilm, zum Opfer fiel, also verweigerte er sich in seinen frühen Tonfilmen den Konventionen. Während er Geräusche und Musik gezielt einsetzte, begrenzte er Dialoge auf ein Minimum und brachte den Inhalt durch eine künstlich verknappte Sprache zum Klingen. Jost Hermand arbeitet die Finessen dieser bloßstellenden Sprachpantomime in seinem Essay zu „The Great Dictator“ heraus. Doch die Traditionslinie zu „Themroc“ reicht über Formalien hinaus und bezieht inhaltliche Kontinuitäten mit ein. Chaplin plante 1935 einen abendfüllenden Stummfilm, der den Titel „The Masses“ tragen sollte, womit er deutlich auf den Titel der monatlichen Zeitschrift der KPUSA anspielte, die „New Masses“ hieß. Im kreativen Prozess veränderte sich der Stoff, aus dem dann „Modern Times“ wurde. Zu den emblematischen Szenen, in denen Arbeit ad absurdum geführt wird, gehören ja die Szene am Fließband, der in den rollenden Zahnrädern gefangene Arbeiter und die groteske Fütterungsmaschine. Sowohl „Modern Times“ als auch „Themroc“ entlarven den Slogan von der eingeforderten Leistung als hohle Pathosformel hinter der sich andere Interessen verbergen, nämlich Herrschsucht und Machtgeilheit, Neurosen und Gewalt. Bei „Themroc“ wird das Spektrum um Sex ergänzt: Was sich der Patron und sein Hofstaat in der Verwaltung mit dem Sicherheitsdienst der Fabrik, der CRS und der Infrastruktur sichern, genau das nimmt sich Themroc als charismatische Bestie.

 

Weniger leicht erkennbar sind andere Einflüsse aus der europäischen Film-, Literatur- und Comicgeschichte. In ihrer episodischen Struktur erinnert „Themroc“ an Jean Vigos „Zéro de Conduite“ – „Betragen ungenügend“ von 1933, der schildert, wie die Zöglinge eines Internats erfolgreich revoltieren. Dass Piccoli kurz darauf zum Starring im Spätwerk des Surrealisten Luis Buñuel gehört, erscheint mir nur folgerichtig, da auch hier eine scheinbar realistische Oberfläche über die subversive Struktur hinwegtäuschst. Der erotisch attraktive Anti-Gentleman Themroc erweist sich hier als Bruder der intelligenten Gangster der italienischen Giallo-Tradition, die sich mit dem König des Schreckens, Diabolik, auch im Fumetti (also im italienischen Comic) etablierte. Wie dieser wird er vom weiblichen Teil der Bevölkerung angehimmelt, ist der Staatsmacht überlegen und setzt sich nonchalant über Gesetze hinweg. Im Gegensatz zum Helden der Fumetti neri geht Themroc nicht sublim vor, sondern drastisch.

 

Aber Piccoli ist bloß eine der drei Komponenten, die „Themroc“ zu einer überzeugenden Anklage machen. Die zweite ist der am 30. Januar diesen Jahres verstorbene Regisseur und die dritte die restliche Besetzung, die aus einem einheitlichen Ensemble besteht. Obwohl es auch im deutschsprachigen Bereich zahllose Kritiken (im Internet) gibt, fehlt ein Hinweis, für den allerdings Kenntnisse der französischen Kultur notwendig sind. Die übrige Besetzung besteht nämlich aus einer 1969 gegründeten Truppe junger Schauspieler, aus der sich in den 1970er Jahren die neuen Stars des französischen Kinos rekrutieren sollten, darunter z. B. Gérard Depardieu (der hier nicht mitspielt). Diese Truppe, Café de la Gare, wurde von Romain Bouteille gegründet und geleitet, der den Patron und den CRS-Chef spielt. Neben der Leinwandschönheit Miou-Miou (später bekannt durch „Die Polizistin“) müssen hier Coluche und Patrick Dewaere erwähnt werden. Bis er 1982 mit 35 Jahren Selbstmord beging, war der leicht depressive und extrem sorgfältige Dewaere der schauspielerische Jungstar und der Überflieger des französischen Kinos. Nach seinem Tod wurde der Preis für den besten männlichen Nachwuchs-Schauspieler von Prix Jean Gabin in den Prix Patrick Dewaere umbenannt. In seiner Rolle beim CRS-Kommando fällt er in seiner Rüstung nicht weiter auf, aber als Maurer liefert er mit Piccoli ein zeitloses Kabinettstückchen ab. Die Choreografie mit Stein, Zement, Maurerkelle und den Fingern der beiden Antagonisten glänzt in ihrer (homo)erotischen Lässigkeit, die zum Vorspiel für den Seitenwechsel des Maurers wird und wohl fließend in eine Gruppensex-Orgie mit Themroc und seinem Harem übergehen wird. 1986 verstarb auch Coluche, der den kugelbäuchigen Nachbarn spielt, der von seiner Frau aufgefordert wird, ihr Idol Themroc nachzuahmen und die Wohnung auszumisten. Die kleinbürgerliche Haltung des „Wasch mich, mach mich aber bitte nicht nass!“ verkörpert er genial, wenn er mit dem kleinen Hammer zaghaft auf Holz klopft und sich schon als Rebell fühlt. Dass der Komiker persönlich gegen die bestehenden Verhältnisse war, wurde klar, als er 1980/81 als unabhängiger Kandidat für den Posten des Präsidenten der Grande Nation kandidierte und rasch 16 % in den Umfragen erhielt. Nachdem er Morddrohungen erhielt, zog er allerdings seine Kandidatur zurück.

 

„Themroc“ ist feinsinniger, als der erste Eindruck glauben lässt, und die vom Publikum eingeforderten Anstrengungen werden mit schwärzestem Humor vom Feinsten vergütet.

 

Britta Madeleine Woitschig

 

Themroc, Frankreich 1972, Drehbuch und Regie: Claude Faraldo, FSK: ab 16, mit Michel Piccoli, Miou-Miou, Coluche, Patrick Dewaere

 

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