6. Juli 2008

Abbiegen, hinter sich lassen, zurückkommen

 

Man stutzt zunächst: Das soll ein Roman sein? Etwas über 80 Seiten lang, 24 Zeilen pro Seite, also der großzügig angelegte Satzspiegel vieler „Éditions-de-Minuit“-Produktionen, nicht zu vergessen die Großabsätze, die Mallarmé’sche Umkehrverhältnisse von Schwarz und Weiß erzeugen. Ein Gutteil des Texts nehmen Dialoge ein, die typografisch als solche nicht gekennzeichnet sind. Bleibt da überhaupt noch Zeit zum Erzählen? Nach der Lektüre von Bambi Bar weiß man: Auch in scheinbar kleinen Tümpeln taucht es sich ausgezeichnet. Alles eine Frage der Ökonomie und einer klugen Infrastruktur. Wie oft rutschen in Großromanen nicht ganze Textblöcke weg wie Beuys’sche Fettklötze, die man nicht genug gesichert hat oder die den Aggregatzustand wechseln und im Rinnstein versickern.

 

Auf den also gerade mal vielleicht 50 Seiten veranlasst uns Ravey, ein paar Mal die Laufrichtung zu wechseln und Urteile über das Erzählpersonal und das Textgenre zu revidieren. Der Erzählton ist knapp, ohne dass man an Beckett denken muss. Der Leser ist ein Nomade vielleicht nicht unbedingt in der Wüste, aber doch in ungesichertem Gelände. Und plötzlich taucht eine Oase auf. Und wenn man davor steht, merkt man: Nein, man muss noch mal weiter ziehen. Der Ich-Erzähler ist ein gewisser Léon Rebernak. Ravey stellt ihn uns gleich vor als jemanden, der vermutlich etwas zu verbergen hat. Und das teilt uns Ravey nicht dadurch mit, dass Rebernak Besuch von der Polizei bekommt, sondern durch ein Detail, das man fast überliest und dessen volle Funktion man erst nach Beendigung des Romans erfasst. Außerdem schafft es der Ich-Erzähler, sich als gar nicht mal so sympathische Figur zu präsentieren. Der Leser ist sofort auf der Seite der beiden ermittelnden Polizisten, die aus Film und Fernsehen bekannt sind. Leicht überzogene Höflichkeit und Bauernschläue. Aber ob ihnen das etwas nutzen wird?

 

Viel sympathischer wird Rebernak nicht, wenn wir erfahren, dass er gern mit seinem Fernglas eine bestimmte Wohnung auf der anderen Seite der Straße absucht. Da wohnt eine Frau mit ihrer jungen Tochter. Wie alt? Es gibt keine genaue Angabe, aber es reicht, um den ganzen Lolita-Komplex aufzureißen. Spätestens ab hier kann der Leser selbst zum ermittelnden Polizisten werden, denn der Wachtmeister und sein Kompagnon lassen ihn ganz allein. Und auch Rebernak scheint noch etwas anderes zu interessieren als Heizungsinstallationen und kleine Mädchen. Er ist Agent in eigener und fremder Sache und beginnt, unschöne Dinge aufzudecken. Die beiden Frauen, Mutter und Tochter, wohnen über einer Peep-Show. Sie scheinen dabei nicht ganz unbeteiligt zu sein. Aber was genau geht da vor? Wer ist dieser Maurice, und was hat es mit dem Besitzer der Bambi Bar, Valério, auf sich? Die Lakonie und Gemächlichkeit des Romananfangs wechselt am Ende zu einem dramatischen Furioso. Nicht, dass auch hier Ravey uns über das Versatzstückhafte des Erzählten in Unkenntnis ließe, aber es gelingt ihm, das Finale uns so genießen zu lassen, als wäre es das erste Mal. Und was noch besser ist: Auch nach dem Happyend muss der Leser noch mal auf Start zurück, denn da sind noch ein paar Fragen offen.

 

Dieter Wenk (07-08)

 

Yves Ravey, Bambi Bar. Roman, Paris 2008 (Les Éditions de Minuit)