Einer hört immer mit
Die Surrealisten gründeten zwar u.a. eine Zeitschrift mit dem Furcht einflößenden Titel „Minotaure“ (menschenfressendes Ungeheuer auf Kreta), aber der von allen heiß ersehnte „acte gratuit“, also die spontane, vor nichts zurückschreckende Tathandlung, blieb mal wieder nur frommer Wunsch auf Papier. Man war fasziniert von Gilles de Rais, und als die Papin-Schwestern Anfang Februar 1933 zum Messer griffen, machte man sie gleich zu Märtyrerinnen ihrer eigenen Ideologie. Die Richter sahen das freilich anders. Sie warfen Léa und Christine Papin vor, vorsätzlich ihre Herrin, bei der sie als Dienstmagd arbeiteten, und deren Tochter auf bestialische Art und Weise umgebracht zu haben. Obwohl hereditär schwerst belastet, beurteilte man sie als voll zurechnungsfähig und verurteilte die eine zum Tod, die andere zu lebenslanger Haft.
In den 50er Jahren griff Jean Genet das Thema auf und schrieb ein Theaterstück mit dem schlichten Titel „Die Zofen“ (Les bonnes, was im Französischen ja auch „Die Guten“ heißt). Bei Chabrol ist von dem Paar nur noch ein Dienstmädchen übriggeblieben, Sophie (Sandrine Bonnaire), die aber im Laufe des Films Verstärkung bekommt in Gestalt einer zwielichtigen Postbotin, Jeanne (Isabelle Huppert), der man nie nachweisen konnte, ihr Kind fahrlässig getötet zu haben. Auch Sophie hatte schon einmal Schlagzeilen gemacht, ihr Vater kam bei einem Wohnungsbrand ums Leben … Aber das interessiert Chabrol natürlich überhaupt nicht, weder der eine noch der andere Fall werden noch einmal aufgerollt. Allerdings ist jetzt verständlich, warum Sophie Analphabetin ist (die Tochter von ihrer Arbeitgeberin sagt, als sie das entdeckt, sehr schön: Dann haben Sie also Dyslexie?!) und warum Jeanne kaum Freunde hat. So tun sich die beiden zusammen. Und im eigentlichen Zentrum der Aufmerksamkeit steht eine ziemlich reiche Familie, die zwar noch lebt – immerhin beschäftigt sie Sophie – dies aber fast nur noch auf dem Papier. Die beiden Kinder haben nicht die gleiche Mutter, der Sohn ist ein kleiner Psycho, die Mutter führt eine Galerie, aber die benutzt sie nur, um dort ungestört ihre Liebhaber zu empfangen.
Chabrol lenkt also mal wieder einen „bösartigen Blick“ hinter die „Fassaden“ der (groß)bürgerlichen Gesellschaft, die sich zwar von ganz alleine zerlegt, aber eine Meisterin ist im Führen von Schattenexistenzen. Aus dem Schatten wollen Sophie und Jeanne heraus, wobei Jeanne die Führungsrolle übernimmt und als Katalysator fungiert. Jeanne ist die Erzfeindin des Herrn des Hauses, der ihr auch bald Hausverbot erteilt, nachdem er mitbekommen hat, dass Sophie die verhasste Person empfängt. Dann überstürzen sich die Ereignisse. Die Tochter erfährt, dass sie schwanger ist (das kriegt Sophie mit), die Tochter merkt, dass Sophie nicht lesen und schreiben kann (was sie bis dahin verbergen konnte, nicht aber das Trauma, was sich damit verbindet), die Tochter beichtet ihren Eltern, spricht von Sophies Erpressungsversuch, Sophie wird entlassen. Dann wollen Sophie und Jeanne eigentlich nur noch die Sachen von Sophie aus dem Haus holen, und dabei passiert es dann. Die beiden haben Lust auf ein bisschen Verwüstung, Gewehre liegen rum, man spielt mit ihnen, dann taucht der Hausherr auf – und bumm bumm. Der erste Streich, der Rest der Familie folgt.
Der Film hat eine lustige Pointe: Die Wahrheit des acte gratuit besteht nicht länger mehr in der Tat handelnder Personen, sondern in der unfreiwilligen Dokumentation technischer Aufzeichnungsgeräte. Es ist, als hörte man noch das ferne Echo des komischen Spruchs der Schwestern Papin, bevor sie sich nach der Tat friedlich zu Bette begaben: „Das ist ja eine schöne Bescherung!“
Dieter Wenk
Claude Chabrol, Biester, D/F 1995