26. Juni 2008

Dialektik des Zivilisationsprozesses

 

Zieht man die unisono sich im Tonfall der Begeisterung überbietenden Stimmen zu Alan Moores neustem Werk zu Rate, könnte der Eindruck entstehen, es bestünde ein informeller Zwang, sich moralisch zur Pornografie zu positionieren. Denn „Lost Girls“ ist ein pornografischer Comic, daran besteht kein Zweifel. Es sollte allerdings ebenfalls kein Zweifel daran bestehen, dass Pornografie durchaus künstlerisch ambitioniert sein kann: für den Comic erledigt dies sehr elegant Guido Crepax, beim Film sei nur auf die frühen Avantgardisten Gerard Damiano und Gregory Dark verwiesen, ja selbst der Spießer lässt sich mittlerweile behände durch Feuchtgebiete navigieren und lernt sein Smegma lieben.

Insofern bietet „Lost Girls“ keinen Anlass zur Irritation. Vielmehr zeigt seine Veröffentlichung wie positive Aufnahme, jetzt, wo sich der genitale Diskurs auch mal Butter bei de Fische zu sagen getraut, dass eine seriöse, wenn auch etwas verschämte Beschäftigung mit Sex in einem Medium, das in vielen Kreisen ohnehin per se des Schmuddels verdächtig ist, durchaus möglich ist.

 

Moore bleibt seinem Sujet treu: Strukturvorgaben und Motivkomplexe eines Genres werden verschoben, die Variation narrativer Standards entblößt die Ideologie hinter den Geschichten. Mittel hierzu ist meist das Spielen mit der Symmetrie, sei dies nun Plotkonstruktion, Figurenkonstellation oder Panelanordnung. „Watchmen“ und „The Killing Joke“ betonen den faschistoiden Kern der Gewalt der Superhelden, in „Big Numbers“ ist es die strukturelle Gewalt der Politik und Architektur, die die Beziehungen der Menschen zueinander vergiftet und in „Lost Girls“ nun ist es der Mythos einer befreiten Sexualität, die sich Norm und Moral entledigt hat, zudem in einem stets als männlich apostrophierten Genre.

 

Die Geschichte ist schnell erzählt: Drei Frauen unterschiedlicher sozialer Herkunft treffen sich Ende 1913 in einem österreichischen Hotel, entdecken Verbindungen in ihren sexuellen Fantasien und Erfahrungen und leben sie so lange aus, bis die Kriegswirrungen sie zur Abreise zwingen. Die Figuren sind an berühmte Kinderbuchklassiker angelehnt, die vor sexuellen Implikationen regelrecht sprudeln: „Alice in Wonderland“, „The Wizard of Oz“ und „Peter Pan“. Die Situierung des Geschehens wiederum ähnelt frappierend dem aus Thomas Manns „Der Zauberberg“. Dieses Setting nutzen Moore und Gebbie nun, um eine Art alternative Geschichte der Vorlagen über erwachende und unterdrückte Sexualität zu erzählen, die auch gleichzeitig die Geschichte eines ganzen Genres sein könnte. Inhaltlich wird keine koitale Spielart ausgelassen und auch die kategoriale Bedürfniszuweisung der Pornoabteilungen sind hier nicht zu finden: Die Homo- steht der Heterosexualität in nichts nach. Formal wird die Geschichte symmetrisch von Alice’ Spiegel eröffnet und beendet: wenn er dem Leser Impressionen der narzisstischen Alice kurz vor den Antritt ihrer Reise liefert und zum Schluss von tumben Soldaten zerstört wird. Die konturschwachen Buntstift-Zeichnungen der Figuren sprengen die Härte des pornografischen Korsetts, gehorchen aber gleichermaßen den Gesetzen der Symmetrie: Die Fantasien und Erinnerungen der Figuren werden stilistisch in den Panels und dem Seitenaufbau dem jeweiligen Charakter angepasst: ovale Spiegelformen für Alice, breites Scope-Format für die ländlichen Weiten von Kansas für Dorothy, expressionistische Einbrüche bei viktorianischer Formstrenge für Wendy.

 

An dieser Stelle kommt auch die Sub-Erzählung ins Spiel, die die Geschichte dieser Mädchen zu verlorenen werden lässt: Der Eintritt in die Moderne wird nicht bloß beständig in den Plot eingeflochten, er skizziert auch die Sexualität der drei Frauen. Umso freimütig sie auch die Fesseln des Puritanismus abzustreifen versuchen und sich immer tiefer in ihr sexuelles Utopia verlieren, desto strenger drückt sich der zivilisatorische Niedergang der Welt außerhalb des Hotels auch in ihrem Verhalten aus. Die Akte werden fordernder, rücksichtsloser. Das korrespondiert zwar mit dem von den Frauen proklamierten Abstreifen der Moral, kennzeichnet aber zugleich auch den Eintritt verborgener Herrschaftsmechanismen, die so ganz mit den Ideologien des Zeitalters im Einklang stehen. So instrumentalisieren sie beispielsweise ganz zweckrational den Sex, um dem Hotelier das Geständnis seiner pädophilen Neigungen zu entlocken. Zwar betont dieser stets die Fiktionalität und damit die Gefahrlosigkeit seiner Obsessionen, aber die Stimulans ist dahin. Beschämt verlässt er das Spielfeld. An Bruchstellen wie diesen, und es gibt derer so einige, gerät ebenso die instrumentalisierte Unvernunft an ihre Grenzen. Nicht zuletzt ihretwegen müssen die Figuren den Schauplatz den einfallenden Soldaten überlassen. Das Experiment ist ausgeschöpft und nicht mehr steigerungsfähig. Und auch den Leser dürfte mehr als wohlige Zufriedenheit befallen, wenn er unter der Hand die Dialektik des Zivilisationsprozesses angereicht bekommt. Dass dies im Gewand einer dennoch lustvollen, pornografischen Geschichte geschieht, zeigt nur, dass Moore nichts von seinem Ruf als einer der wichtigsten Comicszenaristen eingebüßt hat. Nicht zuletzt die bibliophile Aufmachung der sehr schön geratenen Edition dürfte nicht nur dem Comic, sondern auch dem Porno den einen oder anderen Einzug ins bürgerliche Wohnzimmer garantieren.

 

Sven Jachmann

 

Alan Moore/ Melinda Gebbie: Lost Girls, 336 Seiten, Cross Cult, 3 Bände im Schuber, 75 EUR

 

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