20. Juni 2008

Bestattungsunternehmen "Fun Home"

 

Es ist hoffentlich ein weiterer Schritt hin zur Veralltäglichung des Umgangs mit Comics, dass der Kiepenheuer & Witsch Verlag Alison Bechdels autobiografisches Opus Magnum ganz regulär in sein Literaturprogramm aufgenommen hat. Eine gewisse publizistische Aufmerksamkeit war der ersten Graphic Novel der Autorin und Zeichnerin, der intensive Arbeit an der langjährigen Heftserie "Dykes to watch out" vorausging, zumindest beschieden und das völlig zu Recht: Die tragikomische Coming-out-Geschichte ihres Alter Ego, die sich unglücklich mit dem Unfalltod ihres Vaters kreuzt, der sich zuvor ebenfalls, allerdings ungewollt, zu seiner heimlichen Homosexualität bekennen musste, ist schlicht und ergreifend ein meisterhaftes Lehrstück der originell eingesetzten Intertextualität. Und noch so manches darüber hinaus.

 

Z. B. eine ebenso aufschlussreiche Archäologie eines in Gänze unzugänglichen, bürgerlichen Charakters. Das Verhältnis der Kinder zu ihrem Vater genauso wie das der Eltern untereinander ist von verstörender Distanz geprägt. Annäherung erfolgt über den Umweg der Literatur; die sich daraus entwickelnden Porträts sind Bausteine der Erinnerungsleistung und des detektivischen Spürsinns Bechdels. Sie analysiert das Leseverhalten ihres Vaters und deutet hieraus die Ursachen seiner abwesenden Anwesenheit, die die Geschichte unentwegt zweifach thematisiert: als tatsächlichen Ausdruck seiner Unfähigkeit, Zuneigung zu zeigen, und als unleugbares Faktum seines Todes. Das titelgebende „Fun Home“ ist ein Kürzel des väterlichen Bestattungsunternehmens und gleichzeitig ironische Paraphrase des musealen familiären Refugiums, in dem scheinbar einzig die Entfremdung waltet. Voller Ehrgeiz und Hingabe restauriert Bechdels Vater noch den entlegensten Winkel des alten Landhauses, motiviert von einem Esprit europäischer Kulturbeflissenheit, der sodann von der Autorin als Gradmesser seiner Verdrängungsleistungen herangezogen wird. Wie viel Stephen Dadelus steckt in dem euphorischen Ulysses-Leser? Deutet die unscheinbare Notiz in Prousts Zeit weniger auf einen Unfall, denn auf freiwilligen Suizid hin? Auf eine letzte künstlerische Apotheose des eigenen Schicksals, dessen Fassade so hilflos wie posthum durchschaubar der Verschleierung der inneren Zwiespälte dienstbar gemacht wurde?

 

Die Fragen und Erkenntnisse, die sich während ihrer Recherchen zeitigen, setzt Bechdel in Zusammenhang mit ihrer eigenen Entwicklungsgeschichte. Dass sie hierfür popkulturelle wie literarische Referenzen einbindet, ist dann auch keine snobistische Präsentation des eigenen kulturellen Kapitals, sondern setzt die Gefühlsverschiebung mittels kulturalistischer Codierung fort, ganz so wie sie sozialisatorisch beständig vermittelt wurde. Die Emotion wird vermittelt über den Umweg der Literatur, die Kunst diktiert den Gefühlshaushalt. Das Resultat ist die Chronik einer Jugend bar jeder Nähebekundung, obgleich die gemeinsam unterdrückte Homosexualität als Scharnier für Vater und Tochter hätte fungieren können.

 

Nun offenbart sich die eigene Biografie dem Menschen oftmals als geschlossenes Narrativ. Kontingenzen werden ausgeschaltet und Zäsuren im Lebensabschnitt korrigierend in die Biografie eingebunden, sodass sie sich nachträglich in eine klare Entwicklungslinie einfügen, sich aber einzig dem Wissen um dem Ist-Zustand verdanken. Stilistisch verfährt Bechdel in zweierlei und sehr comicspezifischer Form mit dieser Konstruktionsleistung: Zum einen divergieren mit zunehmenden Geschichtsverlauf Wort und Bild, teils so stark, dass das Gezeigte der Erzählerinnenstimme regelrecht widerspricht. So mag das Bild zwar die Wahrheit der Erinnerung transportieren, könnte aber auch auf gegenwärtige Reflexionsfähigkeiten zurückzuführen sein. Und auch der schwarz-weiße Strich setzt diesen Modus kongenial fort: Die Schraffuren gleichen sich der Dringlichkeit und Intensität des Augenblicks an. Sequenzen unter freiem Himmel sind nicht selten ungenauer in Szene gesetzt, Hintergründe fallen weniger akkurat aus gegenüber Sequenzen im Familienheim, auf das sich so viele Erinnerungen beziehen. Gleiches gilt für die Konturen und Mimiken der Figuren, die mit der Kraft der Erinnerungen zu variieren scheinen. Auf diese Weise drängt der scheinbare Dokumentarismus des Autobiografischen immer wieder zu seiner Revision und entzieht sich der Inanspruchnahme einer absoluten Wahrheit. Somit offenbart sich „Fun Home“ nicht zuletzt auch als selbstreflexives Spiel mit den Möglichkeiten der eigenen Gattung, denn die Konstruktionsleistungen der Erzählerin sprechen gleichermaßen von den Konstruktionsleistungen des Rezipienten, der durch perspektivische Uneindeutigkeit behände seines eigenen Sicherheitsgefühls entrissen und auf die Evokation seiner Irritation verwiesen wird.

 

Bleibt abschließend also nur noch zu hoffen, dass dieses Buch dem Comic hierzulande zu einer größeren Nische innerhalb der Buchhandlungen verhelfen wird. Nach „Maus“, „Barfuß durch Hiroshima“, „Persepolis“ und nun eben „Fun Home“ sollte langsam ersichtlich sein, dass es an starken Werken nicht mangelt.

 

Sven Jachmann

 

 

Alison Bechdel: Fun Home, 240 Seiten, Kiepenheuer & Witsch, 19,95 Euro

 

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