12. Juni 2008

Paradoxien der Passion

 

Das Haus an der Côte d’Azur lässt sich leicht aus dem kollektiven Bildergedächtnis hervorblättern, wenn man sich an den Film auch nur vage erinnert: La Piscine. Eine Dreiecks- oder eher Vierecksgeschichte, deren Spannung sich am Rand eines mediterranen Swimmingpools aufbaut. Jean-Paul (Alain Delon) ertränkt nach einem nächtlichen Streit seinen Freund Henry (Maurice Ronet), Ex-Mann seiner Begleiterin Marianne (Romy Schneider) aus Eifersucht. Frankreich/Italien 1969.

Vilnius, Litauen, 2003: In der Nacht des 26. Juli schlägt der Rockmusiker Bertrand Cantat im Hotel Domina Plaza die Schauspielerin Marie Trintignant offenbar aus Eifersucht nieder. Er habe geglaubt, sie schlafe, behauptet er später, und führt in derselben Nacht lange Telefonate mit ihrem Bruder und Ex-Mann. Cantat fühlt sich von Maries Umfeld abgelehnt. Einen Arzt rufen er und Maries Bruder erst am nächsten Morgen. Marie Trintignant liegt im Koma und stirbt Tage später in Paris.

Einige Zeit danach. Der Drehbuchautor Gilles sucht auf Anregung eines Freundes für sich und seine Frau Cathy ein Haus in Ramatuelle. Aus ihrer Ehe ist die Luft raus. Gilles braucht einen Ort, um über die Trintignant-Cantat-Affäre zu schreiben. »Ich vermute, Sie kennen die Geschichte dieses Bungalows …?« – Der Makler. Auch irgendwie so ein Delon-Typ. Oder Belmondo? In der staubigen Hitze des steilen Küstenstreifens mischen sich Gilles’ Realitäten zum ersten Mal verräterisch. Gedankensplitter aus einer anderen Bewusstseinsschicht drängen in die Mietverhandlung. »Lassen Sie die Finger von meiner Frau.« – »Was haben Sie gesagt, Monsieur?«

Marie ist Marianne ist Cathy. Bertrand ist Jean-Paul ist Gilles – sie alle haben multiple Persönlichkeitsprofile, besonders in den Nebenfiguren zeigen sich Überschneidungen und Divergenzen zu den jeweiligen Spiegelbildern. Das nimmt ihnen ihr zufälliges Einzelschicksal. Es korrespondiert vieles mit vielem. Assoziationsketten. Ostermaiers Sprache erforscht die letzten Winkel im Netz der Begründungszusammenhänge – um ihnen zu entkommen. Aber zugleich ist diese poetische Sprache die allerkonkreteste, die nicht nur die Nähe der toten Marie in ihrem unschuldig weißen Sarg sucht und findet.

Wer liebt – solche Gedanken müssen sich anschließen –, unbekümmert, überwältigt und passioniert wie die vierfache Mutter Marie und der gar nicht mehr jugendliche Bertrand, der seine schwangere Frau darum verlässt, begibt sich in ein Menschheitsschauspiel, das Freiheitsgrade verschlingt: Die Handlungsmöglichkeiten drängen aufs tragische Ende zu. Und die alternativen Lebensmodelle, die Ostermaier vorfindet, versprechen kaum besseres Gelingen. Jean-Paul und Marianne – nur durch den Tod eines Dritten zusammengehalten. Gilles und Cathy: Leblos und erstarrt. Immerhin ohne sichtbare Zeichen von äußerer Gewalt.

Bertrand bindet sein Leben auf paradoxe Art an die Liebe zu Marie. Sein Totschlag kondensiert alles Geschehen auf einen Punkt, durch den sich fortan seine Welt erklären wird. Das Schwarze Loch in seiner biografischen Realität, ein Massepol, auf den jedes Wort zusteuert und dem alle Bedeutung künftig entspringt. Stärker als der Tod, heißt es an irgendeiner Stelle, ist diese Erinnerung. Tatsächlich gibt es für Cantat aus dieser Geschichte nur noch einen Ausgang: in den Mythos. In Frankreich setzte nach der Tat eine Welle der Verklärung dieser »amour fou« ein.

Ostermaier hält gleich weit Abstand von Empörung und philosophischer Distanziertheit. Er bringt die Sachen tatsächlich zum Schwingen. Eifer-Sucht: Der Eifer, mit wodkagetränkten Wortbatzen absolute Klarheit, ideales Verständnis und totale Nähe herstellen zu wollen. Nachts, erschöpft, im Hotel am Drehort. Irgendwas ist über die Leber gelaufen oder in den falschen Hals geraten. »Die Zeichen der Liebe sind ihrer Natur nach trügerisch. Nur der Tod ist es nicht.«

 

Ralf Schulte

 

 

Albert Ostermaier: Zephyr, Suhrkamp 2008, 222 Seiten, 17,80 €

 

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