9. Juni 2008
9. Juni 2008

Die Suche geht weiter

 

Wenigstens hat die französische Autorin ihren kleinen Roman nicht „Néopornographie“ oder „Postpornographie“ genannt. Heute weiß man immer noch nicht, was zum Beispiel Postmoderne oder Poststrukturalismus sind. Da hatte die „Neue Küche“ aus Frankreich noch mal Glück gehabt. Was wäre wohl auch eine Postküche? Die „Nouvelle Cuisine“ machte zwar nicht satt, aber man wusste, woran man war. Ob das für Pornografie – ob alt, ob jung – ebenso gilt, ist die Frage. Pornografie (tout court) macht nicht satt, aber weiß Mann, woran er dabei ist? Pornografisches könnte die Struktur haben: Das (etwa ein Bild oder ein Film) hätte es gewesen sein können, aber das war es nicht. Also weitermachen. Wie auch immer: Was könnte, analog zur Nouvelle Cuisine, der ent-quantifizierende Faktor der Pornografie sein auf dem Weg zu einer, ja warum nicht, „Neuen Sensibilität“? Eigentlich ein gar nicht mal so dämliches Projekt für Literatur.

 

Der „Nouveau Roman“ hatte sich diesbezüglich auf kleine Mädchen spezialisiert. Alain Robbe-Grillets Roman „Le Voyeur“ zum Beispiel lässt sich in Sachen Aussparung der wesentlichen Dinge kaum überbieten. Eine einzige Bohne (klein), ohne Beilagen, um das Küchenvokabular noch mal zu mobilisieren. Hier musste man einfach auf den/die nächsten Robbe-Grillet(s) warten, um selbst den Sparsamkeitsgrad der Neuen Küche zu erreichen. Einen anderen Topos bearbeitete der Schriftsteller Tony Duvert mit seiner „Paysage de fantaisie“, in der der faszinierende Hauch der Verwesung umgeht. Michel Houellebecq… nein, nicht Michel Houellebecq.

 

Also Marie Nimier. Sie taucht in ihrem eigenen Buch auf, und natürlich hat sie damit Probleme. Was sollen die Leute (Leser) sagen: Pornografie! „Le Figaro“ war 2000 nicht begeistert, als der Roman erschien (bislang ist er nicht ins Deutsche übersetzt). Aber eben, nachdem die Autorin in „La Nouvelle Pornographie“ einem Verleger einen Traum erzählt, in dem es um ein neues „revolutionäres“ Konsumprodukt geht (ein Bügelbrett!) und Sex mit dem Generaldirektor der dieses Produkt vertreibenden Gesellschaft sowie ominösen Feuerwehrleuten, riecht der Verleger Lunte und kreiert kurzerhand ein neues Genre: „Wir werden eine neue Strömung initiieren, Marie, etwas, das zur Pornografie in der gleichen Beziehung steht wie die neue Küche zur alten. Weniger belastend, nicht so soßig, einfallsreicher…“

 

Der Leser kann nun gar nicht anders, als eben diese Merkmale auf Nimiers Roman selbst anzuwenden. Stellt dieses reflexive Moment den Leser zufrieden? Es verwundert nicht, dass das Genre „nouveau roman“ im Text erwähnt wird, das bekannt ist für seine Spiegelfunktion der „mise en abîme“. Sogar Marcel Proust kommt vor (Prousts „Recherche…“ endet mit ihrem potentiellen Beginn), allerdings hier als amerikanischer Hund marcelproust, dessen Herrchen ihm, dem Hund, es qua tranquilizer quasi jede Stunde mit der Hand besorgt. Ja, auch Lacan hat Marie Nimier gelesen, und all diese vertrackten Sachen haben im ordinären Porno wirklich nichts zu suchen. Der Leser wohnt also dem Entstehen eines Buches bei. Marie erfährt hilfreiche Unterstützung durch ihre etwas schräge, aber sehr hübsche Mitbewohnerin Aline. Sie setzt den Feuerwehrmanntraum in die Wirklichkeit um. Immer wieder gibt es Abschweifungen, Digressionen, Erinnerungen, die vor allem den Körper (aber eben nicht so saftig und triefend) in Szene setzen.

 

Aber all das liest sich nicht wirklich zwingend, es sind gewissermaßen zu kleine Nummern, die da vor dem ja doch irgendwie brünstigen (haha) Leserauge aufklappen. Man sitzt oder liegt in Wartestellung, als ob noch etwas anderes geschehen müsste. Und es kommt, dieses andere. Und hat man es nicht schon ein klein bisschen geahnt? Die sehr sensible Erzählerin. Ihr Entzücken bei der Betrachtung gewisser Körperteile des Verlegers, gleich zu Beginn des Romans. Natürlich, Marie ist verliebt, und merkt es erst ganz spät. Und der Verleger selber, hat er diesen ganzen Blödsinn mit der Neuen Pornografie nicht nur erfunden, um Marie kennen zu lernen? Ein Happyend, nachdem man das pornografische Element als Macguffin durchschaut hat? Die alte Liebe also – als neue Pornografie? Nicht mehr: „Love is the new hard“, sondern: New porn is the old love.

 

Das ist aber nicht die letzte Volte, die der Roman schlägt. Es gibt für Marie eine böse Überraschung. Romanesk kehrt sie zu ihrem Romanerstling, „Sirène“, zurück, in dem es um den Selbstmord einer jungen Frau geht. Solche Figuren gehen zwangsweise über jede Form von Pornografie hinaus. Pornografisch lässt sich die mise en abîme (also das In-den-Abgrund-werfen) solcherart nicht buchstabieren. Immerhin, ein neuer Schreibauftrag ging ins Land: A la recherche de la nouvelle pornographie.

 

Dieter Wenk (06-08)

 

Marie Nimier, La Nouvelle Pornographie, Paris 2002 (Gallimard), 189 Seiten