2. Juni 2008

Nietzsche in Paris oder – Himmel und Hölle

 

J’admirais, je n’ai pas fini d’admirer, dans l’Evangile un effort surhumain vers la joie.

André Gide

 

 

Man müsste sich also Friedrich Nietzsche in unseren Tagen als Philippe Sollers vorstellen, oder genauer als den namenlosen Erzähler in „Une vie divine“? Das sollte kaum verwundern, denn Sollers ist einer der größten Einfühlungsliteraten der Gegenwart, zumindest jedoch ein überragender Anempfindungsartist. Der Leser hat häufig den Eindruck, der Mitgründer der Zeitschrift „Tel Quel“, später von „L’Infini“ sei mit einer Welt-Zeit-Seele ausgestattet, die es ihm erlaube, sich mit allen entscheidenden Momenten der Weltgeschichte kurzzuschließen. Vieles lässt sich dabei ganz wunderbar vergessen, die kleinen unschönen Dinge des Lebens; Sollers garantiert das ins Monumentale getriebene Preziosentum von Leben und Lesen. Rimbaud, Casanova, Vivant Denon wurden bereits in früheren Publikationen als Text-Lebens-Fundgruben ikonografisch präsentiert. Man könnte von Identifizierung sprechen, aber das Wort ist schwach. Viel eher nimmt Sollers die Idole mit zu sich hinüber. Er verwandelt sie in teleologische Gestalten, die unter heutigen Bedingungen Sollers inkarnierten (das Abschottungs- und Kristallisationsphänomen „Sollers“).

 

Was wäre logischer, als MN (also Monsieur Nietzsche, wie der verrückt gewordene Philosoph in „Une vie divine“ meist genannt wird), in die Ahnengalerie des Autors PS einzureihen, ist MN doch der Erfinder der grandiosen „ewigen Wiederkehr des Gleichen“. Also gut, man steht jeden Morgen auf, frühstückt, geht zur Arbeit oder bleibt zu Hause, isst zu Abend, schläft. Letztlich eine triviale Einsicht. Nicht das Was aber zählt, sondern das Wie. Aber musste man auf Nietzsche warten, um das zu erfinden? So versteht jedenfalls Sollers die ewige Wiederkehr. Das Glück kann überall erscheinen, vornehmlich aber in Oberitalien und Südfrankreich. Auratische Momente, die Zeit bleibt stehen, vielmehr: Man steht außerhalb der Zeit, und hier kann dann gleich die Ewigkeit ins Spiel kommen. Solche Stimmungen überkommen einen eher, als dass man sie herbeizaubern könnte. Natürlich ist die Umgebung nicht ganz unwichtig.

 

Sollers berichtet in „Une vie divine“ von MNs Sprung in die Zeitlosigkeit. Es ist das Ende des Jahres 1888. Das Datum scheint dem Autor, Sollers, so bedeutend, dass er gleich den gregorianischen Kalender, der fortan der „falsche“ genannt wird, abstellt und eine neue Zeit beginnen lässt. Über solche Aktionen hat Sollers sich früher eigentlich selber ziemlich lustig gemacht, über die französischen Revolutionäre etwa und die Einführung ihrer erheiternden Monatsnamen. Damit hatte dann Napoleon schnell Schluss gemacht. Was ist aber 1888 mit MN passiert? So etwas wie das geschenkte Glück eines vorbildlichen Lebens für die happy few (also die happy view). Totale Absentierung von der Gesellschaft, die man sein lässt (ach ja, Heidegger), um sie dennoch in allem zu verdammen und als plebejisch zu beschimpfen. Tage der absolut freien Gestaltung mit allen Reiseoptionen. Spazieren gehen, wandern, Texte rezitieren. Hin und wieder trifft man sich mit der einen oder anderen Freundin, liebt sich…

 

Der Sollers-geneigte oder auch -ungeneigte Leser merkt – man ist bei der Aufzählung schon bei Sollers selbst, seinem romanesken Kosmos, angelangt. MN und seine Liebhaberinnen? – das ist ein nicht geschriebenes Kapitel im Leben des deutschen Philosophen. Deshalb wird MN in diesem Roman vervollständigt. Er wird ver“sollerst“. Alles entspannt sich. Vor allem die Einstellung zur katholischen Kirche und ihrem Vorstand. Sollers war, wie man weiß, der beste Freund des polnischen Papstes. Mit dem deutschen besucht er bestimmt demnächst Mozart-Konzerte. Die Zeit ist lange vorbei, dass MN vom katholischen Irrenhaus sprach. Er fände im Vatikan Asyl. Als Irrer. Die Lieblingsstadt MNs wäre Paris, obwohl er sich zu Lebzeiten dort nie aufgehalten hat. Er würde Frankreich dabei helfen, wieder zur „grande nation“ zu werden (Sollers’ Rezept? Mit dem alten Saint-Simon und Voltaire in der einen, Baudelaire und Rimbaud in der anderen Hand; klingt ja auch ganz logisch). Schon in Nietzsches Schriften, wie man leicht nachprüfen kann, laufen die schwachen deutschen Wörter immer wieder – im Moment der größten gedanklichen Dichte – auf ein alles erhellendes französisches Wort zu (Ein Beispiel: „force“ statt „Stärke“ – da kann die deutsche Sprache wirklich eingepackt werden bei so viel französischem Überschuss). Nietzsche war Franzose, obwohl er ja eigentlich Pole sein wollte. Jetzt also lebt er in Paris und ist mit Ludi und Nelly zusammen (das sind seine beiden Freundinnen, mit denen er verkehrt). Oder ist das jetzt schon wieder der Erzähler? Oder Sollers?

 

Ein heiteres Spiel der Vertauschungen belebt den Roman. Wenn die Handlung nicht weitergeht, werden Zitate eingeflogen (Zitat-Schwärme). Aber welche Handlung? Und was wäre hier nicht (Eigen-)Zitat? Es geht in diesem Buch nicht mehr menschlich zu. Ein Übermensch hat zugeschlagen. Freigelegt werden dabei: Götter, Putten und Engelchen. Nichts Allzumenschliches sei mir nah. „Une vie divine“ ist beinahe eine Idylle im antiken Sinn. Ein Traum, ein Hauch. Auch ein Geruch und ein Klang. Das wichtigste Wort des Buches ist allerdings ein deutsches, es heißt Innigkeit. Es ist ein bisschen altmodisch, aber es charakterisiert doch ganz gut die in dem Buch anempfohlene Atmosphäre, denn geweckt wird sie nicht. Wer vermag schon die Sollers-Droge ganz und gar zu genießen? Sie ist einfach ein bisschen zu grob. In einem ganz anderen Sinn braucht man dies Buch aber auch gar nicht dazu, denn die von Nietzsche „halkyonisch“ genannte Stimmung hat die literarische Werbeagentur eines PS nicht nötig.

 

PS: Vergesst Berlin: „…glücklicherweise sind da die Bilder von Watteau, das am wenigsten Falsche dort… Man spürt den Wahnsinn dahinter, und zwar betoniert, betoniertes Pseudogedächtnis, die Hölle. Vergleichbar mit Moskau, die Hölle.“

 

Dieter Wenk (05-08)

 

Philippe Sollers, Une vie divine, Paris 2006 (Gallimard)