27. Mai 2008

Ganz nah

 

Die Malerin Cornelia Schleime hat eine Biografie, die geradezu prädestiniert ist, als Grundlage für einen modernen Deutschlandroman zu dienen. Schleime wurde 1953 in Ost-Berlin geboren und studierte von 1975 bis 1980 Grafik und Malerei in Dresden. Schon 1981 durfte sie nicht mehr in der DDR ausstellen, nach einigen abgelehnten Ausreiseanträgen konnte sie dann 1984 gemeinsam mit ihrem Sohn nach West-Berlin übersiedeln, allerdings blieben ihre gesamten bis dahin geschaffenen Werke zurück. Diese hat sie auch nie wiedergesehen. Der größte Schock kam jedoch, als sie Anfang der Neunziger Einsicht in ihre Stasi-Akten hatte und feststellte, dass sie jahrelang von ihrem besten Freund, dem Dichter Sascha Anderson, ausspioniert worden war. Wie verkraftet man einen derartigen, an Perfidie kaum zu überbietenden Verrat? Cornelia Schleime hat ihn in ihrer Kunst verarbeitet, außerdem einen Dokumentarfilm darüber gemacht bzw. machen lassen.

Jetzt hat sie einen Roman geschrieben. Dessen Hauptfigur heißt Clara, und die Parallelen zu Schleimes Leben sind unübersehbar. Zwar wird der Name Anderson nie erwähnt, ansonsten stimmt die Geschichte der Protagonistin mit der der Autorin überein. Anlass für den Roman war die Erkenntnis, wahrscheinlich erneut einem Stasi-Mann zum Opfer gefallen zu sein. Hier wiederholt sich die Geschichte, trotz mauerfreier Kulisse bleiben die Akteure gleich. Diesmal ist es ein Wetteransager aus der Nähe von Regensburg, den Clara in einer Partnerbörse im Internet kennen- und lieben lernt. Es gibt zwei kurze und heftige Begegnungen, dann verschwindet der Mann, der hier Ludwig genannt wird, ohne ersichtlichen Grund aus ihrem Leben. Anhand von Indizien versucht sie, eine Erklärung zu finden. Ludwig stammt wie sie aus Ost-Berlin, siedelte direkt nach der Wende in die bayrische Provinz um, davor existieren aber 25 Jahre in seinem Lebenslauf, auf die er nicht eingeht. Der Roman bietet hier letztlich keine Antwort auf die Frage, ob Ludwig damals tatsächlich für die Stasi gearbeitet hat, das ist auch nicht wichtig. Stattdessen geht es um die Frage, wie man nach einem Verrat, der viele Jahre der eigenen Biografie infrage stellt, mit der Möglichkeit umgeht, erneut zum Opfer geworden zu sein.

Schleimes Roman wurde in allen wichtigen Zeitungen rezensiert, dabei attestierten die meisten ihr sprachliche Ungeschicktheit im Umgang mit Metaphern, eine zu naive Erzählweise und noch allerlei weitere sogenannte Anfängerfehler. Das mag alles stimmen, die Tatsache, dass der Roman auf eine so breite Resonanz gestoßen ist, zeigt jedoch auch, wie wichtig das Thema ist. Fast 20 Jahre nach dem Mauerfall leben die Täter von damals immer noch unter uns, doch trotz Ost-Nostalgie und Unmengen von Filmen und Büchern, die sich mit dem Leben in der DDR befassen, fehlte bisher eine literarische Auseinandersetzung mit dem Leben nach der Wende und damit, dass es ebenso wenig wie 1945 einen Neuanfang gab, sondern nur neue gesellschaftliche Begebenheiten mit den alten Beteiligten, die mehr oder weniger in das System verstrickt waren und dabei vielleicht auch zu Tätern geworden sind.

Wie sehr die Erfahrung des Ausspioniertwerdens das eigene Leben und vor allem auch nachfolgende zwischenmenschliche Beziehungen prägt, zeigt Schleime trotz aller sprachlichen Mängel sehr eindrucksvoll. Und vielleicht gibt ihr Roman ja den Anstoß für weitere literarische Auseinandersetzungen mit dem Thema. Wünschenswert wäre es.

 

 

Katrin Zabel

 

Cornelia Schleime: Weit fort. Roman, 111 Seiten, Hoffmann und Campe Verlag 2008

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

amazon