Zurück auf Null?
In einer kleinen Fabel zum Glück des Tieres und des Menschen zwiespältigen Blick auf eben dieses Glück heißt es: „Der Mensch fragt wohl einmal das Tier: warum redest du mir nicht von deinem Glücke und siehst mich nur an? Das Tier will auch antworten und sagen, das kommt daher, dass ich immer gleich vergesse, was ich sagen wollte – da vergaß es aber auch schon diese Antwort und schwieg: sodass der Mensch sich darob wunderte.“ Zum Los des normalen Menschen gehören ein funktionierendes Kurzzeitgedächtnis und die Unfähigkeit zu Tabula-rasa-Zuständen. Gedächtnisstörungen haben schon immer interessiert – wenn Brocca- oder Wernicke-Aphatiker anfangen zu reden, gibt es entweder viel zu lachen, oder wir sind erschüttert von einer unüberwindlichen Schwierigkeit, die für uns unerträglich ist.
Wenn Aphatiker Leute sind, die die Dinge nicht beim Namen nennen können, dann gehört Leonhard, der Protagonist dieses Films, zwar nicht zu ihnen, weil er es kann, aber er kann es nur für eine extrem kurze Zeit. Danach wird es kein Problem sein, ihm ein X für ein U vorzumachen.
Die geistige, zur Schwindsucht neigende Restkapazität dieses Anti-Helden mit schickem Designeranzug und teurem Sportwagen kann es also nicht sein, die die eigenwillige Konstruktion des Films selbst bestimmt. Leonhard wird deshalb vorgeführt, und zwar vom Ende zurück zum Anfang, besser gesagt zu einem Einsatz, vor dem Ereignisse liegen, die der Film selbst nicht mehr einholt. Dem Zuschauer geht es dabei ein wenig wie dem Leser oder Zuschauer eines analytischen Dramas von Ibsen, der dem/den Protagonisten im Verlauf des Stücks immer mehr über die Schulter schauen kann, um am Ende eine Wahrheit in der Hand zu halten, die für die Figuren etwas Desillusionierendes hat, weil sie ihnen mindestens eine Maske vom Gesicht reißt. Analytisch verfährt „Memento“ in dem Sinne, dass der Film eine Reise in die Vergangenheit beschreibt, jede weitere Sequenz weiter zurückgeht, und die Sequenzen miteinander verknüpft sind durch identische Einstellungen. Das funktioniert so, dass sich das Ende eines Abschnitts überlappt mit dem Anfang dessen, der ihm vorhergegangen ist. Und der Zuschauer betrachtet Leonhard dabei, ob er alles richtig gemacht hat. Ob er am Ende (also am Anfang) den richtigen umgebracht hat. Den angeblichen Vergewaltiger und Mörder seiner Frau.
Die enorme Behinderung des Helden setzt der Analytik sehr enge Grenzen. Die allerdings der Zuschauer durch sein besser funktionierendes Kurzzeitgedächtnis erweitern kann. Eine Einsicht, die der Zuschauer dem Kranken voraushat, besteht darin, dass so genannte Tatsachen nur so viel Wert sind wie das korrekte Umfeld, das sie interpretiert. Wenn zum Beispiel mal kein Stift zur Hand ist, um ein wichtiges Ereignis aufzuschreiben und sich diese Kalamität jemand anderer zu Nutze macht, zu dem man Vertrauen hat, kann einem leicht eine „Tatsache“ untergeschoben werden, deren manipulativen Drall man nie wird bemerken können. Ab jetzt wird die Wirklichkeit anders funktionieren, weil sie anders vertextet wurde. Eine Tätowierung ist kein Wahrheitsbeweis, und das, was schwarz auf weiß auf den Fotografien von Bekannten und falschen Freunden steht, könnte auch ganz anders lauten. Leonhards Drama besteht darin, dass sich ihm die Wirklichkeit gewissermaßen tendenzfrei bietet, was „wir“ so niemals erleben, da wir die Wirklichkeit permanent mit unseren Vorurteilen durchlöchern, und seine Geschichte muss Leonhard sich paradoxerweise so zusammenbauen, dass er sie mit dem anreichert, was er die Fakten nennt. Er muss sich seine subjektive Wahrheit immer erst nachträglich besorgen, indem er Phänomene mit Texten vergleicht, die aber selber erst im Zuge dieser Phänomene und der Wirklichkeit entstehen.
Soweit Leonhard dieses System beherrscht, macht er in der Tat nichts falsch, aber natürlich ist alles ganz anders, und das System beherrscht ihn. Er wird benutzt, als Tötungsmaschine. Und vielleicht war er es ja auch, der seine Frau ermordete – die Schwarzweißsequenz über den Steuerberater wäre dann eine idealisierte Doppelgängergeschichte. Wie auch immer. Man ist schon erstaunt, gegen Ende des Films Leonhard in einer Rückblende mit seiner Frau zu sehen, und die zentrale Tätowierung steht schon da, um das Schlüsselbein herum, und der Hauptschlüssel will dann nicht mehr schließen – und öffnen. Aber wir müssen uns Leonhard als einen glücklichen Menschen vorstellen (die Klamotten, das Auto!!). Er ist derjenige, der immer einen Auftrag hat, und dieser bleibt immer so jungfräulich wie am Anfang, denn wenn er diesen Spruch im Spiegel liest, verblassen die anderen Zeichen, sind unlesbar, und alles kann von vorne losgehen.
Dieter Wenk
<typohead type=1>Memento, Christopher Nolan, USA 2001</typohead>