20. Mai 2008

Zahn am Auge, Nase um Haar

 

Der reichlich übersetzte und oft überschätzte "Doyen der amerikanischen Avantgarde" (Verlagsinfo) legt mit “Mein Körper in neun Teilen” ein eher maues Werk vor. Extrem narzisstische Betrachtungen der Haare, Nase, Zehen, Stimme, weniger des Geschlechtsteils, eines ausgebrochenen Backenzahns, der Augen, Hände und Narben ­sind die Ingridenzien, aus denen Raymond Federman ein Buch über (s)einen Körper formt – bis dieser als Textkörper für sich stehen soll.

 

Federman, der 1928 in Frankreich geboren wurde, überlebte als einziger seiner Familie den Holocaust, emigrierte 1947 in die USA, nahm am Koreakrieg teil und war später Lehrbeauftragter an der New York University. 1971 wurde sein erster Roman veröffentlicht. Seither entstand ein umfangreiches Werk, das in über 20 Sprachen übersetzt wurde. Federman wurde am 15. Mai 2008 80 Jahre alt, die amerikanische Ausgabe des Buchs erschien 2005.

 

Haarausfall ist sicher ein Problem, welcher Mann wüsste das nicht. Dass aber weit über 70-Jährige sich noch immer darüber beschweren, ist entweder eine fatale Verkennung biologischer Prozesse oder ein merkwürdiges Herunterspielen von Ereignissen ganz anderer Dimension. Dass Federman berechnet, ihm seien über 72100 Haare abhanden gekommen, er in den Betrachtungen seines Haarausfalls den Sommer ´68 und die Studentenunruhen in Paris einflicht, klingt in Kurzform unterhaltsamer, als es tatsächlich geschildert wird.

 

 

Wie so oft geht es Federman um die Brechung von Fiction, um das Verwischen der Spuren zwischen Wahrheit und Erfindung in (seinen) Texten. Ein Thema, das er immer wieder gerne aufgreift.

 

Zu viel Fantasie kann man in den Texten nicht entdecken. Eine Narbe, die Electra heißt, lässt ihren Namensgeber vielleicht in größerem Glanz erscheinen als eine, die Muff Potter genannt wird. Eine Frage der geistigen Verortung und des Angebens mit mythischer Allgemeinbildung, zu welchem Bildungssegment man da greifen mag.

 

Was auffällt ist, dass andere Menschen in Federmans Schilderungen und Anekdoten oft schlecht wegkommen und als “Arschlöcher” tituliert werden (der Zahnarzt, der Ex-Mann seiner Frau u. a.).

 

Michel Foucaults Vater soll es gewesen sein, der den gebrochenen linken Arm des vom Kirschbaum gefallenen Ich-Erzählers wieder richtete, “so dass Michel Foucault indirekt dafür verantwortlich war, dass ich gegen meinen Willen zum Rechtshänder geworden bin”. Diese Betrachtung wäre halb so intellektuell, wäre es einfach Goofys Großvater gewesen (hat der überhaupt einen?), der Hand an den Arm gelegt hätte. Will sagen: Raymond Federman kocht auch nur mit faulem Wasser. Wer sich auf das einlässt, was dasteht, was Text ist, und sich nicht durch den Aura-Körper des Autors, der sich über den Text legt plus eines Namedropping-Geklingels und Image-Aufwertungs-Gehabes beeindrucken lässt, erntet nicht viel außer Ernüchterung über einen koketten, selbstverliebten und zuweilen auch nervigen Erzähler.

 

“Der nächste Zeh, der Dritte von rechts, ist der Gelehrte. (…) Er quatscht mir was vor über Strukturalismus und Dekonstruktion und die russischen Formalisten. Er zitiert Plato und Aristoteles, Kant und Hegel, den hl. Augustinus, Descartes, Geulincx, Bergson und alle möglichen Denker. Sogar Jean-Paul Sartre.”

 

Wenn der nächste Zeh ein autobiografisches Gedicht vorträgt, das sich “ganz stark nach Rimbaud” anhört, wird es Zeit, sich mal wieder an die Füße zu fassen. Ganz persönlich. Mein großer Zeh schreit des Öfteren nach Befreiung und Revolte, nach Open-Air-Sandaletten und energischem Hopsen durch mentale Sumpfgebiete, nach Trockenlegung und grobporigen Elefantenhäuten.

 

Das Buch, das als “übermütige Achterbahnfahrt durch Federmans Leben und durch die Geschichte” angekündigt ist, entpuppt sich als langwieriges Kramen im Handschuhfach eines Oldtimers.

 

Dass Federman auch anders kann und konnte, bewies er u. a. mit “The voice in the closet” aus dem Jahr 1979, das zehn Jahre später als “Die Stimme im Schrank” dreisprachig im Kellner Verlag veröffentlicht wurde und ein meisterhaftes Beispiel an spannender, atemloser und experimenteller Literatur ist.

 

Carsten Klook

 

 

Raymond Federman: Mein Körper in neun Teilen, Matthes & Seitz Berlin 2008

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

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