18. Mai 2008

Antiikonisches Bild von Auschwitz

 

In „Ist das ein Mensch?“ versucht Primo Levi in Ermangelung inhaltlich besetzter Begriffe mithilfe der „Hölle“ dem Leser eine Ahnung zu vermitteln, was Auschwitz sei. Im „Roman eines Schicksallosen“ kehrt Imre Kertesz dessen metaphysische Bestimmung mit härtester Empirie in eine nicht mehr greifbare Rationalität, indem er seinen aus Auschwitz heimkehrenden Protagonisten die Zeit, zerlegt in all ihre Einheiten, aufzählen lässt, die das Lager veranschlage, was sein Gegenüber, einen investigativen Reporter, der über die Gräuel der KZs aufklären möchte und dafür beständig die Höllen-Metapher verwendet, hilflos wie lakonisch mit „Nein, das kann man nicht verstehen“ quittiert. Die Metaphysik legt sich also wie ein Schleier über die Rationalität; ihr Spielraum ist einzig, das vermeintlich Verständliche mit dem Verständlichen ins Unverständliche zu transformieren, und so, mit der gebrochenen Naturalisierung, der Gefahr der Mythologisierung zu entgehen.

Spiegelman verfährt in seinem, längst zum Klassiker avancierten und mit dem Pulitzerpreis geadelten Vorzeigewerk der neunten Kunst nicht unähnlich, auch wenn seine Literatur nicht der der Zeitzeugen, sondern der der zweiten Generation der Überlebenden zugehörig ist. Aber auch ihn plagt die Frage nach der Angemessenheit der Erinnerung an das, was als Nicht-Erinnerung später, wenn kein überlebendes Opfer die falschen Antworten mehr korrigieren können wird, die Geschichtsbücher umtreibt und zugleich, unwiderruflich, ikonischen Guss erlangt.

Eine ästhetische Frage gleichwohl, denn erst das umfassende Arsenal eines erklärenden Bilderkosmos erleichtert den Zugang zu dem Gefühl, verstanden zu haben und hieraus das Band der Mythologie zu spinnen: ausgemergelte Körper entindividualisierter Gesichter, ob in Schwarz-weiß oder nun auch in Farbe, die hochgestreckten Hände eines abgeführten Kindes aus dem Warschauer Ghetto, die froschperspektivisch angesetzte Sicht auf die Schienen ins Vernichtungslager, immer ein dann und wann wutschnaubender Führer: Das war Krieg, nein, das war Terror, aber vor allem war es: grausam, bald vorbei und, ja, schon falsch. Verstehen meint in diesem Zusammenhang, nicht mehr zu meinen als das lineare Zusammenspiel bösartiger Kräfte, deren symbiotisches Wirken zu schrecklichen Resultaten führte (und dass man bei der unheiligen Rede von den Opfern dieser Resultate hierzulande auf einen höchst dehnbaren Begriff stößt, gehört da nur zur Natur der Sache). Ein Schrecken wiederum, der sich durch eine doch zumindest quantitative Präsenz seiner Aufarbeitung ganz von selbst domestiziert hat und nun, mit einem geläuterten Blick, eine hoffnungsvollere Zukunft heraufbeschwört.

 

Es ist eben auch die ikonische Aufbereitung von Auschwitz, die das zuvor ausgesprochene „Ich verstehe“ des o. a. Journalisten begünstigt und eigentlich das des Lesers meint. Denn eines haben wir alle, die wir die Konzentrationslager aus gleich welchen Archiven erblicken, gemein: Wir sind Rezipienten von Auschwitz und somit in Permanenz einem Diktat der bildlichen Eindeutigkeit ausgesetzt. Der Nährboden hierfür speist sich aus dem Vertrauen gegenüber der Authentizität des Bildes, aus dem Versprechen, ein Momentum der Zeit zu erfassen, zu konservieren und daraus induzierend die Essenz des gesamten Komplexes zu begreifen.

 

Diese Vorannahmen sind wichtig, um Spiegelmans Melange aus Biografie und Autobiografie, um die Geschichte des Überlebens seines Vaters Wladek im okkupierten Polen und später im KZ und um Arts Versuch, dieses Überleben in Bilder zu übersetzen, ohne dabei die eigene Konstruktion auszuschalten, zu verstehen. Die comicspezifisch auf lange Tradition zurückblickende Methode Universalität zu erlangen, indem die Charaktere, im Falle von „Maus“ die verschiedenen nationalen Angehörigkeiten, mit Mitteln der Fabel fixiert werden, also Juden als Mäuse, Deutsche als Katzen, Polen als Schweine usw. gezeichnet sind, wird in „Maus“ zwar aufgegriffen, nicht aber aufgrund einer etwaigen medialen Angleichung, also einer Rezeptionserleichterung. Im Gegenteil. Die Rückversicherung dieser Tradition ist es erst, was das unentwegt stimulierte Reizempfinden einer angeblichen Unangemessenheit des gewählten Mediums gegenüber dem Sujet von Seiten der (doch vorerst zahlreichen) Kritiker beflügelte. Dabei kennzeichnet sie erst die Leerstelle dessen, was die Gefahr einer „richtigen Erinnerung“ meint: Die Maskierung der Figuren verweist durch die Erzähltradition des Mediums auf die Gewalt des nationalistischen Weltbildes und durch dieses Zusammenspiel rückbindend auf den Diskurs, der mit seinen Bildern der Eindeutigkeit dieses Weltbild sozusagen couragiert entschlüsselt wähnt. Dies ist nicht bloß in der Figur Art Spiegelmans selbst eingeschrieben, es ist auch in der, natürlich von Art eben diskursiv aufbereiteten Geschichte seines Vaters fester Bestandteil: Im Versteck vor den Nazis erschrickt seine Frau vor einer Maus; verlässt Vladek das Versteck, trägt er eine Schweine-Maske, um in der antisemitischen Öffentlichkeit unerkannt zu bleiben; fühlt sich ein Jude als von den Nazis fälschlich deklariert, besitzt er das Gesicht einer Katze, und sitzt Art grübelnd vor seinem Schreibtisch, befindet sich eine weitere Maus-Maske vor seinem Maus-Gesicht. Die Zuweisung der Masken folgt der Logik der identitären Zuschreibung der Nazis und bricht den Kern rationalistischer Universalität mit dem Versprechen auf Wahrhaftigkeit: Die Konstruktion des Verstehens fußt auf der Konstruktion einer Logik der Vernichtung, ihrer Übersetzung ins Reich der widerspruchsfreien Geschichte. Dies drückt sich gleichfalls in den Charakterzügen der beiden Hauptfiguren aus. Wladek ist ein Rassist und pathologischer Geizhals, bei dem nie vollständig ersichtlich wird, wie viel davon seinen Erfahrungen geschuldet ist. Art hingegen begegnet seinem Vater mit Empathielosigkeit, veröffentlicht Gespräche, von denen er versprach, sie unter Verschluss zu halten, und wähnt sich in Konkurrenz zu seinem von den Nazis getöteten Bruder. Die Charaktere sind so fragmentarisch aufgespalten wie die Seitenstrukturen: Viele Panels zeigen Körperteile des erzählenden Wladeks und bilden in ihrer Gesamtheit seine Gestalt, aber sie bleibt durch die Zwischenräume unvollständig. Ein fragmentarisches Geschichtsbild in gleich dreifacher Form: Wladeks Biografie wird gebrochen durch die Hand/die Augen seines Sohnes präsentiert; der filmische Erzählfluss der Bilder wird durch die comicspezifischen Mittel zum antiikonischen Bild von Auschwitz, weil er sich einem geradlinigen Zeitverlauf verweigert und durch die Wahl dieses Mittels seine eigene Konstruktion offen legt, und der aufklärerische Impuls dieses geradlinigen Zeitverlaufs wird seines Versprechens auf objektive und universale Wahrheit, seiner mythologischen Gefahr, enthoben, indem er erst diesem Konstrukt eine Annährung an die Wahrheit zugesteht, ohne sie dem Verstehen zu opfern.

Somit zählt Spiegelmans Werk zu den Erzähltraditionen derjenigen, die einzig in der Verweigerung von Bildern und Begriffen die Vermittlungsmöglichkeit einer Erinnerung ausgemacht haben, von Claude Lanzmann bis Imre Kertesz.

 

Deshalb, und nicht nur deshalb, ist es wichtig zu wissen, dass „Maus“ nun, nach Jahren der Nicht-Verfügbarkeit, in einer einbändigen Ausgabe vom Fischer-Verlag unter dem bescheuerten Titel „Die vollständige Maus“ neu aufgelegt wurde.

 

Sven Jachmann

 

Art Spiegelman – (Die vollständige) Maus, 296 Seiten, Fischer 2008, 95 Euro

 

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