8. Mai 2008

Soziale Plastik, heute

 

Eine Ausstellung von Luis Jacob

 

Er praktiziert interaktive, handlungsoffene Werkformen und nutzt dafür ganz unterschiedliche Medien. Der kanadische Künstler Luis Jacob verknüpft seine Arbeiten oft mit Aktionen und Veranstaltungen, macht sie zum Setting für Vorträge oder Brotback-Workshops, realisiert Sandwich-Partys im öffentlichen Nahverkehr oder Installationen auf städtischen Kinderspielplätzen. So entwickelt er seine Kunst in enger Anbindung an soziale Umfelder und versucht, Räume zu aktivieren, statt sie bloß zu besetzen. Damit knüpft er unter anderem auch an bestimmte künstlerische Haltungen an, wie sie in Kanada der 70er Jahren entstanden, etwa an die Projekte von Michael Morris und Vincent Trasov oder von General Idea. In seiner Ausstellung im Hamburger Kunstverein(1), die Meike Behm kuratierte, setzte Jacob diese Auffassung von Kunst als offenem und öffnendem Interaktionsrahmen ganz unterschiedlich und gleichsam unter Indoor-Bedingungen um, also im geschützten White Cube. Sie umfasste zwei große Installationen sowie eine Edition: Die eigens für Hamburg entstandene 160-teilige Bildfolge "Album VI" (2008) stellte den Auftakt dar – mit einer ähnlichen Arbeit, "Album III" (2007), nahm Jacob an der documenta 12 teil –, im zweiten Raum folgte die umfangreiche Installation "Habitat" (2005), die auch für den Titel der Gesamtschau Pate stand. Auch die begleitende Edition, ein C-Print mit dem schlichten Titel "Das Da" (2008), bezieht sich auf "Habitat", indem Jacob hier ein extravagant gekleidetes Model wie für ein Fotoshooting im Rahmen der Installation ablichtet.

 

"Habitat" ist so etwas wie eine Kreuzung aus Zeitmaschine und begehbarer Theaterbühne, Betrachter sind darin niemals nur passive „Betrachter“, sondern jederzeit auch mittendrin. Anhand von Formensprachen unterschiedlicher Wohnstile entwirft Jacob damit ein komprimiertes Nachbild jüngerer Vergangenheit – und zielt damit zugleich auf darin angelegte gesellschaftliche Überzeugungen und Utopien. Das skulpturhaft arrangierte, suggestive Wohnszenario aus 70er- und 80er-Jahre-Möbeln und -Accessoires umfasst eine stilistische Spanne, die von High-End-Objekten und Design-Ikonen bis zu Kitsch und Gadgets oder zeittypisch Banalem reicht. Das sorgsam ausgesuchte Material bildet den Fundus für ein ästhetisch exemplarisches Experiment, in dem es um die gestaltende Kraft des gestalteten Umfelds geht. Darauf spielt auch der im Titel aufgerufene Ausdruck an: Habitat, das meint dem allgemeinen Wortsinn nach ganz einfach Lebens- oder Wohnraum. Jäger und Verhaltensforscher etwa sprechen davon als angestammter Sphäre bestimmter Tierarten. Und wer von da aus an die gleichnamige populäre Möbelhaus-Kette denkt, liegt auch nicht falsch. Hier wie dort geht es ums Umfeld, in dem man sich einrichtet und das einen prägt, das sich über Korrespondenzen zu seinen Bewohnern definiert und insofern auch etwas über sie zu sagen weiß. Es liegt soziales Ausdruckspotenzial darin, das Jacob mit Habitat anzapft und weitergehend ausdeutet, indem er die gestalteten Objekte als gesellschaftlich imprägnierte Formen interpretiert und in der Inszenierung fürs Publikum verfügbar macht und quasi aktiviert.

 

In dem komplett fiktiven Einrichtungsszenario repräsentieren sechs thematische Tableaus einzelne Lebensbereiche. Das dichte Gefüge ist theatralisch ins Zwielicht getaucht, eine bühnenhafte Gegenwelt, durch die das Publikum sich frei hindurchbewegt und von den diversen Möbeln auch Gebrauch machen kann. Bevor man in die abgedunkelte, mit Spots und Lichteffekten inszenierte Sphäre eintritt, passiert man wie zum Auftakt eine aufgesockelte und kurios gemischte Vasensammlung, die dem Ganzen als ein leicht ironischer Prolog vorangestellt ist. Schon ab da wird deutlich: Jacobs Setzungen sind durchweg minimalistisch gehalten, weniger hinsichtlich formaler Reduktion als mehr im Sinne von Pointe. Von ihm präsentierte Konstellationen sind oft auf überraschende und unvertraute Weise stimmig – zugleich bleibt das Arrangement als Ganzes widersprüchlich und kaum einzuordnen. Denn was könnte das sein? Sicher keine Musterwohnung, und auch für die Museumsschau zu einer Stilepoche ist das Gesamtbild zu divers. Ohne dass das Setting näher zu benennen wäre, lässt es sich doch als Komposition aus gut gesetzten Widersprüchen lesen, als Konfrontation von Stilen, die sich zu eigenwilliger Schlüssigkeit verdichten und aus der Offenheit im Ganzen einen freibleibenden Verwendungssinn in Vorhaltung bringen.

Und „Verwendungssinn“ darf man hier wörtlich nehmen: Die meisten Arbeiten von Jacob basieren auf sozialer Interaktion, und auch in "Habitat" entwickelt er den Formgedanken nicht primär über Ideen von Skulptur oder Readymade, sondern entlang von Handlung, die aufs Benutzen, Besetzen und Begreifen der Objekte ausgeht. Genau genommen ist "Habitat" also eher eine Komposition aus Handlungsimpulsen und Haltungsvorgaben, die in den Objekten angelegt sind. Jacob fasst sie als sozial imprägnierte, realitätsgesättigte Formen auf, die er in seinen Settings aktiviert. Versteht man dies als sein eigentliches Material, dann wäre er ein im undogmatischen Sinne politischer Künstler.

 

Das vermittelt sich in Habitat teils spielerisch und unmittelbar körperlich. Man sollte die Installation nicht bloß mit dem Sehsinn durchlaufen, sondern kann sich unterwegs auch mal in einem Boulum Lounge Chair räkeln, an der Meditationsecke vor einer farbig illuminierten Buddhastatue auf tibetischen Kissen Halt machen, sich im Living Room auf stylisch-karge Gitterstühle setzen oder auf dem hippiesken Schlafsack zur Lektüre von "Understanding Human Behaviour" niederlassen. Wer das tut, der macht vor allem eines: Formerfahrung. Oft funktioniert das so direkt, dass Handlung reflektierendes Bewusstsein überholt. Jacob berichtet beispielsweise von Kindern, die sich spontan ihren Lieblingssessel aussuchten und den dann wie ein Spielgerät erprobten. Oder von jener Besucherin, die mit knappem Abendkleid versehen im Lounge Chair versank und beim Versuch, ganz locker wieder aufzustehen, dann überraschend scheiterte: „Aus solchen Stühlen kommt man elegant nicht mehr heraus“, so ihre Worte. Und das trifft für Jacob eigentlich den Kern: Er sieht Design als ästhetische Form, und als solche ist sie mit der Lebenswirklichkeit verknüpft. Design gibt, wortwörtlich, Haltungen vor. „Eleganz ist ein Konzept, Lässigkeit ein anderes“, sagt er, „und in Habitat dreht sich alles um die im Design implementierten Philosophien.“(2)

Mit dieser Auffassung von Werk als Interaktion verflüssigt sich zugleich der Grenzverlauf von Kunst und Leben. Jacob interessiert sich sehr für solche Übergänge und spitzt das in seiner Arbeit auch ausdrücklich zu: „Ich definiere mein Werk nicht übers Medium“, sagte er einmal. „Künstler zu sein ist eine Entscheidung, die alle Aspekte des eigenen Lebens betrifft – nicht nur die Momente, in denen man 'Kunst macht'. Künstler zu sein beinhaltet, sein Leben bedeutungsvoll zu führen im Sinne eines bedeutungsgenerierenden Handelns. Es beinhaltet auch, sein Leben öffentlich zu machen, es zu teilen und dem Urteil und Einfluss anderer zu öffnen [...]. Wenn man mich sehr drängen würde, mein Medium zu definieren, dann würde ich sagen: Es ist die 'Gesellschaft'.“(3)

 

"Album VI", Jacobs zweite Arbeit im Kunstverein, übersetzt den raum- und körperhaften Objektbezug von "Habitat" auf ein rein visuelles, assoziatives Setting: Sie funktioniert als Bildlektüre. Für Arbeiten dieses Typs sammelt Jacob Abbildungen aus Printmedien zu Themen wie Design, Architektur, Körper und gruppiert sie über Ähnlichkeiten zu einem abstrakten Narrativ. Suche, Auswahl und Gruppierung folgen dabei inhaltlichen und formalen Ähnlichkeiten, sind aber nicht durch vordergründigen Sinn oder irgendeine Regel festgelegt. Die Struktur der Bildabfolgen oder, wenn man so will, die Komposition, geht stets aus offenem Formprozess hervor. Je zwei bis fünf der kleinformatigen Originalausschnitte fasst Jacob zu einer Art Set zusammen, laminiert sie in transparente Folien im DIN-A3-Format ein und bringt sie darin an die Wand. "Album VI" umfasst 160 solcher Elemente, die er bei der Installation im Kunstverein in Doppelreihung als abstrakte Formerzählung ausbuchstabierte. Dieses Verfahren einer bildhaft flüchtigen Sinnkonstruktion beschrieb Jacob einmal quasi literarisch als den Versuch, „eine Geschichte bloß in Reimen zu erzählen“. Von Bild zu Bild gibt es Verknüpfungen durch visuelle Korrespondenz, doch auf weite Strecken ergeben sich dann auch Verschiebungen und Sprünge, sodass der ausgemessene Bildraum insgesamt offen ist bis nahe an die Auflösung. Und doch hält er sich, wenn es glückt, frei schwebend und ungreifbar wie ein gutes Gedicht. Ob und wie sich darin angelegte Bezüge aber bündeln, hängt auch vom Betrachter beziehungsweise Leser ab, der hier – ganz anders als in "Habitat" und dennoch gut vergleichbar – mit eigenen Besetzungen im visuellen Feld agiert. Bildraum ist bei Jacob also letztlich ein poetisches Politikum.

 

Jens Asthoff

 

(1) Luis Jacob, Habitat, Kunstverein in Hamburg, 12. Januar bis 23.März 2008

(2) Luis Jacob im Gespräch mit dem Autor am 8. Januar 2008 in Hamburg

(3) Aus einem Interview mit Luis Jacob bei torontoartsonline.org, November 2007, siehe www.torontoartsonline.org/livewithculture_ca/features/visual_artist_luis_jacob_is_november_s_face_the_arts_recipient