8. Mai 2008

Moderne Sklaverei

 

 

Immer mehr Frauen aus afrikanischen Ländern werden in den europäischen Rotlichtvierteln zur Sexarbeit gezwungen. Zwei österreichische Journalistinnen haben sich mit diesen Frauen unterhalten und bringen Licht in eines der dunkelsten Kapitel der Globalisierung.

 

Als die junge Nigerianerin Blessing in Europa ankommt, hat sie ihr Heimatdorf bereits zwei Jahre lang nicht mehr gesehen. Monatelang ist sie zuvor durch die Wüste gelaufen, hat in den Slums afrikanischer Grenzstädte ausgeharrt, auf die Gelegenheit zum illegalen Grenzübertritt gewartet und ist schließlich wie viele andere in einem Boot über das Mittelmeer nach Europa getrieben. In Spanien angekommen, wird sie von Menschenhändlern nach Italien weitergeschleust. Dort hat sie nur wenige Tage Zeit, sich von der unmenschlichen Wanderung zu erholen. „Dann kamen die ersten Kunden. Ich war nicht mehr Blessing. Die, die ich einmal gewesen war, war tot. Weiße Männer schliefen mit mir, gaben mir Geld, und ich lieferte es ab.“

Frauen wie Blessing, die eigentlich „Segen“ im Namen trägt, bedienen mit ihrem Körper einen europäischen Markt, der unaufhaltsam zu wachsen scheint. Bis zu 100.000 nigerianische Frauen arbeiten in den europäischen Ländern in der Prostitution. In einigen europäischen Großstädten ist der Straßenstrich nahezu komplett in ihrer Hand. Der ehemalige Weltbankdirektor Moises Naim erklärte in seinem aufsehenerregenden „Schwarzbuch des globalisierten Verbrechens“: „Unter der glitzernden Oberfläche der westeuropäischen Hauptstädte werden viele solcher Sexsklavinnen zur Prostitution gezwungen.“ Inzwischen ist die Konkurrenz unter den aus Afrika stammenden Prostituierten so groß, dass die Frauen selbst für lächerliche 15 Euro ihren Körper verkaufen.

Die beiden Journalistinnen Mary Kreuzer und Corinna Milborn sind dem schmutzigen Geschäft mit afrikanischen Frauen in Europa nachgegangen. Ihre Erfahrungen und Erlebnisse haben sie in der Sachbuchreportage „Ware Frau. Auf den Spuren moderner Sklaverei von Afrika nach Europa“ festgehalten. Den Schwerpunkt ihres Berichts bildet die Zwangsprostitution nigerianischer Frauen in Europa. Nigeria habe sich aufgrund der seit den 1980er Jahren anhaltenden Wirtschaftsmisere in besonderem Maße zu einem Zentrum des internationalen Frauenhandels entwickelt. Während Schlepper und Menschenhändler den jungen Frauen ein paradiesisches Leben und einen Ausweg aus der afrikanischen Misere versprechen, erwartet sie in Europa der Straßenstrich. So wurde Blessing von einem Freund der Familie an Menschenhändler ausgeliefert. Er bot ihr an, sie mit nach Europa zu nehmen, wo sie studieren und dann arbeiten könne. Geflogen ist sie nicht, stattdessen aber monatelang durch die Sahara gelaufen. Erst nach zwei Jahren kam sie in Europa an. In einer Universität war sie nie.

Meist werden die „gehandelten Frauen“ in west- und nordafrikanische Staaten, den Nahen Osten und europäische Länder verkauft. Wenn sie dort ankommen, haben sie meist schon ein monatelanges Reisemartyrium hinter sich. Der Großteil der Frauen und Mädchen wird zu Fuß durch die Sahara gen Norden getrieben. Auf diesem Höllenmarsch sterben jedes Jahr Tausende Frauen an Krankheiten, Wassermangel oder Erschöpfung. „Es gingen viele mit uns los, aber es schafften nicht alle bis ans Ziel“, berichtet Blessing von ihrem Wüstenmarsch. Von zahlreichen Frauen erfuhren die Autorinnen, dass sie auf dieser Wanderung meist Dutzende Male weiterverkauft und vergewaltigt worden waren. Wer nach Europa wollte, musste sich dem Gesetz der sexualisierten Gewalt beugen.

Die Vorverlagerung der europäischen Grenzschutzpolitik in die nordafrikanischen Staaten durch bilaterale Abkommen hat die Zahl der Einwanderungsversuche von Afrika nach Europa kaum verringert, die Reise jedoch um einiges gefährlicher gemacht. Meist machen die europäischen Staaten ihre Entwicklungszusammenarbeit von der Kooperationsbereitschaft der nordafrikanischen Staaten im Bereich der Grenzsicherungspolitik abhängig. Aufgrund dieser Politik von „Zuckerbrot und Peitsche“ verabschiedete die marokkanische Regierung 2003 auf Druck der EU ein „Gesetz über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern“. Dieses sieht die strafrechtliche Verfolgung von Personen vor, die Ausländer ohne Aufenthaltsgenehmigung beherbergen, ihnen bei der Durchreise behilflich sind oder sie in irgendeiner Form unterstützen. Humane Gesten werden so zu aktiver Flüchtlingshilfe uminterpretiert und die Situation der Flüchtlinge verschlechtert sich nur zusätzlich. Die EU honoriert solche Gesetze mit Wirtschafts- und Entwicklungshilfen, da ein Großteil der Flüchtlinge so schon weit vor den europäischen Grenzen abfangen werden kann. Sie macht sich auf diese Weise zum indirekten Komplizen der Menschenhändler, deren Geschäft umso erträglicher wird, je schwerer sich die Einreise in die europäischen Staaten gestaltet.

Diejenigen, die es bis zu den nordafrikanischen Küsten schaffen und dort die kaum seetauglichen kleinen Boote – sogenannte pateras – besteigen, um nach Europa zu gelangen, riskieren ihr Leben. Denn seitdem hochtechnisierte Überwachungseinheiten der europäischen Grenzschutzagentur Frontex im Mittelmeer patrouillieren, wählen die Schlepper die sehr viel gefährlicheren Einwanderungsrouten über den Atlantik. Die wohlhabenden europäischen Staaten verdrängen bei ihren politischen Handlungen allzu oft, dass die massenhaften Einwanderungsversuche ein Ergebnis der selbst geschaffenen politischen und wirtschaftlichen  Situation darstellen. In den europäischen Ländern existiert ein lukrativer Markt, in dem Männer gleichgültig für Sex mit afrikanischen Frauen zahlen. Auf einem solchen Markt herrscht das einfache Gesetz von Angebot und Nachfrage. Viel Nachfrage erfordert ein großes Angebot. Das befeuert den Menschenhandel. Oder wie es Naim beschreibt: „Nur wer bei seinem moralischen Urteil auch ökonomische Fakten mit einbezieht und berücksichtigt, welche sozialen und wirtschaftlichen Anreize Menschen in ihrer Situation überhaupt haben“, erkenne die wahren Hintergründe dieses globalen Geschäfts.

Die nigerianischen Frauen und Mädchen, die die österreichischen Wissenschaftlerinnen interviewten, erzählten auch von den Zwangslagen, in denen sie sich in Europa wiederfanden. Exorbitante Rückzahlungsforderungen drängten sie in die Prostitution. „Die Madame ... erklärte mir, ich müsse in der Prostitution arbeiten und 35.000 Euro abzahlen – 1000 Euro pro Woche. Dazu 400 Euro im Monat für Kleider, 450 für Essen und 250 Euro Miete. Ich musste also über 5000 Euro im Monat abliefern.“ Bei erbärmlichen 15 Euro pro sexueller Demütigung, muss eine Zwangsprostituierte dafür weit mehr als 300 „Kunden“ monatlich über sich ergehen lassen.

Paradoxerweise sind es heute vor allem die nigerianischen Prostituierten der ersten Stunde, die sich „junge Ware“ aus ihrer Heimat liefern lassen. Als sogenannte „Madames“ reinszenieren sie ihr eigenes Drama immer wieder neu. „Selbst zur Madame zu werden gibt die Möglichkeit, sich aus dem System, das einem Schmerzen zugefügt hat, etwas zurückzuholen“, erklären sich Kreuzer und Milborn dieses Phänomen.

Kaum eine der Zwangsprostituierten bricht das Schweigen und sucht Hilfe, um sich aus ihrer Situation zu befreien. Die Ursachen sind vielfältig: Zum einen macht der nigerianische Voodoo-Kult (Juju) die jungen Frauen gefügig und schweigsam. Zum anderen verhindern jedoch auch die europäischen Regelungen ein Anzeigen von Zwangsprostitution oder Misshandlung. Da den Frauen ihre (meist gefälschten) Papiere von den „Madames“ abgenommen werden, droht ihnen bei Kontakt mit offiziellen Behörden stets die Abschiebung. Wer zeigt schon seinen Peiniger an, wenn er dafür abgeschoben wird? Außerdem gebe es zu wenige Opferschutzprogramme, die den Frauen genügend Zeit zur Verarbeitung ihrer traumatischen Erlebnisse einräumen. Korrupte Beamte und eine desinteressierte wegschauende Gesellschaft entmutigen vollends.

Nur wenigen Frauen gelingt der selbst gewählte Ausstieg aus der Prostitution, die meisten werden einfach abgeschoben. In ihren Heimatländern gelingt ihnen nur selten ein Neuanfang. Viele werden ein zweites und drittes Mal nach Europa verkauft. Auch Blessing wurde aus Italien abgeschoben und wartet nun in Nigeria darauf, eine neue berufliche Chance zu bekommen. Dass eine Frau wie sie schlechte Karten hat, ist ihr bewusst: „Es ist hier fast unmöglich, einen Job zu erhalten: Nur die, die viel Einfluss und Kontakte haben, bekommen Arbeit. Für ‘Mädchen, die gereist sind‘, wie ich, ist es besonders schwer.“

 

Thomas Hummitzsch

 

Mary Kreutzer & Corinna Milborn: Ware Frau. Auf den Spuren moderner Sklaverei von Afrika nach Europa. Ecowin-Verlag. Salzburg 2008. 240 S.; 19,95 EUR

 

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