29. April 2008

Verlust und Erinnerung


Nach und nach kommt die internationale Reputation des Mangaka Jiro Taniguchi auch dem deutschsprachigen Lesern zugute: Seit dem Sommer letzten Jahres wurden schlagartig gleich mehrere Titel des Autors und Zeichners in Personalunion bei Schreiber & Leser sowie dem Carlsen-Verlag übersetzt und veröffentlicht. Neben den hier angesprochenen Titeln gilt es noch die Kurzgeschichtensammlung „Der Wanderer im Eis“ und das fortlaufende Bergsteigerepos „Gipfel der Götter“ zu entdecken, und auch bei Carlsen wurde ein weiteres Werk, „Träume von Glück“, bereits angekündigt.

 

Sein Stil gehorcht dabei einer bisher als europäisch ausgemachten Akzentuierung: Die gern identifizierten Spezifika des Manga treten zugunsten eines ruhigen Erzählflusses zurück. Keine oder zumindest eine seltene Dynamisierung via bilderdrückender Speedlines, keine seitenweisen Splashpanels und schon keine obligatorischen Kulleraugen dominieren die Szenarien, die Sujets würden dies auch herzlich wenig erfordern. Der genaue Strich atmet eher etwas von Herges` Verständnis der klaren Linie, ist dabei aber erheblich stärker den Innerlichkeiten seiner Figuren verschrieben: Das detailverliebte Setting bricht sich an ihren Mimiken, bleibt allerdings, im Gegensatz zu Herge, einem reduzierten Realismus verschrieben, der sich als Eindruck auch in der filmischen Aufbereitung des Geschehens fortsetzt (auch wenn es nach derart schönen Storyboards wohl keines Films mehr bedarf. Trotzdem darf man auf die geplante Verfilmung von „Vertraute Fremde“ bereits gespannt sein.). Die stets anzutreffenden Rückblenden skizzieren, was selbstredend nicht unüblich ist, fortlaufend die Befindlichkeiten der Figuren und können doch gleichzeitig, je nach erzählerischem Anlass natürlich unterschiedlich ausgeprägt, als ein Leitmotiv in Taniguchis Werk verstanden werden, die seine universal ausgerichteten Themen Verlust und Erinnerung immer wieder aufs neue hervorheben.

 

Denn diese Themen sind es, die die wahlweise auf Fantasy, Melodram oder Thriller reduzierfähigen Storys zur melancholischen Poesie adeln. In „Vertraute Fremde“ verschlägt es den erwachsenen Hiroshi zufällig zu dem Grab seiner Mutter, wo er sich nach einer Ohnmachtsattacke urplötzlich als dreizehnjähriger Schüler erneut seiner Pubertät ausgesetzt sieht. In „Die Sicht der Dinge“ begibt sich der Grafiker Yoichi nach 15 Jahren zurück in seine Heimatstadt Tottori, um an der Totenwache und Beerdigung seines Vaters beizuwohnen, letztlich natürlich aber auch, um sein jahrelanges Fernbleiben zu verstehen. Der passionierte Extrem-Bergsteiger Shiga aus „Die Stadt und das Mädchen“ nun begibt sich nach Tokio, um das unerklärliche Verschwinden der vierzehnjährigen Megumi aufzuklären, auf die aufzupassen, er sich nach dem tödlichen Sturz ihres Vaters ewig geschworen hat.

 

Was nun auf dem ersten Blick vielleicht als Restauration verloren gewähnter Tugenden erscheint, Loyalität, Dankbarkeit, Familiensolidarität, und darüber hinaus den Geschichten einen originär japanischen Duktus anverleibt, offenbart sich in allen drei Büchern mit zunehmendem Verlauf als tieftrauriger Abgesang auf den Verlust und die beruhigende Wirkmächtigkeit der Kraft der Erinnerung, die erst in der Realisierung des Unausweichlichen einen letzten Funken Trost verspricht. Mit dem Wissen des erwachsenen Mannes genießt Hiroshi die Annehmlichkeiten der Jugendzeit. Aber dieses Spiel funktioniert nur auf Kosten der Vernunft, die ihn später dazu drängen wird, die spätere Flucht des Vaters vor seiner Familie zu verstehen. Und trotz der Kenntnis um den traumatischen Riss, den dieser Akt durch die Zurückgelassenen ziehen wird, ist er nicht in der Lage, ihn von diesem Vorhaben abzuhalten. Es ist das Verständnis seiner Motive, das Hiroshi machtlos werden lässt, das Wissen darum, durch das kathartische Durchleben die Verluste der Erinnerungen zu bekämpfen, gleichzeitig aber die schwindende Erinnerung an die eigene Familie zu forcieren. Die Frage nach den logischen Ursachen dieser Zeitreise stellt sich an keiner Stelle.Was bleibt, ist die Wahl, ist die Trauer dieser Zeit in die Reflexion des Gegenwärtigen zu transformieren.

 

Auch Yoichi in „Die Sicht der Dinge“ durchlebt einen ähnlich kathartischen Prozess, und die Rückblenden, die während der Totenwache die Protagonisten in Erinnerungen schwelgen lassen, gleichen in ihrer Häufigkeit fast einem assoziativen Strom, sodass Yoichi erst durch sie schmerzlich erfahren muss, dass der Tod seines Vaters bereits ab dem Zeitpunkt besiegelt war, an dem er sich nach Tokio begab und von da an alle Erinnerungen restriktiv seinen Bedürfnissen anglich. Der leibliche Verlust geht mit dem der Erinnerung Hand in Hand.

 

Und auch in „Die Stadt und das Mädchen“ planiert Taniguchi das Geschehen zu einer Parabel des dialektischen Verhältnisses von Erinnerung und Verlust. Über den thematischen Mittelsweg der Konfrontation von Natur und Urbanität erschließt sich dem suchenden Shiga Tokio zunächst als alles verschlingender Moloch, in dem er hilf- und orientierungslos seine Suche ansetzen muss. Seine Loyalität gegenüber seinem verstorbenen Freund speist sich indes aus Schuldgefühlen an seinem Tod, namentlich aus der Gewissheit, dessen Tod begünstigt zu haben, als er die Teilnahme an dessen Expedition absagte. So sehr ihn die Stadt als tobende Fremde an die Grenzen seiner Fähigkeiten treiben mag, ist es doch zuletzt die Überwindung dieses Schuldgefühls, was ihn zu seinem Ziel bringen und dazu befähigen wird, seine Fähigkeiten der Fremde zu oktroyieren: In Bergsteigermontur erklettert er den Wolkenkratzer, an dessen Spitze sich die gefangene Megumi befindet.

 

In all diesen (teils autobiografischen) Erzählungen bleibt den grenzgängerischen Figuren nicht viel mehr, als die Schwellenangst vor den in ihnen brodelnden Abgründen zu überwinden und so nicht nur ihre Lebensfähigkeit zurückzuerlangen, sondern gleichzeitig ihre Teilhabe an dem drohenden wie erfahrenen Verlust zu realisieren. Wem der Tod nicht mehr als domestiziertes Fremdes unbekannt sein sollte, darf sich bei Taniguchi bestens verstanden fühlen. Dem Rest sei es als Vorbereitungsfibel dringend ans Herz gelegt.

 

Sven Jachmann

 

 

Jiro Taniguchi: Vertraute Fremde, 416 Seiten, Carlsen, 19, 90 Euro

Ders.: Die Sicht der Dinge, 283 Seiten, Carlsen, 14 Euro

Ders.: Die Stadt und das Mädchen, 336 Seiten, Schreiber & Leser, 16, 95 Euro