24. März 2008

Im Nordend

 

Mitten in Frankfurt wähnt man sich im Günthersburgpark an einer Peripherie … erfasst von einer grünen Woge, die in bloßer Landschaft verebbt. Auf der oberen Wiese hat das Veilchenhoftheater seine Zelte aufgeschlagen: wie seit vier Jahren in jedem Sommer für die Dauer eines Monats. Lichergrün ist die Unterhaltungskulisse, auch Bionadeblau.

Lena schnürt durch den Dunstkreis der tätowierten Aussteller ihrer Bierbehäbigkeit aus dem Café läuft an der Rohrbachstraße, die sie später im Feinstaub an der Friedberger Landstraße ganz bestimmt wiedertreffen könnte. Lose verbunden ist sie mit den rasch verwitternden Zopfjungs.

 

Auf der Bühne zersägen die Bernemer Bembelblueser Why don´t we do it in the road.

Den Gitarristen kennt Lena aus der Schule. Mit vierzehn war er in sie verliebt. Er war schon so gut wie verheiratet, als er ihr noch einmal nachging, in einer betrunkenen Nacht … vor der Batschkapp und im Elfer. Das Weitere ergab sich in Eschersheim zwischen Tonnen. Lena streift die Erinnerung daran ab wie etwas Unangenehmes auf ihrer Haut. Wie ein Verbündeter erscheint ihr der Wind, der mutig in die Sonnenschirme greift und bald auch mit allen Planen segelt. Lena verrät dem Wind ihre Sehnsucht nach Sturm und nimmt schon den mächtig einsetzenden Regen als Geschenk des Himmels. Leute rotten sich Schutz suchend in der überdachten Ausschankzone zusammen. In der Zusammenballung entwickelt sich sofort Mief. Lena fühlt sich von allem losgelassen, während sie sich der elementaren Heftigkeit überlässt. Sie widersteht dem Wunsch, sich auf die Erde zu legen und ins Gras zu beißen.

Kinder krallen sich an die Beine von Erziehenden. Hunde überbieten sich in ihrer Erregung. Allgemein ist die Flucht auf Fahrrädern. Die Bembelblueser packen ein.

 

Nach einem Kurzschluss verdunkelt sich die Szene.

 

 

Diese Leute werden von ihrem Lebensstil aufgefressen, denkt Lena. Es ist kurz nach zehn, an einem frühlingshaften Wintertag. Lena schält Kartoffeln im Weidenhof, während Herr Bieber, dem hier alles gehört, mit seinem Lebensgefährten Albert vor der Kaffeemaschine gewohnheitsmäßig streitet. Herr Bieber hat seinen Tenniskram griffbereit, Albert, eine unerbittlich Vierzigjährige in der männlichen Ausgabe, sich für den alltäglichen Citylauf startklar gemacht.

Im Radio läuft leise ein Lied von Eels. Immerich kreuzt auf, so nennt Lena insgeheim einen im Verlauf von Jahrzehnten vom Stargast zum Faktotum abgestiegenen Jammerlappen. Er bringt noch einen ausgewaschenen Senfeimer voll Kartoffeln, „viel Spaß damit“.

Immerich nennt Lena Aschenputtel und nannte so auch schon alle ihre Vorgängerinnen. Ernsthafte Herabsetzungen kann er sich ihr gegenüber nicht erlauben. Man hat Lenas Mutter im Weidenhof schon neben Petra Roth freundschaftlich Lightzigaretten rauchen sehen. Für Immerich ist Lenas Mutter irgendwas beim Funk, eine unerreichbare Ziege mit Gesangsausbildung. Lena findet Immerich so traurig wie die Ränder unter seinen Nägeln. Sie vernimmt drei verschiedene Klingeltöne, ihr Mobile ist aus.

 

Das Licht kriecht über Fliesen. Es gibt den Fensterkreuzen sakrale Schärfe. Es scheint sie zu verstärken. Lena schließt die Augen, um das Wunder ihrer Existenz wie ein Parfait auf Schäumen auszukosten.

„Träumen wir?“, fragt Herr Bieber.

Jeden Tag fragt er Lena, wie lang sie noch Kaltmamsell in seinem Laden spielen möchte. Es gibt auch Leute, die den Job nötig haben. Das sagt er nicht. Er tritt lieber behutsam auf an dieser Stelle, in der Erwartung, dass dem Mädchen die Sache bald langweilig oder widerwärtig wird.

Das Mädchen ist vierundzwanzig und möchte gern hart im Nehmen sein. Ihre Wimpern verschatten eine Entschlossenheit, die Lena diesem, nun ja, parfümierten Lackaffen, nicht zeigen will. Herr Bieber lässt sie in Ruhe, er will sich von ihrer Mutter nichts anhören müssen. Er fürchtet den Tratsch kultivierter Weiber, die Stadt ist voll davon.

 

Herr Bieber macht Immerich in der Küche fertig ... die allmorgentliche Abreibung für den Knecht. Immerich wird immer schusseliger und nuschliger, wenn er wenigstens die Zähne auseinander bekäme.

 

Er raucht Gras in dreistöckigen Tüten, fast ohne Tabak, am laufenden Meter. Er führt halblaut Selbstgespräche. Er war mal Geschäftsführer, davon weiß Lena nichts. Sie ist so naseweis zu glauben, man könne in ihrem Fall alles Negative aus der Welt schaffen, bevor sich Metastasen bilden. Aber das Negative perlt schon wie Tropfen von der Rinne ... die Herrschaften fliegen aus und lassen ein pralles Portemonnaie neben dem Ersatzmilchschäumer zurück. Da protzt es vor sich hin.

 

„Machen wir halbe-halbe?“ fragt Immerich zum Spaß. Er hat mit solchen Verlockungen unehrliche Mitarbeiter überführt, vor langer Zeit.

Lena versteht den Spaß nicht, glaubt, dass Immerich sich vergreifen könnte.

„Ich an deiner Stelle“, sagt sie gespreizt, „würde die Finger davon lassen“.

 

Meine Güte, ist die höhere Tochter dämlich. Immerich schiebt ab in den Keller, ganz der Diener seines Herrn. Auch dieser Vormittag hält wieder viele Aufgaben bereit, und Lena ist noch nicht einmal mit dem Kartoffelschälen fertig.

 

Sie denkt sich nichts dabei, schließlich hat sie noch keine kroatische Spezialistin in Rekordgeschwindigkeit gastronomische Vorbereitungshandlungen vollbringen sehen. Ihre Vorgängerin ist wegen Krebs ausgefallen, ihre Nachfolgerin bereits stand by geschaltet. Herr Bieber ist ein alter Hase, Lena prüft seine Geduld ohne es zu merken. Sie findet sich ganz famos mit ihrem guten Willen. Alert streicht sie Haare hinter die Ohren. Sehr feine Haare, man könnte die Haare auch dünn finden. Bei ihrer nächsten Schicht im Weidenhof will Lena ein Disneyworldkopftuch tragen. Klar, der reine Kitsch, aber ein Geschenk von Lisa, die mit John-John letztes Jahr in Paris war.

 

Glimmer in der Luft, die gerade wie von Hand gewoben aussieht. Aus Tiefbecken steigt Klogeruch auf, Lena legt eine Zigarettenpause ein. All die Kartoffelschalen im Eimer, wie schön, dass niemand spricht. Chris Rea singt Road To Hell, seine Gitarre heult wie ein Koyote, Lenas Mutter hört sowas, wenn sie mit ihrem Freund, dem Immobilienspecht, auf der Ledercouch süffelt. Lena zieht den Rauch hinter sich her in ein heimliches Gärtchen. Wein wächst an der Wand.

 

Lena streckt sich, sie stellt sich auf die Zehenspitzen und ragt so einen Meter und zweiundachtzig Zentimeter in die Höhe. Sie schnippt die Kippe gegen die Wand, um die Glut zerspringen zu sehen. John-John hat eine gesichtslose Aktaufnahme von Lisa bei View ins Netz gestellt, wenn es einmal nicht mehr gut sein sollte mit den beiden, könnte John-John mit Fotos Lisa bloß stellen. Unwillkürlich ist Lena dazu übergegangen, sich zu dehnen. Sie trägt stets Hosen, die ihr genug Beinfreiheit lassen für einen Kick zum Kopf.

 

Sie kehrt in den Schankraum zurück, Kartoffeln werden am Familientisch neben dem Küchenzugang geschält. Das Portemonnaie ist weg, jemand versucht hartnäckig wen auch immer, im Zweifelsfall Immerich, via Festnetzanschluß zu erreichen. Ein Geräusch wie aus Es war einmal in Amerika, einem Sergio Leone, wie Lenas Mutter sagen würde, die gegebenenfalls auch Wert darauf legt, Scorsese amerikanisch-korrekt auszusprechen.

 

Immerich scheint sich in Luft aufgelöst zu haben. Ein Lieferant tritt auf, Lena kann ihm nicht weiterhelfen. Plötzlich sind Leute im Raum, die sich auskennen und an Lena vorbei geschäftig werden. Das sind alte Ausländerinnen ... und ein Typ, der früher in der Bornheimer Burg als Koch gearbeitet hat und nun im Weidenhof Handlangerdienste leistet. Er grüßt Lena, sucht umgehend das Gespräch. Sein Leben ist endloses Gelaber. Lena riecht eine Fahne, sie zieht sich vor der maroden Leutseligkeit zurück und bedenkt die Sache mit dem Portemonnaie.

 

Herr Bieber weht gebläht heran, in seiner Edelmoschuswolke: „Hast du mein Portemonnaie gesehen?“

„Vorhin lag es auf dem Tresen.“

 

Der Ex-Koch dreht verspult den Lautstärkeregler auf Anschlag, Lena kennt das Lied nicht, das diese penetrante Plaudertasche dazu veranlasst, im Schankraum zu tanzen. Aber nur kurz, dann ist das Radio ganz aus und der Küchengreis mündlich abgemahnt. Jetzt sucht Herr Bieber außer seinem Portemonnaie auch noch Immerich, der im Keller kifft und den Krebs der Kollegin verflucht. Der Krebs ist Schuld daran, dass Immerich eine Menge mehr zu tun hat. Lena findet nicht, dass diese Weidenhoftrottel ihr noch irgendwas geben können und setzt sich prompt ab. Sie lässt die Kartoffeleimer Kartoffeleimer sein ... Windjacke, Umhängetasche, Rucksack ... man darf sich von bad vibes nicht kontaminieren lassen.

 

Lena erfreut sich am Anblick ihres Fahrrades, sie weiß schon nicht mehr, wie viele Fahrräder ihr geklaut wurden.

Der Tag fühlt sich an wie Seide. Bizzelnde Lebensfreude ... und dann doch noch eine gedankliche Verzweigung Richtung Portemonnaie und dem nicht richtig Tschö und Adieu gesagt haben. Lena weist das gekonnt von sich, schlechte Gedanken werden weggeschickt, das hat Lena in einem Kurs gelernt, zu der Zeit als Wanja sie mit seinen Touren noch runterziehen konnte und sie in seiner Schule Taekwondo trainierte.

 

Lena stellt ihr Telefon an, öffnet das Bügelschloß und schließt sich an ihren iPod. Sie kauft ein Fischbrötchen auf der Glauburgstraße, in einem Geschäft, dass im Nordendtext ihrer Mutter eine Rolle spielt.

Lena bemerkt Jutta Ditfurth auf einem Fahrrad, sie erinnert sich noch an Ditfurths Vater ... aus der Zeit, als ihre Mutter mit einem telegenen Biologieprofessor verheiratet war. Sie entfernt ein Salatblatt aus dem Brötchen und isst auf dem Bürgersteig. Fahrschüler warten auf Fahrlehrer. Die Motorradführerscheinanwärter stehen extra. Auf der anderen Straßenseite steht ein Waschsalon, Lena findet öffentliches Wäschewaschen peinlich, die Leute, die vor dem Waschsalon rauchen, sehen arm aus. Teilweise sogar richtig Scheiße.

 

Sam ruft an, um rücksichtslos loszulegen. Sie war mit ihrem neuen Freund in Montenegro. Der Flug ging nach Dubrovnik in Kroatien, Dubrovnik hat den gefährlichsten Flughafen Europas, das Flugzeug wurde von der Bora geschüttelt. Die Landung war abenteuerlich, eigentlich nicht zu schaffen. Von Dubrovnik dann mit Mietwagen nach Belici ins Hotel Splendid. Die Sonne geht in Belici ganz früh auf, morgens um sieben ist es da auch im Winter schon richtig hell. Ausflug an die albanische Grenze, alles ganz düster, voll die Hinterwelt. Gut war der Wellnessbereich im Hotel. Sam redet so viel, weil sie mit ihrem Freund nicht glücklich ist. Er ist zwanzig Jahre älter als Sam, ein Bauunternehmer mit zwei oder drei Familienruinen; ein Extremist, wenn es um Kunst und Kultur geht. Bei jeder Gelegenheit ins Konzert, Theater, Kino, in die Oper, in eine Ausstellung. Und für später ist immer schon ein Tisch reserviert. Klasse findet es der Unternehmer, die Unzertrennlichen bewirten zu dürfen. Er zeigt sich ungemein interessiert an den Ansichten von Lena und Lisa, mit ihren wippenden Pferdeschwänzen.

 

Sam ist die Dunkle in ihrem Kreis; kleiner und etwas weniger gelenkig und auch noch nicht so lang im Training wie Lena und Lisa. Ihre Eltern leben immer noch zusammen, sie war nie Schlüsselkind. Lena unterbricht sie, man sieht sich eh heute noch im dojang. „Du kommst doch?“

„Auf jeden Fall.“

„Hau rein, bis dann.“

 

Hau rein, bis dann: Lena hat diese Wendung von Wanja übernommen, zu der Zeit, als sie noch glaubte, als Kampfsportlerin niemals exellent sein zu können. Wanja bestärkte sie in ihren Zweifeln, er wollte sie schwach, dabei immer das Gegenteil behauptend. Er gab mit Lena vor Leuten an, aber in den vielen Stunden ihrer athletischen Zwiesprache verlangte er die absolute Anerkennung seiner Überlegenheit auf lauter Schleichpfaden des Verhaltens ... und so auch mit direkten Aktionen. Er stellte einen Fuß auf Lenas Hintern, vorgeblich um bei Liegestützen den Druck zu erhöhen. Lena ahmte ihn nach, als sie soweit war, das Anfängertraining zu leiten und erst in den Reaktionen der Schüler erkannte sie, sechzehn-, siebzehnjährig, in welchem Sumpf solch eine Bestimmerattitüde gedeiht.

Wanja hatte sich Lena herausgepickt, aus einem munteren Mädchenstrauß, und sie hatte sich erhaben gefühlt als Wanjas Freundin. Schneckchen war sein Wort für Mädchen.

 

Lena fährt am geschlossenen Horizont vorbei. Das aufgegebene Lokal gehörte auch zum Nordendbestand im System ihrer Mutter. Früher lauerten an dieser Ecke unheilvolle Knaben Lena auf. Von solchen Gefährdungen konnte sie ihrer Mutter nichts sagen. Lena traf ihre Widersacher in Wanjas Schule wieder, sie lachten über die Wehrhaftigkeitswünsche des Mädchens.

 

Lena lehrt in einem Taekwondoverein, der jahrelang nur Mädchen und Frauen aufnahm. Inzwischen und schon länger dürfen Jungen und Männer mitmachen. Aber keine Raubeine. Kampflustige Knaben werden mit Vorträgen über die geistige Dimension, Vertrauensspielen und mit als Tai Chi angesprochenes Ringelpitz mit Anfassen zermürbt. Die rennen dann oft schon aus dem ersten Probetraining. Lena hält alle Zusätze und Überkupplungen für wertlos und das wiederum für ihre persönliche Angelegenheit. Ihr bringt das nichts. Das aber behält sie weitgehend für sich, Lena muss mit ihren Ansichten nicht hausieren gehen. Sie hat ihren eigenen kleinen Fightclub in dem hellen, zweistöckigen Vereinshaus, einer ehemaligen Hinterhofwerkstatt. Lenas Kampfverband besteht nur aus Frauen. Die Kerntruppe ist seit Jahren stabil. Dazu gehört eine, die bis nach China gefahren ist, um ihre Martial-Arts-Bildung voran zu treiben. Eine trainiert außerdem Boxen und hat in diesem Sport auch schon einmal einen lokalen Wettkampf bestritten. Es gibt ein paar Vielseitige, die mit Aikido oder Karate angefangen haben, oder mit einem Kung-fu-Stil und vielmehr an der famosen Lena als an ihrem kickboxerisch abgewandelten Taekwondo hängen geblieben sind. Keine will Meisterschaften gewinnen. Es geht darum fit zu sein für den Notfall in der Straßenbahn, es geht um freundlichen Umgang ... um eine dezente Akkumulation von körperlicher und mentaler Stärke. Selbst Lena hat ihren letzten Wettkampf als Wanjas Schülerin bestritten. Sie vermittelt einen gradlinig-robusten Einsatz taekwondoförmiger Techniken, ohne echte Infightkompetenz, ohne Würfe und Hebel und klebende Hände und ohne Bodenkampf. Ihre Verteidigung ist ein Amalgam aus abgekupferter, am Boxen orientierter, nie ernsthaft überprüfter Doppeldeckung mit entsprechender Beinarbeit und Taekwondoabwehrtechniken mehr oder weniger im Hugul-Sogi. Gekämpft wird mit Safety´s. Es wird nicht durchgezogen.

 

Es wird auch nicht nach den Regeln der Kunst gegrüßt. Die koreanische Kommandosprache spielt kaum eine Rolle. Man wärmt sich ohne Vorturnerin auf, vor einer Spiegelfront. Die Seilspringerinnen stellen sich ihre Wecker.

 

Der Freikampf beginnt. Lisa greift Lena mit Pushkick an, setzt mit paltung chagi nach, schließt ab mit dyt chagi. Lena gibt Lisa Raum, zieht sich vor der Angriffsdynamik ihrer Freundin, dem schönen, von knallendem Stoff befeuerten Schwung zurück. Seit vierzehn Jahren trainieren sie zusammen, sie können beide, auf einem Bein stehend, das andere vollkommen an den Leib ziehen, bis zum extremsten tollyo chagi. Sie sind beide immer einig darin gewesen, dass ihnen Philosophie nichts gibt. In ihrem inner circle mit Sam nennen sie die Gründerin ihrer Vereins Zenziege und den Obmann für die mit Glied Frauenversteher Nummer Eins. Lena riskiert pandae tollyo chagi, weit über - aber auch viel zu weit vor Lisas Kopf. Jetzt müsste Lisa die Distanz verkürzen, den Augenblick nutzen ... sie verschenkt die Gelegenheit, Gefechtshitze liegt ihr fern, wenn sie mit Lena, so empfindet sie es nun mal, spielt. Ihre Freundschaft war nur einmal bedroht, als Wanja mit Lena zusammen war und Lisa sich trotzdem mit ihm einließ und Lena das rauskriegte. Was heißt rauskriegte? Wanja war mit Lena auf einer Party erschienen und hatte da erst an ihr und dann, ein Stockwerk höher, an Lisa hantiert. Er hatte sich bei Lisa beschwert, wie fad Lena sei; wie wenig daran interessiert, ihm zu gefallen. „Die ist extrem lesbisch im Kopf.“ Da waren die Mädchen sechzehn Jahre alt und Wanja ein erwachsener Eisenfresser ... Türsteher und Parkplatzrambo - mit unternehmerischem Geschick. Er verkaufte eine Mischung aus Aufgeschnappten, wenn auch auf einer soliden Taekwondobasis, als das von ihm gelüftete Geheimnis der Unschlagbarkeit. Erst als Lena und Lisa sich von ihm und seinem Gehabe so abgestoßen fühlten, dass sie sich unisono von ihm lossagten, verriet er ihnen, was er sich an Firlefanz alles bloß ausgedacht und fantasievoll etikettiert hatte. Aber bis dahin hatte Lisa doch immer mal wieder etwas mit ihm, also länger als Lena, die diese untergründige Verbindung zum Glück nicht mitbekam.

 

Sam tändelt vor Lisa, Sam wird niemals ganz so locker sein wie ihre Kontrahentin. Lisa hält Sam mit yop chagi auf und hat dabei noch genug Zeit, um sich im Spiegel zu bewundern. Die Fußhaltung am Standbein ist perfekt, die Technik so lang ausgeführt als habe Lisa einen Teleskopstab im ausführenden Bein. Sie setzt optimal ab, verlagert das Gewicht und knallt Sam paltung chagi und, ohne abzusetzen, tollyo chagi auf deren gekreuzte Armen, viel zu heftig für Leichtkontakt. Sam zuckt zurück, besinnt sich dann aber doch auf ihre Kriegerinnentugenden und geht auf Lisa, nun aus frontaler Doppeldeckung, wie eine Boxerin los. Lisa fällt dazu wenig ein, sie kann sich nicht lösen. Halbherzig setzt sie einen Haken unter Sams heruntergezogenen, linken Ellenbogen und kassiert im korrekten Gegenzug eine schwach gebremste Gerade ... als Quittung für die Vollkontaktaktion von eben. Sams Ebenbürtigkeitsanspruch verblüfft Lisa immer wieder. Lena und sie waren bei Vorführungen schon Stars mit blauen Gürteln, als Sam zu ihnen stieß ... und freundlich mitmachen wollte, im Vertrauen auf fairen und zu ihrem Schutz geregelten Umgang aller mit allen. Aber der insgeheime Faustrechtverherrlicher Wanja zog Asseln an, kleine Stinker, zukünftige Landsknechte, vollkommen unverbunden mit der Welt, die das Elitewesen Sam hervorgebracht hat. Mit ihrer Stumpfheit schüchterten sie die Elevin ein. In Sam formulierte sich das Gebet der Opfer. Aber sie blieb nicht erschrocken und geduckt, sondern fing an sich zur Wehr zu setzen gegen all die Zumutungen und Übergriffe in der Umgebung des eigentlichen, jeden räsonierenden Trainings. Zurückweisungen zum Trotz hielt sie sich instinktiv und hartnäckig und so auch aus Klassenbewusstsein an Lena und Lisa, die von Wanja über alle gestellt worden waren, bis auch Sam einen besonderen Status hatte ... und endlich hochmütig und gelangweilt das ewige Gezerre und die obszönen Redensarten der jungen vor Verständnislosigkeit japsenden Rüden an sich abprallen lassen konnte. Ja, Sam hatte Lisa imponiert mit ihrer entschiedenen Art und einer unfassbar frühreifen Nachsicht gegenüber den eigenen Schwächen. Sam musste nie die Beste sein, so wie Lena als Heranwachsende immer. Sie wollte einfach nur gut und dabei sein. Sie verbesserte sich Schritt für Schritt, stets darauf aus, zu erfahren, was hinter diesem und jenem Schritt steckte und von den Erklärungen oft enttäuscht. Für sie verging die Zeit zwischen den Prüfungen nicht zu langsam. Sie machte auch nicht den Fehler, Lena und Lisa mit ihrer Lektüre in den Ohren zu liegen: Zen in der Kunst des Bogenschießens, Das Buch der fünf Ringe ... das fesselte sie zwar alles auch nicht, ach was, sie kapierte das überhaupt nicht, aber es ließ doch Nachdenklichkeit aufkommen. Als erste im Kreis der Unzertrennlichen sah sie, wie Wanja bluffte. Er war aus sich heraus eine Granate, eine Testostoronbombe – er suchte den Kampf auf der Straße, den zu vermeiden, er seinen Schülern nahelegte, und er konnte im Kampf ohne weiteres auf die meisten seiner Trainingslektionen verzichten. Sam sah, dass er sich vor allem mit Krafttraining aufhielt ... sie sah seine Eitelkeit, seine Unverfrorenheit ... seine Geschäftstüchtigkeit. Jede öffentliche Vorführung mit den Mädchen aus gutem Hause führte ihm neue Schüler zu. Ihr helles Ki ap war Marktgeschrei für ihn. Oft kamen nach den Kinder auch die Eltern zum Training. Die strebten nicht mehr nach Unverwundbarkeit, sondern wollten was für ihre Gesundheit und für ihr seelisches Gleichgewicht tun. Wanja ließ sich eine Menge für sie einfallen, sein bester Einfall war aber, ihnen Lena und Lisa als Gruppenleiterinnen zu präsentieren. In ihrer Gegenwart verflüchtigte sich der Fußschweißmief im dojang. In ihren doboks wirkten sie adrett wie Stewardessen. Sie waren ungemein akkurat, im Training ernsthaft und sonst von überwältigender Lachlust.

 

Lena brauchte ein paar Jahre, bis ihr klar wurde, dass sie in Wanja nie ernsthaft verliebt war. Lisa brauchte ein paar Jahre, bis ihr klar wurde, dass sie Wanja geliebt hat und nur Männer wie Wanja lieben kann. Sie weiß, dass Lena sich zu ihr auch körperlich hingezogen fühlt, auf eine leichtfüßige, unernste Weise. Lena spiegelt sich in Lisa, sie gleichen einander schwesterlich. Sie finden sich schön, mit allem narzisstischen Drum und Dran. Von ihnen geht etwas aus, dass andere einnimmt und selbstverständlich von einer Doppelexistenz ausgehen lässt, so wie bei eineiigen Zwillingen. Wer genau hinsieht, bemerkt die Knackpunkte dieser Harmonie. Ein hagere, fast schon bissige Härte fräst Lenas Züge. Noch ein paar Jahre und sie könnte verdorben und runzelig erscheinen, so wie eine, die sich schon lange nicht mehr richtig ausgeschlafen hat. Lisa konkurriert stärker als sie zugibt. Immer wieder meint sie aus Lenas Schatten heraustreten und einmal die Größere und Blendendere sein zu müssen ... um, wenn es darauf ankommt, irgendwie zu schmelzen auf den glühenden Kohlen einer angeborenen Nachgiebigkeit.

 

Lena hat nie einen bürgerlichen Beruf angestrebt, nach dem Abitur ein bißchen dies und das studiert und dann bloß noch gejobbt. Sie steht gern auf Märkten und trinkt Grauburgunder, in der Gesellschaft rotköpfiger Schluckspechte aus der Generation ihres Vaters. So habe ich sie kennengelernt. Ich bemerkte sie eben vor dem Fisch Brenner. Ich gehe immer noch in diesen Waschsalon an der Glauburg-, Ecke Spohrstraße. Ich war da schon als der Rock´n´Roller noch in der Burg arbeitete - und wir eine Weile zusammen wohnten. Das hat dann unserer Freundschaft den Rest gegeben. Mir fiel das ein, als ich den Rock´n´Roller vorhin auf der Straße sah, auf seinem Weg zum Weidenhof ... rundrückig, wie belastet von einem schweren Rucksack.

 

Meine Wäsche ist trocken. Ich lege sie zusammen, in einem Riesentumult mit Hunden und Heroinabhängigen und Leuten, die das alles lieber ein bißchen geordneter hätten, sich aber nicht trauen, mehr als ihren Mißmut zur Schau zu stellen. Alle Waschmaschinen sind belegt, in den Trocknertrommeln flattert die Privatsphäre. Ich kann sowas nicht sehen, ohne an Flucht und Vertreibung zu denken. Vorsichtig schiebe ich durch die Menge ab ins Freie. Ich fühle mich genauso sauber wie meine Wäsche und will keinen unmittelbaren Kontakt mit diesen Kranken und Fertigen und Altersarmen und Studenten ... nicht jetzt, so kurz bevor ich meinem Leben eine neue Richtung geben werde. Ich versuche mich daran zu erinnern, wie es war, ins Training zu gehen, den dobok zusammengefaltet in der Adidastasche. Mein Athletengefühl habe ich schon vor zwanzig Jahren verloren, aber in der letzten Zeit ist eine beängstigende Schwächlichkeit an die Stelle vertrauter Robustheit getreten. So kann ich nicht weiterleben.

 

Auf dem Boden meiner Tasche fährt Duschgel aus dem Schleckermarkt am Anfang der Neuhofstraße mit auf dem Rad. Zuhause benutze ich Seife, aber die kann man nicht ins Training mitnehmen. Eine Erinnerung an die Plastikschalen, zu der Zeit als es noch kein Duschgel gab und ich Fußball beim KSV spielte. Ich war schon mit sechzehn ausgewachsen, bei einem Gewicht von fünfzig Kilo. Mein Kampfgewicht als Zwanzigjähriger betrug siebzig Kilo. Heute bin ich noch mal fünfundzwanzig Kilo schwerer, ein kurzatmiger Fettsack, innerlich wie gebeizt von Zigaretten und Alkohol. Auf der Schwarzburgstraße kommt mir einer in den Sinn, an den ich bestimmt schon fünfundzwanzig Jahre nicht mehr gedacht habe. Frank war um das Jahr 1980 Niedersachsenmeister in der Allkategorie ... ein bäurischer Brocken, mit der arglosen Rücksichtslosigkeit von Männern, die für Empfindungszwischenlagen zu bullig gebaut sind. Es gibt Typen, die sich ein breites Kreuz zulegen und doch ein Leben lang ihre Erscheinung an Eigenschaften verraten, die auf den ersten Blick überhaupt nicht zu ihnen zu passen scheinen. Frank war kein Fake, der Fachmann erkennt das an den Handgelenken und Unterarmen ... jede Kette ist so stark wie ihr schwächsten Glied. Er arbeitete, wie damals alle Fortgeschrittenen im Verein, als Türsteher. Jemand schlug ihn nieder, mit einem Schlag wie aus dem Nichts. Nach diesem, unter der Überschrift dumm gelaufen, für die meisten kaum nachhaltig wirkenden Arbeitsunfall, war Frank zu nichts mehr zu gebrauchen. Eine Weile kam er noch mit Whiskeycolafahne zum Training, dann ließ er es ganz. Wir sahen uns noch eine Weile nachts an Göttinger Tresen, bis es Frank lästig wurde, Leute mit Zukunft zu grüßen. Ein ganz anderer Fall war Berthold. Der bekam in jungen Jahren Hodenkrebs, trainierte auch noch furchtbar krank und klapprig in der letzten Reihe mit, überstand Chemotherapie und Operation und brachte es schließlich fertig, mit einem Hoden ein Kind zu zeugen.

 

In meinen guten Jahren war ich ein Typ zwischen diesen Typen, von Natur aus gut beieinander und bewegungsgeil. Das hieß aber nicht, dass ich je ernsthaft an mir gearbeitet hätte. Ich erinnere mich an mich auch als an einen Poser, der sich gern im Spiegel sah, das ist lang her. Heute kann ich meinen Anblick kaum ertragen, ich schlenkere mit der schweren Wäschelast über die Schwarzburgstraße und streife die extralange Limousine mit den dunklen Scheiben. Ihr Fahrer verbringt halbe Tage auf dem Bordstein ... ein Strizzi wie aus einem Fünfzigerjahrebilderbuch.

 

Meine Höhle hat mich wieder. Als ich die Bude anmietete, sah ich mich noch dazu in der Lage, ein Büro zu unterhalten. Seit ein paar Jahren habe ich keine andere Wohnung mehr. Ich erhöhe die Wäschestapel auf den Ordnern, meinem Lebensarchiv. Meine Nachbarin ist in ihrem Schlupfloch, sie hat immer noch nicht kapiert wie dünn die Wände sind. Ihre Vorgänger habe ich alle kaum mitgekriegt, kaum einer blieb länger als ein paar Monate in dieser Einundeinhalbdachkammernnotunterkunft. Aber Silvana hat sich eingerichtet, den ollen Teppich raus ruppen lassen und feine Fliesen frei gelegt. Sie versucht neben mir ernsthaft zu wohnen, allerdings immer mit der Option eines Ausweichquartiers. Viel Zeit verbringt sie sonstwo, ich schätze nicht nur bei ihrem Freund, der mich stets mit düsterem Blick bedenkt, wenn wir uns im Treppenhaus über den Weg laufen, sondern auch bei ihrem Vater, einem dieser Größenwahnabhänger mit einem Audicombi und einer Latte von Affären im Viertel, mit in ihrer Panik oder was auch immer, mächtig zugänglichen Buchhändlerinnen und Soziologiedozentinnen. Für Männer zwischen dreißig und fünfzig ist das Nordend ein Liebeseldorado, als ich noch der Journalist und Schriftsteller Herr T. war, konnte ich mich vor Angeboten kaum retten. In diesen finanziell unabhängigen und von allem Möglichen enttäuschten Frauen haust ein Hunger, den Angst vor schwindener Attraktivität ständig vergrößert. Vielleicht geht es nicht nur mir so, dass Frauen der eigenen Generation irgendwann wahrgenommen werden wie Frauen aus der Generation ihrer Mütter, während ihre Töchter einem gerade recht, wenn auch nicht mehr legitim erreichbar erscheinen. Auch Silvana hat so eine Art, neulich bat sie mich herein. Ohne Absicht züchte ich in ihr Neugier. In Ansätzen unterhalten wir fast schon so etwas wie eine Wohngemeinschaft, jedenfalls stellen wir gemeinsam zu nutzende Flächen mit unserem Kram voll, einig darin, dass im Korridor nicht geputzt wird. Dann gibts auch keinen Streit.

 

Ich hielt Silvana zuerst für eine Studentin, aber da scheint irgendwas nicht geklappt zu haben. Ich ahne eine Verminderung, einen biografischen Riss. Ich weiß nicht, woher sie ihr unbedingt freundliches Betragen hat. Sie ist so verbindlich wie diese jungen Frauen in den Reisebüros, so wie manche Kellnerinnen, bei denen man auch nicht weiß, machen die das hauptsächlich oder könnte man sie irgendwo auch noch bessergestellt treffen.

Ich höre Silvana oft tagsüber, vielleicht arbeitet sie überhaupt nicht oder bloß so als permanente Aushilfe in der Agentur ihres Vaters oder im Geschäft eines seiner Spezis … in der Schattenwelt des Wohlstands.

 

Ich sichte eingegangene Nachrichten. Nichts von Anne und Anke dabei. Den beiden bin ich aus dem Sinn geraten. Enttäuschung glimmt auf, die absurde Empfindung, ausgenutzt worden zu sein. Ich habe noch eine alte Dobokhose, packe sie mit dem Palmolive-Aroma Therapy Duschgel in den Rucksack.

 

Jamal Tuschick

 

Von Jamal Tuschick erschien im Februar 2008 der mit Gisela Getty und Jutta Winkelmann zusammen verfasste Lebensbericht „DIE ZWILLINGE oder VOM VERSUCH, GELD UND GEIST ZU KÜSSEN“ als erste Publikation des soeben in Frankfurt am Main von Anya Schutzbach und Rainer Weiss gegründeten Verlags weissbooks.

 

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