22. März 2008

Der erste Ferientag

 

Peter Kurzeck erzählt an einer Stelle von seinen ganz frühen Lektüreerfahrungen. Die Kinderbücher, die er damals gelesen habe, hätten sehr häufig mit einer Beschreibung des ersten Ferientags der infantilen Protagonisten begonnen, bevor dann das unvermeidliche passiert sei, das spannende Abenteuer. Nun sei zwar rein gar nichts gegen Spannung und Abenteuer einzuwenden, aber wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte es auch einfach so weitergehen können mit der Beschreibung des ganz profanen ersten Ferientages. „Aber solche Bücher gab es nicht.“

Mit „Ein Sommer, der bleibt“ hat sich Kurzeck jetzt, ein halbes Jahrhundert später, dieses Buch selbst geschrieben – bzw. gesprochen, denn eine schriftliche Fassung dieses Textes existiert nicht. Es ist ein Erzählexperiment, das hier im kleinen, aber für seine ambitionierten, elaborierten Hörwerke längst bekannten supposé Verlag erschienen ist. Kurzeck revitalisiert die ursprüngliche orale Erzähltradition und bezieht sich dabei erklärtermaßen auf die alten Bluesmen, die er in hessischen Army-Clubs gesehen hat: auf ihre live aus dem Dialog mit dem Publikum hervorgehenden, als Überleitung zum nächsten Song extemporierten, improvisierten, zwischen Anekdoten, Mythen und allgemeinen Lebensbetrachtungen oszillierenden Suadas.

Genau das macht er hier: ausgehend von einem Gespräch mit dem Verleger Klaus Sander, dessen Wortbeiträge dann aber rausgeschnitten wurden, erzählt er frei, unbeschwert, aber konzentriert vom „Dorf seiner Kindheit“, Staufenberg bei Gießen Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre. Mit einerseits heiterer, die kindliche Euphorie gewissermaßen nacherlebender, andererseits aber auch leicht wehmütiger, nämlich immer wieder vom Verlust kündender Stimmkoloratur beschwört er diese längst vergangene Welt noch einmal herauf.

Kurzecks Erinnerungsvermögen ist stupend, ebenso die Fähigkeit, den Gedankenstrom ad hoc zu konzentrieren und in eine klare, weltkundige, bildlich-plastische und auch auf den Dialekt zurückgreifende Sprache zu überführen. Man folgt ihm gern während der fast fünf Stunden, und das ist nicht nur ein Resultat der schlafwandlerisch sicheren Dramaturgie seiner Erzähldiktion selbst, sondern auch des effektiven Schnitts und der sinnträchtigen Montage dieser unterschiedlich langen Impromptus. Und man folgt ihm mit Spannung, obwohl er hier ernst macht mit seinem eingangs erwähnten poetologischen Programm – und das Abenteuer ganz weglässt, stattdessen skrupulös, sensibilisiert für die Unwägbarkeiten, für das Flüchtige und Ephemere, seinen ganz persönlichen langen ersten Ferientag illuminiert.

Er erzählt von den „Ameisenhochzeiten“, vom „Dengeln der Sensen“, vom „Singen“ der Motorsäge in der Entfernung, dem Geschmack der kalten Fleischwurst, vom Baden in der Lahn, vom betäubenden Lärm der Dreschmaschine, von dem Duft der frisch gestopften Strohsäcke, auf denen er und die anderen Flüchtlinge aus Böhmen schlafen müssen, weil sie keine Betten besitzen, von den unbefestigten Straßen, die bei Regen morastig, bei großer Hitze zu Sand und dann zu Staub werden, von den großen Waschtagen, an denen man die Frauen nicht ansprechen darf, weil man sowieso keine vernünftige Antwort bekommt – und immer wieder entfährt ihm dabei ein schwermütiger Seufzer: „Das war sehr schön eigentlich.“ Denn es kommt nie wieder.

Trotzdem macht er seine nostalgische Erzählung von Anfang an durchlässig für die böse Realität. Staufenberg ist wenn überhaupt eine gebrochene Idylle. So werden die Kurzecks, die Mutter mit ihm und der Schwester, der Vater ist noch in Kriegsgefangenschaft, keineswegs mit offenen Armen empfangen, sondern wie alle „Flüchtlinge“ scheel angesehen. Schon dem Kleinkind fällt die Geringschätzung auf, mit der man neben den Umsiedlern nicht zuletzt auch die Kinder im Dorf straft. Ein rigide-utilitaristischer, liebloser Protestantismus scheint das soziale Gefüge zu prägen und zusammenzuhalten. Es gibt kein Spielzeug, kaum Bücher, die Kinder müssen mithelfen im Stall und bei der Feldarbeit. Eine stehende Wendung im Dorf, mit der die Eltern sie rufen, lautet: „Du Missgeburt“. Und man merkt Kurzeck heute noch seine Verständnislosigkeit an, als er darauf zu sprechen kommt. Vielleicht hätten sie ihre Kinder schon geliebt, versucht er eine Erklärung, um die Dorfbewohner nicht verurteilen zu müssen, es aber nicht zeigen können. Oder vielleicht sei es ein Versuch gewesen, sie auf das Leben mit seinen Härten vorzubereiten. Denn alle wissen, dass sie sich zuschanden arbeiten, weshalb es verpönt ist, darüber zu sprechen. Kurzeck beschreibt exemplarisch die auszehrende Industrialisierung einer immer noch agrikulturell strukturierten Region, die 16-Stunden-Tage der Stahlarbeiter und Kleinbauern in Personalunion, die nie fertig werden, ständig der Zeit hinterherlaufen. Ihm fällt der „Fabrikschritt“ der Arbeiter auch deshalb so auf, weil die gleichen Männer nach Feierabend noch ihren kleinen Bauernhof bewirtschaften und dabei in einen ganz anderen Gang verfallen.

Dieses Hörbuch ist voll von solchen Klein- und Kleinstbeobachtungen und demonstriert einmal mehr, dass die Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Provinz nur in dieser Form adäquat zu beschreiben ist. Eben literarisch. Wenn man „Ein Sommer, der bleibt“ mit seinem gedruckten Roman „Kein Frühling“ vergleicht, der ebenfalls auf die Staufenberger Kindheit zurückgreift und jetzt in einer maßgeblich erweiterten Fassung vorliegt, wenn man also die gekörnte, elliptische, manchmal ein bisschen kurzatmige Diktion der Schrift diesem ruhigen, entspannten, eingängigen Rede-Parlando gegenüberstellt, dann könnte man sich sogar fragen, ob nicht das Mündliche der eigentliche, der ideale Aggregatzustand der Prosa von Peter Kurzeck sei.

 

Frank Schäfer

 

 

Peter Kurzeck: Ein Sommer, der bleibt. Peter Kurzeck erzählt das Dorf seiner Kindheit. Supposé, Berlin 2007. 4 Audio-CDs, 290 Minuten, 34,80 Euro

 

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