22. März 2008

Der amerikanische Albtraum

 

Friedlich liegt es da, das Dorf, inmitten von Feldern und Hainen. Gebogen wie ein übergroßer Bohnensamen sieht man die Häuser angeordnet zwischen Bäumen stehen, inmitten der das Dorf umgebenden Felder. Ohne Zweifel könnte das Schwarz-Weiß-Bild mit dem lapidaren Untertitel „Photo Nr. 23“ eine Siedlung mitten in Deutschland, Polen oder Frankreich zeigen. Doch die Stille des Bildes täuscht. Das Foto zeigt eine Luftaufnahme des vietnamesischen Dorfes Son My, besser bekannt unter dem Namen My Lai, welcher zum Inbegriff amerikanischer Grausamkeit wurde. My Lai steht für das sinnlose, hemmungslose und grenzenlose Morden der Amerikaner, zu der es im Vietnamkrieg immer wieder gekommen ist. Hier verübten amerikanische Truppen ein Massaker, dem nahezu alle Dorfbewohner zum Opfer fielen.

Niemals zuvor hat ein Ereignis die amerikanische Gesellschaft so stark gespalten, wie der Vietnam-Krieg. Angesichts der Bedeutung dieser Erfahrungen für die amerikanische Nation ist es verwunderlich, dass die amerikanischen Historiker die militärischen Dokumente zum Vietnamkrieg bisher nahezu unberührt gelassen haben. Mit Bernd Greiners „Krieg ohne Fronten“ liegt nun erstmals eine akribische Analyse der existierenden Dokumentbestände vor. Der deutsche Historiker hat sich als Erster durch die gesamten Akten der Arbeitsgruppe Kriegsverbrechen in Vietnam (Vietnam War Crimes Working Group – VWCWG) sowie der sogenannten Peers-Kommission, die den Fall My Lai untersuchte, gearbeitet. Die Dokumente der Peers-Kommission füllen weit mehr als einhundert Archivboxen, die VWCGW-Bestände umfassen nochmals mindestens 10.000 Blatt. Gestützt auf diese bisher nicht systematisierten und nicht ausgewerteten historischen Belege geht Greiner in seinem Buch den Befehlsstrukturen und dem Vorgehen des amerikanischen Militärs in Vietnam auf den Grund. Darüber hinaus versucht er, den Kriegsalltag der Soldaten sowie deren Einstellungen zu rekonstruieren. Seine zentrale Frage dabei ist stets die nach der nationalen Ignoranz der Grenze, nach den Gründen für die Politik des „Nicht-Aufhören-Könnens“ in einem Krieg, der doch längst verloren war.

Ein „totaler Krieg“ – nichts anderes sei Vietnam gewesen, so Greiner. Und er hat recht! Das Kriegsrecht wurde in Vietnam auf fatale Weise ignoriert, indem die Unterscheidung zwischen Soldaten und Zivilpersonen völlig aufgehoben wurde. Die zivilen Opfer, zumindest zu Beginn des Kriegs, würden heute wohl makaber unter dem Begriff „Kollateralschaden“ versammelt und abgehakt werden, doch Greiner gelingt es, einen kausalen Zusammenhang zwischen militärischer Order und dem systematischen Ansteigen willkürlichen Mordens nachzuweisen. Mit der Ausrufung der Politik des „Suche und Zerstöre“ (sog. search and destroy) und der „Todesopferzählung“ (sog. body count) – zwei Strategien, um die tödliche Effizienz der eigenen Truppen im Kampf gegen den vietnamesischen Feind zu steigern – provozierte die Militärführung einen wilden Wettkampf zwischen den einzelnen Einheiten um die höchsten Opferzahlen. Dies führte dazu, dass die Soldaten in den adrenalingeschwängerten Kampfsituationen jegliche Menschlichkeit und Humanität ablegten und „umstandslos auf alles, was sich bewegte [schossen], ohne Sichtkontakt, ohne Identifizierung und ohne Rücksicht auf die Folgen“.

Als der Politologe und Kriegsexperte Herfried Münkler vor nunmehr sechs Jahren seine These „Die neuen Kriege“ veröffentlichte, welche unter anderem von asymmetrischen Kämpfen geprägt sind, dachten alle sofort an den Anti-Terror-Kampf der USA in Afghanistan oder die angezettelten Kämpfe um Ressourcen afrikanischer Warlords. Doch kaum jemand dachte an den Krieg in Vietnam, in dem sich die amerikanischen Soldaten an einem unsichtbaren Feind aufrieben. Das wahllose „Geballere beim Betreten von Siedlungen“, so Greiner, das Abdrängen und Überfahren von Vietnamesen, das Vergiften von Essensrationen, das Niederbrennen ganzer Siedlungen sowie die massenhaften Vergewaltigungen vietnamesischer Frauen stellt letztlich eine symbolische Inszenierung von Soldaten dar, die sich, in Ermangelung tatsächlicher Kämpfe, Kampfzonen imaginierten und in ihrem Wahn alles und jeden zum Feind erklärten. My Lai war ein solch eingebildetes Kampfgebiet, welches amerikanische Soldaten, das Sturmgewehr auf Automatikfeuer gestellt, binnen weniger Minuten in ein wahres Schlachtfeld verwandelten.

Die Vietnamesen wurden zum Versuchsobjekt eines von der Leine gelassenen amerikanischen Militärs und somit zum individuellen Prüfstein, wie weit jeder Einzelne gehen konnte. „Wenn du einmal angefangen hast, fällt es sehr leicht, weiterzumachen. Wenn Du erst einmal angefangen hast“, schildert ein Soldat den individuellen Kontrollverlust, der den Truppenalltag bestimmte. Bernd Greiners Analyse der menschenfeindlichen Logik des Vietnamkriegs mutet daher zuweilen wie eine erschütternde Sammlung von Horrorszenarien an, die dem Leser bisher von anderen Kriegsschauplätzen des 20. Jahrhunderts im Gedächtnis hängen blieben. Die Fotos gefangen genommener vietnamesischer Kämpfer gleichen den unrühmlichen Aufnahmen aus dem Irak oder dem Sicherheitsgefängnis Guantánamo bis ins Detail. Die dokumentierten Foltermeldungen, die Belege vom Urinieren auf Gefangene, dem vorgetäuschten Ertränken (sog. waterboarding) oder dem Misshandeln mit elektronischen Stromstößen berichten, lassen stark an die Ereignisse in dem irakischen Gefängnis Abu Ghuraib denken. Das Herausbrechen von Zahngold, das auch von den deutschen Nationalsozialisten praktiziert wurde, stellt wohl den unrühmlichen Höhepunkt der Schändungen amerikanischer Soldaten in Vietnam dar.

Bei aller Grausamkeit, die Greiner aus den Akten und Belegen entgegenströmt, geht es ihm nicht um eine einfache Anklage amerikanischer Soldaten. Er will wissen, ob die militärische und politische Führung der USA diese Grausamkeiten toleriert oder gar gefördert und gefordert hat. Da zivile Prozesse hinsichtlich der Verbrechen in Vietnam von der Regierung verhindert wurden, wertete Greiner für diesen Zweck zumindest die Akten der militärischen Kriminaluntersuchungsdivision (Criminal Investigation Division – CID) aus. Hier kommt er zu dem Schluss, dass viele Ermittlungen im Sande verliefen, da der interne Druck in den Truppen zu Lüge und Sabotage anregte. Aussagen und Hinweisen wurde oft nicht nachgegangen, überlebende Zeugen wurden nicht angehört und weiterführenden Angaben nicht nachgegangen, Akten wurden vernichtet oder nachlässig sortiert, sodass es in vielen Fällen erst gar nicht zur Anklage kam. Vieles spricht dafür, den militärischen Blutrausch in Vietnam, wenn schon nicht als von oben gewollt, so doch zumindest als von der Regierung akzeptiert und gedeckt einzustufen.

Ausgerechnet die einzige tatsächliche Strafverfolgung in Vietnam verübter Kriegsverbrechen (der von My Lai) sorgte für eine landesweite Empörungswelle. Der Ärger der Bevölkerung drehte sich vor allem um die Frage, was der Staat von seinen Bürgern verlangen kann und welche Sicherheiten dem Bürger im Gegenzug dafür geboten werden. Es ging also darum, wer sich für die Entmenschlichung der Soldaten in Vietnam zu verantworten hatte: das Individuum oder der Staat? Ist also der militärische Oberbefehlshaber in der Pflicht, die Kontrolle über die Situation zu wahren, oder kann der einzelne Soldat als logisch denkendes und für sein Handeln verantwortliches Wesen zur Rechenschaft gezogen werden? Für die amerikanische Bevölkerung war völlig klar, dass der amerikanische Truppenterror staatlich gewollt war.

Diese nationale Ablehnung jeglicher Verantwortung lässt eine unangenehme Parallele zum Irakkrieg und der aktuellen Rolle der Amerikaner im Zweistromland aufkommen. Welche Bedeutung dies auch heute noch hat, beweist der amerikanische Wahlkampf dieser Tage, wenn es darum geht, welcher Kandidat schon immer für oder gegen den Krieg votiert hat und wer den Abzug der eigenen Truppen befürwortet oder ablehnt. An Vietnam wie auch an den Irak schießt sich daher eine zentrale Fragestellung an: Konnte die amerikanische Nation ihre Lehren aus Vietnam ziehen? Skepsis ist hier angebracht, betrachtet man die im Irak verübten Gräuel, denn auch hier geht es schließlich um die Frage des „Aufhören-Könnens“ oder „Durchhalten-Müssens“. Der Krieg des 20. Jahrhunderts in seiner exzessivsten Form wurde offensichtlich in Vietnam erstmals zur absoluten Norm, die alle anderen Maßstäbe außer Kraft setzte. Und diese Norm scheint bis heute nicht gerade gerückt.

Was Bernd Greiner in „Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam“ detailgenau schildert, lässt den Leser erschauern und an der menschlichen Vernunft zweifeln. Greiner schreibt schonungslos offen und direkt, er analysiert die dargelegten Fakten scharfsinnig, und es gelingt ihm, die tiefgründige Aktualität des Vietnamkriegs zum Vorschein zu bringen. Greiner beweist: Man kann aus der Geschichte lernen. Allerdings erfordert dies eine solch genaue Untersuchung, wie sie nun mit seinem Buch vorliegt.

 

Thomas Hummitzsch

(Der Text ist ebenfalls erschienen auf www.titel-forum.de)

 

Bernd Greiner: Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam, Hamburger Edition 2007, 595 S., 35,00 €

 

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