18. März 2008

Interview mit Roy Andersson

 

 

 

Roy Anderssons letzter Film „Songs from the second floor“ veranlasste einen amerikanischen Kritiker zu der ironischen Vermutung, dass hier „Buñuel, Tati, Beckett, Buster Keaton und Werner Herzog gemeinsam an einem Film gearbeitet hätten“. Auch Anderssons neustes Werk „Das jüngste Gewitter“, das am 20. März in die Kinos kommt, lässt sich schwer einordnen. In jedem Fall besticht der schwedische Regisseur einmal mehr mit einer wohltuenden Mischung aus surrealen, absurden und tragisch-komischen Einfällen. Ein Interview mit dem 64-jährigen Filmemacher.

 

 

Der Grund, weswegen Sie heute Abend hier sind: Sie sind mit „Das jüngste Gewitter“ für den europäischen Filmpreis nominiert. Kennen Sie eigentlich bereits einige der Kollegen wie Stephen Frears, Fatih Akin oder Christian Mungiu, die mit Ihnen um den Preis konkurrieren?

 

Nein, wir werden nachher Hände schütteln und gemeinsam essen. Persönlich kennen tue ich allerdings niemand von Ihnen ... Das liegt auch daran: Wenn ich an meinen Filmen arbeite, habe ich nur ganz wenig Zeit für andere Dinge. Ehrlich gesagt stört mich das auch selbst ein wenig. Aber es ist nun mal so: Ich warte, bis ich eine Arbeit vollständig beendet habe, und erst danach schaue ich mir alles das an, das ich in der Zwischenzeit verpasst habe.

 

An Ihrem aktuellen Werk haben Sie sieben Jahre gearbeitet, da müssen Sie eine Menge verpasst haben?

 

Ja, es sind genau sieben Jahre, seit „Songs from the second floor“. Drei Jahre lang habe ich nachgedacht, gewartet und auch ein bisschen Geld verdient.

 

Mit Werbung, nehme ich an.

 

Ja, um überhaupt die Möglichkeit zu haben anzufangen. Denn ich glaube nicht, dass ein Drehbuch für andere Leute aufschlussreich genug sein kann. So habe ich mit meinem eigenen Geld das erste Viertel des Films, den Anfang also, auf eigene Faust gedreht. So hatte ich etwas, das ich vorführen konnte. Das ist so meine Art zu arbeiten, bei „Songs from the second floor“ habe ich es genauso gemacht.

 

Wem haben Sie diese erste Version gezeigt?

 

Hier in Berlin, während der Berlinale, habe ich den Leuten von Arte, dem ZDF und dem französischen LaSept vor drei oder vier Jahren meine Idee gezeigt. 20 Minuten waren das, und alle wollten sofort dabei sein.

 

Konnten Sie so frei weiter arbeiten wie zuvor?

 

Ja, mir wurden sehr viele Freiheiten gewährt. Der European Film Fund war übrigens auch mit von der Partie und ein japanischer Verleih hat eine hohe Summe für die Vorführungsrechte gezahlt. Ganz anders war die Lage in Schweden, dort bekam ich eher Probleme.

 

Wie kam das?

 

Die Leute gönnen mir meinen internationalen Erfolg einfach nicht, außerdem ist das schwedische Kino ein hoffnungsloser Fall von Vetternwirtschaft.

 

Aber bei Ihnen geht es noch nicht so weit wie bei Ingmar Bergman? Der hat ja bekanntlich wegen einer Steueraffäre das Land verlassen.

 

Das denke ich nicht, aber Ingmar Bergman kannte ich übrigens ganz gut: Er war der so genannte „Inspektor“ der Filmhochschule, an der ich meinen Abschluss gemacht habe. Er stand noch über dem Direktor. Ich war von 1967 bis 1969 an der Schule und habe dort tatsächlich eine sehr gute Ausbildung erhalten. Wir waren damals überwiegend sehr links und haben gegen den Vietnam-Krieg demonstriert, und Ingmar Bergman war sehr konservativ eingestellt. Zweimal pro Semester mussten wir in seinem Büro erscheinen, dort versuchte er uns zu verbieten, politische Filme zu drehen. Ehrlich gesagt hat er mir richtiggehend gedroht: „Wenn Sie mit solchen Sachen weiter machen, wird es nie klappen mit einem Spielfilm!“

 

Wie denken Sie rückblickend über Bergman?

 

Er war einfach sehr konservativ.

 

Und wie denken Sie über ihn als Regisseur?

 

Bergman hat ungefähr 40 Filme gedreht, ich halte eigentlich nur drei für richtig gut – Arbeiten, die er in den sechziger Jahren gedreht hat: „Persona“, „Das Schweigen“ und „Passion“, das sind phantastische Filme.

 

Zurück zu Ihnen selbst, wenn Sie drei Jahren an einem Drehbuch arbeiten. Wie darf man sich das vorstellen? Beobachten Sie fortwährend die Menschen, setzen Sie sich ins Café und halten nach Szenen Ausschau?

 

Ich bin ständig auf der Suche. Den Stoff für einen Film, einen Roman oder eine Kurzgeschichte kann ich überall und jederzeit entdecken. Es geht einfach darum, tiefer in eine Thematik oder ein Schicksal einzudringen. Neben der Realität inspiriert mich Malerei, Fotografie und natürlich Bücher.

 

Und das Theater?

 

Das nicht so sehr. Ich habe es einmal selbst versucht, Theater zu inszenieren. „Onkel Wanja“ nach Tschechow, ich hatte sehr gute Schauspieler zur Verfügung, war aber mit dem Ergebnis nicht zufrieden. Ich glaube die Zeit, die für die Proben veranschlagt war, war einfach zu kurz. Theater mache ich wohl nie wieder.

 

Aber Ihren Filmen ist eine gewisse Vorliebe für Dramatiker wie Ionesco anzusehen.

 

Selbstverständlich. Am meisten verehre ich allerdings Samuel Beckett. Was die Malerei angeht, schätze ich besonders die Zeit zwischen den Weltkriegen: Von den deutschen mag ich George Grosz, Otto Dix und auch Max Beckmann. Ich mag auch eine Menge Schriftsteller aus der Zeit: Hans Fallada, Alfred Döblin und sein „Berlin Alexanderplatz“. Auch die Filme aus dieser Zeit gefallen mir: Fritz Langs frühe Filme oder Josef von Sternbergs „Blauer Engel“, „Der letzte Mann“ und andere Arbeiten von Friedrich Wilhelm Murnau.

 

Aber was das Kino angeht, sind Sie kein großer Freund der Montage, oder?

 

Meine Philosophie lautet: Schnitte nur dann, wenn es unbedingt nötig ist. Es geht mir darum, dem Zuschauer genügend Zeit zu geben, um sich die Bilder anzuschauen. Ich will ihn allein lassen und nicht durch unnötige Bewegungen ablenken.

 

Wie lange brauchen Sie für eine Ihrer unglaublich durchchoreographierten Szenen?

 

Sehr lange. Im Schnitt brauche ich einen Monat für eine Szene. Einmal habe ich 118 Takes für eine einzige Szene gebraucht, das war allerdings ein Werbespot. Was die Spielfilme angeht, waren glaube ich 91 Versuche Rekord. Aber ich weiß, dass Charlie Chaplin in „Goldfieber“ einmal 234 Takes benötigt hat, um eine im Grunde simple Szene zu drehen, in der er stolpert und hinfällt. Da bin ich noch ein gutes Stück von entfernt.

 

Stanley Kubrick war auch solch ein Perfektionist.

 

Und diese Perfektion macht auch die Qualität seiner Filme aus. Ich bewundere ihn unendlich für das, was er mit „Barry Lyndon“ geschaffen hat.

 

Wie stehen die Darsteller zu Ihrem Hang zum Perfektionismus?

 

Jeder, der an einem Film mitwirkt, mag es doch, wenn er merkt, dass Qualität im Vordergrund steht. Unzufrieden ist man dagegen mit dem Gefühl, dass das, was man gerade schafft, keine Bedeutung und Qualität besitzt. Für etwas Bleibendes, Sinnvolles kann sich ein Schauspieler richtiggehend zerreißen. Natürlich ist es auch meine Aufgabe, die Schauspieler in diese Richtung zu bringen, sie zu inspirieren und zu fordern.

 

Bis auf einen Darsteller sind alle Schauspieler in Ihrem Film Laien. Wie machen Sie die ausfindig?

 

Auf der Straße, in Restaurants ... überall. Wir geben auch Anzeigen auf, um Komparsen zu finden. Dann lassen wir etwa 300 kommen, aus denen vielleicht zehn auch richtig gut schauspielern können. Jeder von uns, die wir hier sitzen, könnte ein guter Schauspieler sein, „davon bin ich überzeugt“ (deutsch).

 

Sie benutzen schon seit langem für alle Szenen ein und dasselbe Objektiv, ein 16mm-Weitwinkel-Objektiv. Wie sind Sie dazu gekommen?

 

Das ist schon ein sehr ungewöhnliches Objektiv. Es ist das letzte in der Reihe der Objektive für eine 35-mm-Kamera. Danach würde man schon mit einem so genanten Fischauge arbeiten. Wie bin ich dazu gekommen? Ich bin einfach der Meinung, dass der Raum, in dem sich ein Mensch befindet, mehr über den Menschen erzählt als etwa die Züge in seinem Gesicht. Der Raum definiert den Menschen. Auch in der Malerei interessiere ich mich weniger für die Porträtmalerei, für mich sind die wichtigsten Bilder der Kunstgeschichte jene, in denen ein weiter, offener Blick gewährt wird. Breite Perspektiven, in denen man sehen kann, in welchen Gegebenheiten Menschen leben und wohnen. Auch in der Fotografie sind Weitwinkel-Aufnahmen bedeutsam. Es geht mir auch hier um die Ruhe, die dem Betrachter gewährt wird, die Möglichkeit, eine Szenerie eingehend zu betrachten. So viele Filme, die heute gemacht werden, sind von einer beweglichen Kamera und schnellen Schnitten dominiert. Die meiste Zeit steht dahinter ein Mangel an Zeit und Geduld. Oft stehen hinter diesem Stil auch ökonomische Gründe, die schnellen Schnitte und das alles sind eine Notlösung (deutsch), weil es anders mit den vorhandenen Mitteln nicht zu bewerkstelligen wäre. Das ist schade, überhaupt leben wir heute in „Notlösungs“-Zeiten.

 

Aber spiegelt sich in den immer mehr an Geschwindigkeit gewinnenden Filmen nicht auch das stetig an Fahrt gewinnende moderne Leben?

 

Ja, das Leben wird immer schneller und die Menschen, die in diesen Zeiten leben, werden nicht glücklicher – im Gegenteil: Sie sind immer schwerer zufrieden zu stellen. Ich hoffe zum Beispiel, dass sich das Tempo der Moderne nicht auch auf die Änderungen des Klimas überträgt.

 

Spielt denn nicht auch der Krieg, beispielsweise der im Irak, eine Rolle in Ihrem Film?

 

Sie spielen wahrscheinlich auf die Szene mit den Bombern an. Es geht um das Potenzial, das wir auf Erden haben, um uns und andere innerhalb von nur fünf Sekunden zu zerstören. Der Film ist von Nagasaki, Hiroshima, Dresden und natürlich auch vom Irak inspiriert. Es geht um die Unschuldigen, die es stets bei den Bombardements trifft. Auf eine Weise verbirgt sich hinter dem Film auch Bob Dylan und sein „A hard rain‘s gonna fall“. Darin gibt es Zeilen wie „I saw a man wounded in love“, „I saw a man wounded in war“ – und am Ende jeder Strophe folgt „And it‘s a hard rain gonna fall“, damit waren natürlich die Bombardements in Vietnam gemeint. So sehe ich auch das Ende meines Films: Warnung und Realität. Abgesehen davon denke ich sowieso, dass die Amerikaner besonders gerne Bomben werfen.

 

Sie schätzen Bob Dylan?

 

Ja, sehr sogar. Ich würde auch sagen, dass Dylan den Literaturnobelpreis verdient hat.

 

Sie bekommen diese Frage bestimmt häufiger gestellt, trotzdem muss ich fragen: Sind Sie eigentlich ein Pessimist?

 

Ich bin Optimist, aber ich bin schon der Meinung, dass wir in sehr abstoßenden Zeiten leben. Das ganze Denken und Handeln ist auf kurzfristige Zeit angelegt, es gibt kein langfristiges verantwortungsvolles Denken mehr. Selbstsucht und Egoismus regieren. Auch für den Geschmack und das Niveau hat das Konsequenzen, zumindest in Schweden kann ich das beobachten: Die Menschen arbeiten sehr gestresst und sehen sehr schlechte Programme im Fernsehen. Sendungen, in denen Menschen gedemütigt werden und anfangen zu weinen, wenn sie etwa von einer Jury abgewiesen werden. Für solche Dinge hasse ich unsere Zeiten, und ich werde den Rest meines Lebens damit verbringen, um gegen so etwas zu kämpfen. Ob nun mit Filmen oder mit Geschriebenem ... ursprünglich wollte ich ja Schriftsteller werden.

 

Sie wollten Romane schreiben?

 

Ich habe nur ein Buch veröffentlicht. Einen Essay-Band mit dem Titel – jetzt frei von mir übersetzt: „Unsere Furcht vor der Ernsthaftigkeit in unserer Zeit“.

 

Stimmt es, dass Ihre Vorfahren über Generationen Handwerker waren?

 

Ich habe keinen intellektuellen Background. Meine Eltern hatten nur sechs Jahre die Schule besucht. Sie konnten keine fremde Sprache sprechen, zu jener Zeit lernte man im schwedischen Schulsystem nur Lieder und protestantische Katechismen auswendig. Mein Vater war Transportarbeiter, er hat Waren gestemmt, die vom Zug auf den Bus verladen wurden. Meine Mutter hat für Unternehmen genäht, am Schluss hat sie bei der Post gearbeitet und Briefe sortiert.

 

 

Die Fragen stellte Lasse Ole Hempel.