16. März 2008

Onkel Doktor spielen

 

Einer der notorischen Vorwürfe des Sacko-Feuilletons gegen die Popliteratur lautete, hier werde „bloße Nabelschau“ betrieben. Mit solchen Kindereien gibt sich Charlotte Roche erst gar nicht ab, ihr Debütroman „Feuchtgebiete“ ist eine sehr detail- und bisweilen sogar ganz lehrreiche, sozusagen mit Lupe und Operationsscheinwerfer betriebene Mösen- und Aftershow. Roches Ich-Erzählerin Helen holt sich bei einer ruppigen Intimschur eine „Analfissur“, und weil bei ihr „Hygiene klein geschrieben“ wird und sich die Wunde entzündet, muss sie operiert werden. Im Krankenbett hat sie nun Zeit, über all das zu sinnieren, was ihr besondere Freude macht: Analsex mit vollem Darm, getrocknetes Sperma kauen, schleimige Avocadokerne in die ungewaschene Vulva schieben, Kotze trinken, allerlei sehr einfallsreiche Sachen also, die sie natürlich nicht ohne Grund tut. Sie rebelliert nämlich, jawohl, gegen die Moral- und Hygienevorschriften ihrer Mutter. Sie ist die eigentliche Adresse dieser kleinen Perversionen. Denn Helen ist ein Scheidungskind, fühlt sich von ihren Eltern ungeliebt, versucht deshalb alles, um sie wieder zusammenzubringen. Aber noch etwas dräut da im Halbbewussten und lässt sie zweifeln an der Mutterliebe: Die nämlich hat vor langer Zeit versucht, sich und Helens kleinen Bruder das Leben zu nehmen. Helen hat die beiden in der Küche gefunden und gerettet, seitdem treibt sie eine Frage um, die sie aber nicht zu stellen wagt: „Warum wolltest du mich nicht mitnehmen?“

Das ist der zutiefst bigotte, bürgerlich-kleinkarierte Impetus dieses auf jeder Seite sich doch so ungemein tabubrecherisch gerierenden semi-literarischen Onkel-Doktor-Spiels: eine deviante, von den kollektiven Moralvorstellungen abweichende Sexualität ist immer nur pathologisch denkbar, als Ausdruck einer tiefen seelischen Zerrüttung. Und wenn alle glücklich und zufrieden sind, dann haben sie nur noch Blümchensex, oder wie?

Dass nicht immer nur Männer, noch dazu meistens geriatrische Fälle, freimütig über das menschliche Sexualverhalten Auskunft geben, ist ja nur zu begrüßen. Nur hat Roches mit dem Biobuch der Sekundarstufe 2 und vielleicht auch noch dem „Brigitte“-Ratgeberteil gepimperter ironisch-forcierter Schlampenslang zu wenig Sex, um einen wirklich lesend bei der Stange zu halten.

 

Frank Schäfer

 

Charlotte Roche: Feuchtgebiete. Dumont, Köln 2008. 220 S. 14,90 Euro

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

amazon