Der Grand Prix als Identitätssuche
Den deutschen Grand-Prix-Vorentscheid haben die No Angels für sich entschieden, die vier Sängerinnen werden Ende April in Belgrad auftreten, und ihr Songbeitrag heißt „disappear“. Da werden jetzt wieder die Spötter ihre Stifte wetzen, aber der Popticker ringt sich zu folgender Meinung durch: Die No Angels sind bezüglich des Grand Prixs der derzeit größtmögliche Konsens, und ob ihr Lied auch auf internationalem Niveau Bestand hat, werden wir eh nie wissen, denn der Grand Prix hat per definitionem kein Niveau. Es ist aber anzunehmen, dass „disappear“ mehr Wählerkreise erschließen könnte als im letztem Jahr Roger Cicero mit seinem „Fraun regiern die Welt“, dessen Reiz darin lag, dass hier deutsch geswingt wurde, und dieser Reiz konnte sich für jemanden, der nicht Deutsch spricht, nicht entfalten.
Die Show zur Vorauswahl hat der Popticker in diesem Jahr absichtlich verpasst, es ist aber anzunehmen, dass das Prozedere wieder so war wie in den letzten beiden Jahren: Auf der Bühne des Hamburger Schauspielhauses treten die Kandidaten auf, und auf einer im Zuschauerraum vorgelagerten Couch sitzen Georg Uecker sowie weitere B- und C-Promis und unterhalten sich über die erschallenden Lieder und vergangene Sternstunden des Grand Prix. Thomas Herrmann als Moderator liest schale Witze vom Teleprompter, und als wir vor einem Jahr die Generalprobe der Show sehen durften, stellte sich raus, dass sogar die Gespräche auf erwähnt vorgelagerter Couch abgelesen werden. Vor einem Jahr saß dort auch Ex-No-Angel Lucy, die in diesem Jahr also als Ex-Ex-No-Angel wiederum als Kandidatin auf der Bühne stand.
Der Grand Prix mit seinem deutschen Vorentscheid hat sich in gewissem Sinne zu einem Tableau von Popformationen auf Identitätssuche entwickelt. Nachdem das kulturelle Format des deutschen Grand-Prix-Beitrags von Guildo Horn (1998) und Stefan Raab (2000) mit ironischen Titeln erobert wurde, versucht man sich seit einigen Jahren an seiner Entironisierung. Das liegt nicht zuletzt daran, dass in der Popkultur ohnehin jede formal-subversive Bewegung assimiliert wird. Im Pop sind Ironie, Schock, Provokation etc. längst Handwerkszeug des Mainstreams. Der Grand Prix führte das insbesondere vor zwei Jahren vor Augen, als der Song Contest von finnischen Monstern gewonnen wurde. Ironischer Weise gelang ausgerechnet Stefan Raab der erste deutsche postironische Beitrag: Er fand und formte Max Mutzke und schickte ihn 2004 mit der jazzigen Uptemponummer „just can‘t wait until tonight“ zum Sängerwettstreit. Einen Rückschritt in der proklamierten Rückbesinnung auf ernst gemeinte Lieder gab es 2005, als die Sängerin Gracia den Vorentscheid gewann, um dann mit nur demütigenden 4 Punkten auf dem letzten Platz zu landen. Gracia war zudem negativ in die Schlagzeilen geraten, weil sie von David Brandes produziert wurde. Diesem wiederum konnte ein Chartbetrug nachgewiesen werden: Er hatte CDs von Gracia und seiner Girlformation Vanilla Ninja im großen Stil selber aufkaufen lassen, um so in die Charts zu kommen. Treppenwitz der Eurovision-Song-Contest-Geschichte: Vanilla Ninja traten im selben Jahr für die Schweiz an.
Nach Gracias Scheitern reformierte man die Vorauswahl. Man reduzierte den Kandidatenkreis auf drei Lieder (dieses Jahr fünf) und versuchte mit dieser geringen Anzahl von Liedern trotzdem einen weiten Kreis von Musikstilen abzudecken. Um es in musikalischen Schubladen zu beschreiben: Man versuchte, einen sozusagen traditionellen Schlagertitel, einen Teeniepopsong und einen im Grand-Prix-innovativen Titel zu finden. Mit Texas Lightning 2006 und Roger Cicero 2007 gewannen beides Mal diese in diesem Rahmen innovativen Titel - wohl nicht weil sie innovativ, sondern gut und die Konkurrenten grottig waren. Der Versuch, ein gezielt weit gefächertes Publikum anzusprechen, misslang: Die Einschaltquoten für die Auswahlshow gehen jedes Jahr zurück und waren letzte Woche an ihrem historischen Tiefpunkt angelangt.
Jede Band, jeder Interpret, der sich bereit erklärt, zum Vorentscheid anzutreten, muss für sich selber die Fragen beantworten, ob man es schafft, einen unironischen Titel zu erfinden, der in den Grand Prix passt, den man aber gleichzeitig auch vor sich selber verantworten kann. Aus diesem Grunde vielleicht zieht der deutsche Vorentscheid Interpretinnen und Interpreten an, denen zum Zeitpunkt ihrer Kandidatur ihre popmusikalische Identität unklar ist. Wer nicht genau weiß, für welche postironische Popstruktur er im Allgemeinen steht, für den bildet die deutsche Grand-Prix-Vorauswahl und dann eventuelle Teilnahme am internationalen Songwettstreit eine Versuchsanordnung, sich im Speziellen zu hinterfragen. Die No Angels nun befinden sich exakt in dieser händeringenden Popidentitätssuche: Ihr früherer, sanft erotisch blubbernder Zuckerwattepop ohne jeden Tiefgang passte in seine Zeit, und so einen wunderbar mittelmäßigen Pop wie von den No Angels gab es vorher in Deutschland nicht, und es hat ihn seither auch nicht wieder gegeben. Seit ihrer Wiedervereinigung aber (mit der 2002 ausgestiegenen Jessica Wahls aber ohne Vanessa Petruo) wird man das Gefühl nicht los, dass das Comeback nur erfolgte, weil vier Mädchen nicht mehr die Ex-No-Angels sein wollen. Der Grand Prix kommt für die vier nun wie gerufen, weil er einerseits ein vollständig neues Betätigungsfeld ist und er anderseits die Frage aufwerfen und beantworten kann, ob der heutige Pop der No Angels auch internationalen Bestand hat. In diesem Sinne ist ihr Lied „disappear“ der richtige Song zum richtigen Zeitpunkt, und deswegen wurde er vom Publikum gewählt.
PS: Nicht ganz ohne Stolz habe ich gestern ein Interview wieder gelesen, das ich zum Grand Prix 2007 mit Dietmar Poppeling geschrieben habe. Da sagt Poppeling auf die Frage, wen Deutschand 2008 zum Grand Prix schicken soll: „Den DSDS-Sieger Mark Medlock. Aber nur, wenn er sich bis dahin auch mit Dieter Bohlen zerstritten hat. Sonst vielleicht die No Angels.“
David Gieselmann
Hier der Link zum Interview beim Poptickerpod: www.poptickerpod.de/index.php