An der Berliner Volksbühne wandeln sich Worte zu Schinken

Vorbote dieser Veranstaltung in der Berliner Volksbühne, die unter dem doch recht merkwürdigen Titel „Die Schinkenhand und der Tod“ angekündigt wurde, war eben diese Schinkenhand. Dabei handelt es sich um eine anonyme Hand, die mehrlagig in Schinken eingewickelt ist, und in einer ganzen Serie von Filmen und Fotografien auftrat: Mal bot sie sich lasziv wie eine Diva dar, mal legte sie sich christusgleich auf die Wunden der Welt. Wer ge-nau hinsah, der konnte erkennen, dass der Schinken eher gepökelt als geräuchert und die Hand einem Schriftsteller zugehörig sein musste. Jedenfalls wies die Schin-kenhand eine rosarote Fettmaserung auf und tauchte bevorzugt in der Nähe einer himmelblauen Schreibmaschine mit 44 Typenhebeln auf.
Am Samstag gab es im Roten Salon der Volksbühne nun keine einzige Schinkenhand zu sehen, sondern nur acht Schriftsteller aus Berlin und Hamburg. In ihren Texten kamen jedoch immer wieder Hände vor, die tot waren oder töteten: Mit bil-liger Kamillenblüte eingefettete Frauenhände, die einen Greis erst streichen, am Ende dann ersticken, bei Inger-Maria Mahlke; die aufgequollenen Hände eines Unfallopfers, die mit der Hose vernäht zu sein scheinen, bei Nina Bußman; und Hände schließlich, die sich in Krebszangen verwandeln und in rückwärtigem Gang vom Bewusstsein entfernen, bei Björn Märtin.
Seine Erzählung stellte genau jene Fragen, die durch die geheimnisvolle Herabkunft der „Schinkenhand“ drängend geworden waren: Wie verschiebt sich die Grenze zwischen Innen- und Außenwelt, wenn sich über „Epidermis (Oberhaut) // Dermis (Lederhaut)“ eine weitere, eine tierische Haut stülpt? Gibt es „Zentralgebiete des Lebens“ wie das Herz und Peripherien wie die Fingerkuppen? Und über welche Kontaktfläche können sich zwei Körper vergewissern, dass sie nicht tot sind – wenn einem doch selbst die Zunge, die man küsst, wie ein „grotesker Hautlappen“ vorkommt? Die Schinkenhand war, wie sich im Verlauf der Aktion zeigte, mehr als ein kruder Witz, wie man ihn am Berliner Rosa-Luxemburg-Platz erwarten konnte; das machte der Berliner Schriftsteller Martin Lechner in einem kurzen, den Jargon der Volksbühne persiflierenden Vortrag „rattenscharf klar“: Denn wie das Leben zwar repräsentiert werden kann, der Repräsentation aber stets äußerlich bleibt, so wird die Hand greifbar erst als Innen eines Schinkenmantels, der sie verbirgt. Und ersetzt man den Schinken gedanklich durch mit Salböl behandeltes Leinen, so ist man schon bei Verfahren der Mumifizierung, die zeigen, dass die Repräsentation des Lebens nur um den Preis des Todes zu haben ist: „Volksbühne Grabkammer – Wir Pharao!“
Wie man diese, nicht wenig eigenwillige Logik durchkreuzen könnte, das führte der Berliner Schriftsteller Milo Pablo Momm im einzigen lyrischen Beitrag des Abends vor. Während in allen Erzählungen Hände oder unsichtbare Hände das Geschehen lenkten, so erkundeten seine Gedichte die Welt der Münder, halsrote, scharlachrote Münder, verwesende, sich öffnende Münder. Dieses Organ, das Samen schluckt und Worte spuckt, erschien hier als geradezu heilige Stätte, an der eine Fleisch-werdung des Wortes noch gelingen könnte: „WIE zerspringe ich : was : du / nicht sagst, eingefleischt / dem Unmund entfallen / vögelweit aufdenken “ So schien am Schluss der Veranstaltung eine fast heilsgeschichtliche Perspektive auf, die von der äußersten Extremität der Fingerkuppen, die einen Stift führen, auf den tiefsten Innenraum des Rachens wies, der Laute formt; also von der Hand, die schreibt, zum Mund, der spricht. Oder aber eben dorthin, wo jeder gute Schinken am Ende landen sollte.

SZ vom 19.02.2008