Ein ausschnitthafter Rückblick auf die Berlinale und ihre Dokumentarfilme
1933, als Luis Buñuel „Las Hurdes“ drehte, war man sich noch nicht einmal sicher, ob im Kino das Potenzial einer neuen Kunst stecke, und dem dokumentarischen Film traute man so etwas nun schon gar nicht zu. Buñuel, dem die Retrospektive der Berlinale gewidmet war, schreckte das wenig ab. Als er sich in die entlegene Region aufmachte, um die dort lebenden Armen zu filmen, hatte er bereits seine bedeutenden surrealistischen Frühwerke „Ein andalusischer Hund“ und „Das Goldene Zeitalter“ gedreht. In „Las Hurdes“ ging es nicht um die unterdrückten Triebe, um Phantasien und Träume, sondern um die schonungslose Realität, die hier aber nicht frei von somnambulen – wenn nicht albtraumhaften – Zügen ist. Buñuel filmt z. B. jenen bedauernswerten Esel, der festgebunden an einen Pflock, allmählich von einem Bienenschwarm hingerichtet wird. Mit verzweifelten Hufschlägen versucht das Tier sich in der sengenden Sonne gegen die Angreifer zu verteidigen. Der Kampf erscheint genauso aussichtslos wie der der Dorfbewohner für ein besseres Dasein: Es grassieren Krankheiten, die auf eine schlechte Ernährung zurückgehen, in Erinnerung bleibt die etwa 30-jährige Frau, die an einem zu Tennisballgröße angeschwollenen Kehlkopf leidet. Selbst das republikanische Spanien weigerte sich zunächst, diesen Film zu zeigen, da er die Situation der Bevölkerung zu gnadenlos zeichnete. Eine ganz andere Kompromisslosigkeit geht siebzig Jahre später von den Arbeiten des Amerikaners James Benning aus. Als regelmäßiger Gast der Berlinale stellte der 65-jährige Regisseur in diesem Jahr „RR“ vor, einen Film, der aus 43 verschiedenen Aufnahmen von die amerikanische Landschaft durchschneidenden Zügen besteht. Bemerkenswert und manchmal kaum erträglich ist die Rigidität, mit der der studierte Mathematiker zu Werke geht. Benning, der einen ähnlichen minimalistischen Ansatz bereits bei Filmen wie „13 Lakes“ und „Ten Skies“ angewendet hatte, irritiert den Zuschauer mit der Forderung, sich mit seiner auf den ersten Blick monotonen Ästhetik auseinander zu setzen – die gleichwohl Entdeckungspotenziale birgt. Die Züge scheinen genauso wenig uniform wie die Landschaften. Einige Waggons sind so hoch wie Häuser, einige sind mit Schriftzügen wie „Cotton Belt“ beschriftet, andere mit Graffiti besprüht. Die Landschaft gibt die zweite Melodie: sich schlängelnde Berge, weite Felder, auf denen Coyoten-Geheul zu hören ist, ruhige Seen, an denen Angler sich vom eingeschalteten Transistorradio die Zeit vertreiben lassen. Benning gibt zu, dass bei seinem Film sehr wohl sentimentale Motive eine Rolle gespielt haben mögen. In den Zügen, für die sich schon sein Vater hat begeistern können, teilt sich das alt-ehrwürdige Amerika mit. Aber die frühe Industrialisierungsphase, der Aufbau des Schienennetzes war auch von Korruption und Gier begleitet. Heute sieht der Regisseur in den endlosen, nicht enden wollenden Waggon-Kolonnen auch ein Symbol für den außer Kontrolle geratenen Konsum. „RR“ hat einige puristisch-schöne Landschaftseinstellungen zu bieten, und Benning ist sicherlich einer der interessantesten Sonderlinge des gegenwärtigen Kinos. Es sind die Spuren, die der Mensch in der Landschaft hinterlässt, die ihn immer wieder interessieren, und Benning nimmt dabei gerne die Perspektive des Außenseiters an, der das Treiben voller Skepsis, aber auch mit Empathie für die Menschen und Dinge betrachtet. Die Lust an der Entdeckung, das Abenteuer, allein mit der Kamera bewaffnet loszuziehen, prägen auch „RR“.
Um mit Klaus Kinski zu einem ganz anderen Abenteurer zu kommen: Mit seinem Film „Jesus Christus Erlöser“, der in der Reihe „Panorama Dokumente“ zu sehen war, hat der Nachlassverwalter in Sachen Kinski, Peter Geyer, dem Welt-Schauspieler ein ganz besonderes und ungemein lebendiges Denkmal gesetzt. Der Film besteht aus einer neuen Montage des Originalmaterials von Kinskis Auftritt in der Berliner Deutschlandhalle im November 1971. Kinski war angetreten, um unter dem Motto „Jesus Christus Erlöser“ den anderen, revolutionären Jesus Christus unter das politisierte Publikum zu bringen. In dem Text, den Kinski selbst verfasst hat, nennt er Jesus den „furchtlosesten, freiesten und modernsten aller Menschen, der sich lieber massakrieren lässt als lebendig mit den anderen zu verfaulen.“ Doch das Publikum will keinen Prediger, vielen steht drei Jahre nach ‘68 eher der Sinn nach Diskussion und Happening. Beim Vortrag, der, wie Kinski meint, „erregendsten Geschichte der Menschheit“, wird er immer wieder vom Publikum mit Zwischenrufen und höhnischen Kommentaren unterbrochen. Mitten auf der Bühne kommt es zu spektakulären und handgreiflichen Auseinandersetzungen, die einiges über Kinski, aber auch viel über die 68er-Aktivisten aussagen. Überheblichkeit geht von jenen aus, die da die Bühne betreten und den zugegeben reichlich überdrehten Heilsbringer da gar faschistische und den Geist verdunkelnde Absichten vorwerfen. Kinski erscheint wie das gefangene Tier, das wild um sich schlägt und nicht zuletzt durch seine Schlagfertigkeit beeindruckt – indem der Schauspieler immer wieder Antworten auf die Publikumsbeschimpfungen in seinen Vortragstext einbaut – so wenn er etwa an die Zuschauer gerichtet losschimpft: „Ihr seid schlimmer als die Pharisäer. Die haben einen jedenfalls ausreden lassen und haben einen erst dann ans Kreuz genagelt.“
Ein ganzes anderes Licht auf das politisierte Deutschland der sechziger und siebziger Jahre wirft der Film „Gegenschuss. Aufbruch der Filmemacher“ von Dominik Wessely. In Form eines Generationenporträts zeichnet der Film die Entstehung und den Niedergang des Filmverlags der Autoren nach. Es geht um die drei Ausnahmetalente des deutschen Nachkriegsfilms: Rainer Werner Fassbinder,Werner Herzog und Wim Wenders, die durch den Zusammenschluss die unbedingt nötigen Produktionsbedingungen bekamen – aber auch um kaum weniger engagierte Kinoerneuerer wie Thomas Schamoni oder Peter Lilienthal, über die sich im Laufe der Jahre der Mantel des Schweigens gelegt hat. Die vielen, in ihrer künstlerischen Vielfalt einmaligen Ausschnitte geben einen mitreißenden Eindruck von der Energie, die damals alle Beteiligten in Atem gehalten hat. Zur Frage, warum es mit dem Verlag der Autoren irgendwann zu Ende gehen musste, liefert der Film keine endgültige Antwort, sondern nur Spekulationen. Lag es an den Leuten von der „Schwarzwaldklinik-Fraktion“ (gemeint sind hier Hans W. Geißendörfer und Hark Bohm) oder am „Geldvernichter“ Laurens Straub, der im Outfit eines K-Gruppen-Führers als Schatzmeister im Verlag fungierte? Straub, der 2007 verstarb, ist dieser Film gewidmet, einem großen Liebhabers des Kinos, der hier noch ein paar Anekdoten vor dem Vergessen retten konnte. Etwa die Geschichten aus der Münchner Kneipe „Bungalow“, wo sich in den frühen Sechzigern keiner traute, den in sich gekehrten Peter Handke anzusprechen und so mancher heimlich übte, um gegen Wim Wenders eine Flipper-Party zu gewinnen. „Das Kino ist das Größte“, sagt Straub an einer Stelle, „selbst wenn wir merken, dass es eigentlich gar nicht so groß ist.“ Wobei wir wieder bei der Berlinale wären. Beim Festivaltrubel, den vielen Partys und hoffnungsfrohen, aufgekratzten Besuchern in der Stadt, die dem Kinofilm zehn Tage lang zu einer ungeheuren Bedeutung und Geltung verhalfen. Sie machen vergessen, dass gerade die Kreativbranche seit Jahren ins gesellschaftliche Prekariat abrutscht – ein paar Aktivisten hatten darauf hingewiesen, indem sie am Eingang zu den Potsdamer-Platz-Arkaden einen aus Pappe gezimmerten Block mit der Aufschrift „Nach Drehschluss Hartz IV“ installiert hatten. Auch mit dem Zauber der Filme ist es leider nicht so einfach. Wenn am Potsdamer Platz die Plakate entsorgt sind, kündigt Klaus Kleber im „heute journal“ allenfalls noch einen neuen Film mit Julia Roberts oder Tom Cruise an, und die vielen Festival-Hits verschwinden in den Archiven oder tauchen vielleicht im Spätprogramm von arte oder 3Sat wieder auf. So gesehen ist die Berlinale der willkommene Ausnahmezustand – wenn man will eine neu-preußische Verlängerung der närrischen Jahreszeit, auf die man sich jedes Jahr von Neuem freuen kann.
Lasse Ole Hempel