20. Februar 2008

Blicke auf Bilder

"three boats", 2007, 140 x 185 cm, Öl und Acryl auf Leinwand
"crâne(detail)", 2007, 50 x 40 cm, öl auf Leinwand
"nature morte(detail)", 2007, 50 x 40 cm, Öl auf Leinwand
"untitled", 2007, 200 x 160 cm, Öl und acryl auf Leinwand
"untitled", 2007, 155 x 125 cm, Öl auf Leinwand, Silberrahmen
"Portrait de M. Ambroise Vollard II", 2007, 60 x 65 cm, öl auf Leinwand

 

Malerei von Aurelia Sellin

 

Italienische Bergdörfer mit dicht gestaffelten Fassaden; Kähne, die unter hängenden Zweigen malerisch im Wasser dümpeln; ein Sonnenuntergang am See, erhabene Berggipfel oder bloß plätschernder Wellengang im Gegenlicht: Für einen Gutteil ihrer Malerei greift Aurelia Sellin auf den Motivfundus der Postkartenidyllen zu und macht sich eine darin angelegte Stilisierung des Blicks zunutze. Der ist im Fokus des Touristischen bereits auf bestimmte Weise gefiltert und verdichtet: Ansichtskarten zeigen, was in Erinnerung bleiben soll, was das Schöne, was das Eigentliche eines Ortes oder einer Landschaft sei – eben das, was „bildwürdig“ oder wenigstens dafür zu halten ist. Die Herstellung solcher Bildwürdigkeit freilich basiert noch stets auf vereinfachender Zuspitzung, nicht selten mündet sie aus diesem Grund auch im Klischee. Diese Art von Konstruktion mit ihrer oft großen visuellen Wirksamkeit ist es, die Aurelia Sellin bei ihrer Motivauswahl interessiert: Eine kompositionelle Schlüssigkeit, bei der Stereotype auf Stimmung trifft, Reduktion, die sich mit Atmosphäre paart. Der darin eingelassene touristische Blick ist darüber hinaus ja auch gesättigt mit Sehgewohnheiten, die sich an traditioneller Landschaftsmalerei gebildet und im ästhetischen Empfinden festgesetzt haben. Dieses bildnerische Vokabular und seine Einbettung ins Bildbewusstsein macht Sellin zum Material und zu einem der konzeptionellen Ausgangspunkte ihrer Malerei.

Und es ist verblüffend, wie sie dieses Thema, diesen Fundus an Motiven umsetzt. Ihre Bilder scheinen zwei auf Anhieb widersprüchliche Tendenzen zu verbinden: Einerseits sind sie auf minimale Setzungen zugespitzt, kommen teils mit nur wenigen Pinselstrichen aus und reichen oft nah ans Abstrakte. Anderseits reizt Sellin die Malerei ausdrücklich auch auf starke atmosphärische Momente aus. Damit rekapituliert und übersetzt sie oben beschriebenes thematisches Material in quasi analytischer Reduktion, um es zugleich mit allen Qualitäten auszustatten, die man allgemein als „malerisch“ empfinden mag. Das beginnt mit jener Auswahl besonders „reizvoller“ touristischer Motive und findet seine konsequente Verlängerung im Umgang mit den Mitteln. Die Auswahl solcher Motive und Bildausschnitte unterliegt bestimmten formalen Kriterien, die in der Anwendung gleichwohl intuitiv bleiben. Dazu gehört etwa, dass Sellin ein Postkartenmotiv nie als Ganzes verwendet, sondern nur solche Elemente übernimmt, die ihr zur Zuspitzung geeignet scheinen. Sie entwickelt daraus einen Themenkanon, eine Art formale Reduktion auf „Bildanlässe“ – eben Wasser, Boote, Berge, Fischerdörfer etc. –, auf die sie zurückgreift und immer wieder unterschiedlich umsetzt. Sie selbst vergleicht dies mit „Motiven in Stillleben“,(1) die sich genretypisch gleich bleiben, während das Entscheidende in der Art der malerischen Auffassung liegt. Hinsichtlich der Umsetzung solcher Motive ist alles da, was zur landläufigen Vorstellung von Malerei gehört: Leinwand, Farbe, Pinselgestus, Komposition, verbunden mit den stimmungstragend landschaftlichen Themen. Doch zugleich ist alles anders, als man es erwarten würde: Das Bild führt atmosphärische Gehalte vor, ist aber auch auf eine reduzierte Reinform abgekühlt, wirkt wie ein bildnerischer Infinitiv.

Ein gutes Beispiel dafür ist das mehrfach variierte Motiv einer hanglagig gestaffelten Häusergruppe. Der Bildtypus basiert auf einer Ansicht des Dorfes Riomaggiore, Cinqueterre, die Sellin in verschiedenen Formaten und Formen malerischer Umsetzung durcharbeitet. Erkennbar geht es in diesen Bildern, alle Untitled,(2) nicht um die konkrete Wiedergabe eines Dorfes: Die Gebäude erscheinen in verschiedenen Graden von Abstraktion, teils realistisch, teils formalisiert in kubischer Schichtung. In dem kleinsten Bild dieser Themengruppe etwa sind sie vergleichsweise detailliert ausgeführt, mit Weiß und Grau auf schwarzem Grund. Man sieht Fenster, Lampen, verwinkelte Wände, auf denen Licht und Schatten spielen. Das Sujet ist, wie häufig bei Sellin, aus dem Schwarz des Bildgrundes heraus aufgebaut und so als nächtliche Szene ausgewiesen. Die Häuser werden in der Malerei zum Anlass ausgewogen komponierter Flächenstruktur, vom Vorbild der Postkarte eher frei adaptiert: Malerei bleibt auch beim Übertragungsvorgang Bildfindung. Der Duktus ist hier beinah skizzenhaft. Aus dem Arbeiten mit Weiß auf Schwarz gewinnt Sellin Lichteffekte, setzt stimmungsvolle Ausleuchtung ins Bild, wie man es aus Touristenorten und eben auch von Ansichtskarten kennt. In der Sparsamkeit der Ausführung ist dieser Effekt aber auch jederzeit durchschaubar. Auf diese Doppelung, aufs Ineinandergleiten und Zugleichbestehen malerischer Illusion und positivistischer Farbsetzung kommt es bei dieser Arbeit immer wieder an. Der Bildaufbau ist kaum je mehrschichtig anlegt; Formelemente sind als pointierte, konzentrierte Gesten auf meist homogener Fläche farbig oder schwarz grundierter Bildträger arrangiert. So gerät der Bildgrund wortwörtlich in die Malerei hinein, Form addiert sich aus dem Nebeneinander von Farbsetzung und Grund. Den Anspruch, mit möglichst Wenigem zum gültigen Bild zu finden, bindet Sellin – wie im Widerspruch zur vorgeführten Reduktion – an eine Erfüllung, ja Übererfüllung so gut wie aller Kriterien von „satter“ Malerei.

Auch die Malerei von Paul Cézanne ist für ihre Arbeit eine wichtige Referenz: Nature Morte (Detail), Crâne (Detail) oder Portrait de M. Ambroise Vollard (Detail) zum Beispiel beziehen sich unmittelbar auf Bilder beziehungsweise Bildausschnitte aus dessen Werk. Mit Cézanne verbindet Sellin eine ähnliche Tendenz zur Auflösung von Bildraum in Farbe, eine Beschränkung auf wenige Motive und Themen sowie das Arbeiten mit Elementarformen, um die Malerei zu präzisieren. Eine vergleichbare Zuspitzung betreibt sie auch im schon beschriebenen Umgang mit Postkartenmotiven.

Die kleinen Nature Morte (Detail) und Crâne (Detail) etwa gehen auf zwei Stillleben Cézannes zurück, die Darstellung eines Tischs mit Früchten (Nature Morte, 1885–1889) sowie ein Arrangement mit Leuchter und Totenschädel (Crâne, 1900–1904). Sellin gibt daraus jeweils nur einen bestimmten Ausschnitt (und den ausdrücklich unvollendet) wieder. Damit konzentriert sie einerseits den Blick auf bestimmte Elemente der ursprünglichen Komposition, verändert durch solche Dekontextualisierung andererseits aber auch deren ursprüngliche Gewichtung und Relation, so dass aus Zuspitzung und Auslassung schließlich ein weiteres, eigenes Bild hervorgeht: Ein Gemälde, das als Fragment, aber auch als neues Ganzes anzusehen ist.

Bei Portrait de M. Ambroise Vollard (Detail) ist die Adaption noch etwas anders angelegt. Das abstrakte Bild ist dem gleichnamigen Werk Cézannes von 1899 zunächst nicht ohne weiteres zuzuordnen. Nur die warme, zwischen verschieden hellen Braun-, Rot- und Beigetönen rangierende Farbigkeit sowie der flächig ausgreifende, dicht gestaffelte Pinselgestus erinnern intuitiv an den französischen Maler. Doch Sellin bezieht sich sehr konkret, nämlich mit einer radikalen Fokussierung auf jenes Portrait: Sie wählt daraus einen winzigen Ausschnitt der rechten oberen Ecke, ein Stück der Wand im Rücken der zentralen Bildfigur. Im Herauslösen des Details konzentriert Sellin den Blick auf Cézannes fein rhythmisierte Flächenauflösung. Die vergrößerte Aneignung dieses Ausschnitts erscheint vollkommen abstrakt und hat zugleich malerische Räumlichkeit. Sellins Portrait... (Detail) ist insofern zugespitzte Bildbetrachtung als auch Neuausdeutung im abstrakten Farbraum.

In rekapitulierender Aneignung solcher Cézanne-Motive versucht sie, Reduktion weiter zu treiben. Die Malerei Cézannes, in der die Vereinfachung stets einer Zuspitzung der Regeln im malerischen Bildgefüge dient, deutet Sellin für sich als Ausgangspunkt: Mit Nature Morte (Detail) und Crâne (Detail) etwa entwickelt sie ausdrücklich zwei Cézanne-Motive weiter, indem sie diese weitergehend fragmentisiert, das daraus hervorgehende Bild aber auch als Ganzes auffasst. Darin steckt auch neues Sehen, geht sie doch mit der Reduktion an einen Punkt, „an dem das Bild für Cézanne noch nicht als 'fertig' zu erklären gewesen wäre.“(3)

So geht es hier weniger um eine unmittelbare Austragung von Malerei als darum, sie zu einer radikalisierten Form von Einfachheit zu führen. Dabei kann sie den Wiedererkennungswert von Cézannes Duktus und Farbpalette für den eigenen Bildraum ähnlich instrumentalisieren wie den der Postkartenmotive. Sellin, so könnte man sagen, malt Bilder, um Bilder zu beschreiben. Wenn sie Ausschnitte adaptiert oder reduktive „Stimmungsmalerei“ betreibt, dann im Interesse einer Reduktion, die Regularitäten malerischer Bildwahrnehmung spiegelt und dies als Form in sich verankern kann.

 

Jens Asthoff

 

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(1) Aurelia Sellin im Gespräch mit dem Autor am 24.10.2007 in ihrem Berliner Atelier.

(2) Alle genannten Bilder von Aurelia Sellin entstanden im Jahr 2007.

(3) s. Anm. 1