29. Januar 2008

Warum wozu?


Schon wieder ein neues „Was ist was?“-Buch für den aufgeklärten Akademiker von Dirk Baecker

 

Ach Systemtheorie! Du gewaltiges Gewusel. Wer dich denkt, denkt in Inklusionen, Exklusionen, Redundanzen, symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien, Beobachtungen, Codes, Re-Enrys, strukturellen Kopplungen und blinden Flecken. Nichts ist vor dir sicher: Wirtschaft, Kultur, Organisationen, Wissenschaft, Massenmedien, Recht, Kunst, Popkultur, Erziehung, Mode, Liebe, Sexualität, Emotionen. Du super Theorie, du!

Ja, sie ist tatsächlich eine Supertheorie. Denn kaum eine soziologische Theorie außer ansatzweise vielleicht noch Bourdieus Feldtheorie hat einen solch weiten Erklärungsradius und wird zur Beleuchtung solch vielfältiger sozialer Phänomene herangezogen.

Der vielleicht umtriebigste Systemtheoretiker seit dem Tode Luhmanns sitzt nicht etwa in Bielefeld, sondern mittlerweile am Bodensee. Dort lehrt er Kulturtheorie und schreibt Bücher, deren Titel wie „Was ist Was?“-Bücher für Erwachsene anmuten. Wozu Systeme? Wozu Kultur? Wozu Soziologie? Und nun: Wozu Gesellschaft? Sein Publikationen umfassen kiloweise Organisations- und Managementtheorie, aber auch diverse Aufsätze zu Kultur / Literatur / Musik, die dem geneigten Publikum dieses Organs womöglich aus der eigenen Unikarriere oder Rezensionen dieses Portals bekannt sein könnten.

Wer Dirk Baecker einmal im Gespräch mit Alexander Kluge im Fernsehen oder bei einer Diskussion erlebt hat, wird womöglich beeindruckt festgestellt haben, wie fest sein systemtheoretisches Denken im Sattel sitzt und wie schnell sich komplexe Argumentationsbausteine aneinanderfügen lassen, als ob es erst mal ganz normal wäre, anhand des Spencer-Brown’schen Formenkalküls zu denken. Also halten wir fest, ganz schlauer Fuchs, dieser Dirk Baecker. Und das Buch?

Also das Buch: Während Wozu Kultur? sich stringent der Entwicklung eines systemtheoretischen Kulturbegriffs widmete, sind die drei weiteren Wozu?-Aufsatzsammlungen durch Themenvielfalt geprägt. Wozu Gesellschaft? nimmt sich etwa der Kunst, der Krankenbehandlung, dem Terrorismus, der Erziehung, der Beratung, den Eliten und den Gewerkschaft an. Ohne Zweifel alles Gesellschaft – was ja bei einer soziologischen Aufsatzsammlung auch nicht verwundert –, aber irgendwie muss man schon erklärter Dirk-Baecker- oder Systemtheorie-Fan sein, um auf den Themenmix anzuspringen. Und wie soll ich’s sagen? Liegt’s an mir, liegt’s am Buch? Ich weiß es nicht, aber die Luft ist raus, es wird irgendwie langweilig. Die Systemtheorie ist noch immer klug, aber ab und an wirkt sie mir ein bisschen altklug. Das Problembewusstein wissenschaftlicher Fragestellungen wirkt ungesund aufgezüchtet, die Setzungen zu voraussetzungsreich. Selbst nach zweimaliger Lektüre bleibt mir der Kunst-Aufsatz ein Rätsel und jeglicher Erkenntnisgewinn bleibt bis auf die redundanten systemtheoretischen Topoi, denen ich begegne, aus. Liebe Systemtheorie, du bist so cool, aber ich wünsch mir für die Zukunft mehr Bodenhaftung. Du bist nämlich dann am coolsten. wenn es nicht um Formenkalküle und Paradoxe geht, die nur du siehst, sondern dann, wenn dein aufgepimptes Theoriegerüst Fragen beantworten kann, bei denen andere Theorien nur nebulös danebentreffen. Luhmanns Aufsatz zur Individualitätssemantik, sein Stil-Aufsatz oder Bäckers Aufsätze zu Kultur und Gedächtnis leisten dies; Wozu Gesellschaft?  vermag dies nur vereinzelt. Im Ganzen zwar alles kluge Aufsätze, aber eben eher zum vereinzelten themenspezifischen Stöbern als zur Komplett-Lektüre. Was vielleicht für Systemfüchse interessant ist: Die nächste Gesellschaft klopft schon in dem einen oder anderen Aufsatz an, will sagen, der Computer löst den Buchdruck ab. Wie sich diese Mediengeschichtsschreibung aber zur Ausdifferenzierung der Gesellschaft verhält, ist noch unklar. Denn eigentlich unterteilt die Systemtheorie ja die gesellschaftliche Evolution nicht anhand von Kommunikationsmedien, sondern nach der Form der Ausdifferenzierung (Moderne gleich funktionale Ausdifferenzierung) ein. In „Wozu Eliten“ schlägt Baecker für diesen neuen Gesellschaftstyp, der sich gerade die Turnschuhe schnürt, den Begriff der Netzwerkgesellschaft vor und hier wird es dann auch für Menschen ohne Accounts bei Social-Network-Diensten interessant. Dirk Baeckers ebenfalls 2007 veröffentlichte Studie zur nächsten Gesellschaft verspricht somit mehr knifflige Fragen aufzuwerfen und diese kreativ zu verarbeiten. Während die Frage, nach dem Wozu der Eliten zwar angegangen wird, bleibt die Frage nach dem Wozu der Gesellschaft erwartungsgemäß unbeantwortet. Aber das stört wirklich nicht groß, da es eben außer singulärem Amöbentum ja für die meisten von uns eh nicht wirklich viele Alternativen zur Gesellschaft gibt.

 

Jens Kiefer

 

Dirk Bäcker: Wozu Gesellschaft? Kulturverlag Kadmos 2007

 

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