26. Januar 2008

Aktualität und Anachronismus

 

Im Prinzip verkörperte Jane Fonda aufs Trefflichste das Programm, ja die Programmatik (nicht nur) der diesjährigen Viennale. Die Schauspielerin war Stargast der nunmehr 45. Ausgabe des Wiener Filmfestivals, das bisweilen als das »sensibelste und beste der Welt« bejubelt wurde. Die allzu schnell mit Aerobic oder Barbarella assoziierte Darstellerin wurde für ihr äußerst vielseitiges Werk gewürdigt, sicherlich auch für ihr politisches Engagement etwa im Zuge des Vietnamkrieges, das durchaus in einigen Filmen durchscheint. Von Science-Fiction-Trash bis zu selbstreflexiven, marxistisch-brechtianischen filmischen Abhandlungen wie etwa »Tout va bien« von Jean-Luc Godard und Jean-Pierre Gorin reichte hier also das Spektrum der ihr dedizierten Reihe, das sich als ähnlich erfrischend unorthodox gestaltete wie die restliche Filmauswahl.

 

Schon der Umstand, Alan J. Pakulas »Klute« aus dem Jahre 1971 als Eröffnungsfilm zu zeigen, macht die Wiener Sonderstellung im Hinblick auf die Selektion evident. Natürlich handelt es sich hierbei um einen bedeutenden Markstein in der Karriere Jane Fondas, immerhin erhielt sie für ihren Part einen Oscar. Gleichzeitig macht diese Setzung aber auch klar, dass der Schnelllebigkeit des allzu Aktuellen hier mit deutlichem Gestus eine Absage erteilt wird. Anlässlich des 10 Jahre-Jubiläums von Viennale-Direktor Hans Hurch wurde dieser vorbildlichen Rückwärtsgewandtheit noch mehr Raum zugestanden, indem eine kleine Reihe namens »Best-Off« (zusammengestellt von Verena Teissl und Katja Wiederspahn) jene Filme, die in den vergangenen Jahren aus diversen Gründen nicht berücksichtigt werden konnten, nun doch noch auf die Leinwand brachte. Als eine andere Wohltat erweist sich in diesem Zusammenhang der im Rahmen des Festivals vergebene Publikumspreis, der in diesem Jahr Irene Langemanns »Rubljovka – Straße zur Glückseligkeit«, der dokumentarischen Annäherung an ein sehr spezifisches urbanistisch-soziologisches Phänomen, das freilich auch höchst brisante Einblicke in die Politik des heutigen Russlands gewährt, einen nationalen Vertrieb garantiert.

 

Das reguläre Spiel-, Dokumentar- und Kurzfilmprogramm bot eine wunderbare Kompilation von rezenten Erfolgen anderer Festivals, wie z.B. Kawase Naomis »Mogari no mori« in Cannes prämierter Film über die ebenso diffizile wie aufrichtige Beziehung, die sich langsam zwischen zwei Trauernden entspinnt und sich in intensiven Landschaftsbildern spiegelt, oder die wahrlich zarte Adaption von »Lady Chatterley« von Pascale Ferran, die bei der diesjährigen César-Verleihung gleich mit fünf Preisen ausgezeichnet worden war (und deren frühere Arbeiten im Rahmen der Viennale ebenfalls vorgestellt wurden). Mit virtuoser Kühnheit und stringenter Eigenwilligkeit überzeugt Serge Bozons »La France«, in dem er zermürbte Deserteure des französischen Militärs während des Ersten Weltkrieges durch karge Landstriche ziehen lässt und ihnen immer wieder Pausen gönnt, in denen sie hingebungsvoll musizieren. Und obwohl darin auch eine Art Liebesgeschichte verwoben ist, handelt es sich hier freilich keineswegs um irgendeine Form von Musical, sondern eher um einen bemerkenswerten Einsatz von Verfremdungseffekten. Ebenfalls im Mantel der Fiktion und dabei erfreulich anders als viele Vorgängerfilme thematisiert Robert Thalheims »Am Ende kommen Touristen« den Umgang der heutigen Generation mit dem Holocaust: Der Zivildiener Sven kommt nur über Umwege zu der Jugendgedenkstätte in Auschwitz und sieht sich mit diversen Schwierigkeiten in der Beschäftigung mit der Vergangenheit konfrontiert, versinnbildlicht etwa durch die Koffer der KZ-Häftlinge, mit denen diese in der Hoffnung auf Weiterreise angekommen waren, und der damit verbundenen Frage, ob jene professionell restauriert werden sollten oder aber repariert von einem Überlebenden (wunderbar eindrücklich und charismatisch gegeben von Ryszard Ronczewski). In einer stets geheimnisvoll bleibenden Stimmung sinniert der Filmemacher Matías Piñeiro in »El hombre robado« in verklärenden Schwarzweißimpressionen von Buenos Aires über die Durchdringung von Vergangenheit und gegenwärtiger Realität seiner Protagonistin Mercedes, die sich traumwandlerisch in zwischenmenschlichen Verstrickungen verliert und an nostalgisch verbrämten Orten umherirrt. Ein anderes, ebenfalls freilich nur implizites Stadtporträt liefert »Hamilton«, ein über mehrere Jahre entstandener, geradezu verstörend unaufgeregter Film von Matthew Porterfield, der mit seiner Beobachtungsgabe und seinem Sinn für die oft unbemerkten Schönheiten des Alltäglichen in leisen, unaufdringlichen Bildern einen kaleidoskopischen Blick auf Baltimore, die Stadt seiner Kindheit wirft.

 

Abgesehen von diesen und vielen anderen Neu- und Wiederentdeckungen reihten sich die jüngsten Werke von Altmeistern wie Claude Chabrol (»La fille coupée en deux«) oder Jacques Rivette (»Ne touchez pas la hache«) mit einer Selbstverständlichkeit neben jene von James Benning («Casting A Glance«), Nicolas Philibert (»Retour en Normandie«) oder Apichatpong Weerasethakul («The Anthem«). Zudem fanden sich im Programm etliche Dokumentationen über schillernde Persönlichkeiten, die zum Teil in filmischer Hinsicht nicht überaus herausragend zu nennen sind, dafür aber bekannte Figuren in einem neuen Licht zeigen oder weniger bekannten gebührende Aufmerksamkeit widmen: John Lennon, David Lynch sowie Scott Walker oder Danny Williams, ein in Vergessenheit geratener, künstlerischer wie privater Weggefährte von Andy Warhol. Eine wahrlich rührselige, geradezu märchenhafte Geschichte erzählt »The Cats of Mirikitani« von Linda Hattendorf, die den obdachlosen Straßenkünstler nach dem Einsturz des WTC bei sich zuhause aufnimmt und damit eine Vergangenheitsbewältigung anstößt, die ein jahrzehntealtes Trauma, das der Internierung als japanischstämmiger US-Amerikaner im Zweiten Weltkrieg, tatsächlich zu lindern vermag (bleibt nur die Frage, ob und wie bald sich die Kunstwelt auf das Werk und die schicksalsvolle Biografie dieses sympathisch exzentrischen Zeichners stürzen wird).

 

Das heimische Filmschaffen blieb ebenfalls nicht ohne Würdigung, wenngleich die Viennale es bisher souverän zu umgehen wusste, eine allzu einseitige Nabelschau zu veranstalten: Abgesehen von dem neuesten Wurf des Skandalregisseurs Ulrich Seidl, der mit »Import/Export« das Publikum wieder einmal in den Bann ziehen konnte, sowie der wie immer exzellenten Sonderschau des Filmarchiv Austria (diesmal über Beispiele linker Filmkultur im Österreich der Ersten Republik) fiel eine kleine Auswahl von Kurzfilmen positiv auf, allesamt von einer großer formalen Bildgewalt und zugleich intelligenten Konzeption: betörend die Zeitrafferaufnahmen alpiner Erhabenheitseindrücke in Elke Groens »Nightstill«, hypnotisch die pulsierenden Zoombilder (einer einzigen Einstellung) in »Vertigo Rush« von Johannes Lurf, regelrecht intim die Erforschung des berühmten Briefwechsels zwischen Franz Kafka und Milena Jesenskà in Astrid Ofners »Sag es mir Dienstag«.

 

Das Private als eminent politisch demonstriert David Perlovs »Yoman«, ein über zehn Jahre entstandenes filmisches Tagebuch und zugleich künstlerisches Dokument israelischer Zeitgeschichte. Perlov (1930-2003) war Assistent von Henri Langlois und später einflussreich als Mitbegründer und Lehrer der Filmakademie in Tel Aviv. Diese Wiederentdeckung ist zweifellos eine kleine Sensation. Ebenso die diesjährige Retrospektive zum essayistischen Film, kuratiert von Jean-Pierre Gorin, dem bereits erwähnten früheren Kollegen von Godard zur Zeit der Groupe Dziga Vertov: Bezugnehmend auf den Maler und Filmkritiker Manny Farber nannte er die großartige Reihe »Der Weg der Termiten« (Farber in seinem berühmten Aufsatz »White Elephant Art vs. Termite Art«:Termite-tapeworm-fungus-moss art goes always forward eating its own boundaries, and, like as not, leaves nothing in its path other than the signs of eager, industrious, unkempt activity.) Von D.W. Griffith (»A Corner in Wheat«) über freilich mehrere Arbeiten von Godard (sowie in Zusammenarbeit mit Anne-Marie Miéville bzw. Gorin) bis hin zu jüngeren Filmen wie »Los Angeles Plays Itself« von Thom Andersen, einem fulminanten (Meta-)Porträt einer Stadt anhand deren zahlreicher Auftritte in den verschiedensten Filmen wurde hier der Bogen gespannt. Beschaulich wirkt dagegen das Paris Anfang der 60er Jahre, wo Jean Rouch und Edgar Morin Straßenumfragen zum Thema Glück durchführten, zusammengefasst und kommentiert in »Chronique d’un été«, einem äußerst kurzweiligen Beispiel des cinéma vérité. Ganz andere Kinoentwürfe hingegen boten die beiden Tributes, die zwei außergewöhnlichen Filmemacherinnen gewidmet wraen: Nina Menkes und Stephanie Rothman, somnambuler Experimentalfilm und emanzipierter Independent-Exploitationfilm wurden hier gegenübergestellt.

 

Die Tatsache, dass bei der Viennale kein Wettbewerb ausgetragen wird, mag ein Grund dafür sein, dass dieses feinsinnig programmierte Festival überregional nicht dieselbe Aufmerksamkeit genießt wie andere, doch scheint dieses wenig schmerzliche Manko vielmehr Freiheiten zuzulassen, die eine außergewöhnliche Radikalität sowie die Berücksichtigung – auch geografisch – abseitiger Filmszenen in der Auswahl erlauben. Daher lässt sich das markante Profil dieser immer wieder staunen machenden Filmschau, die bei Publikum wie Filmschaffenden als anspruchsvolle, den Dialog (und nicht die Konkurrenz) suchende Veranstaltung so sehr geschätzt wird und die ihre aufrichtige Filmleidenschaft unter anderem mit einem jährlich in Auftrag gegebenen Trailer (diesmal von Jem Cohen, davor konnten bereits Agnès Varda, Jonas Mekas oder Ken Jacobs gewonnen werden) bezeugt, nur allzu berechtigt als ›termitisch‹ bezeichnen.

 

Naoko Kaltschmidt

 

www.viennale.at