22. Januar 2008

Die Faktur des Rituals

 

»Besonders der Viehhandel hat heute noch sein Ritual, seine Opfer und seine Beschwörungen.« (Ernst Jünger)

 

»O ja, o ja, das begann unser Spiel zu werden, unser Ritual.« (Dieter Wellershoff)

 

 

Dieses Buch wird vielleicht selbst bald ein Teil dessen sein, von dem es äußerst kenntnisreich spricht. Denn wenn man – wie vor allem in der Zeit vor 1900, als man den Ritualbegriff besonders auf so genannte indigene Kulte und Religionen anwandte – Rituale mit Praktiken der Initiation in Verbindung bringt, so scheint es nur noch eine Frage der Zeit, dass Burckhard Dücker, der Autor dieses Buches, zum ersten deutschen Professor der Ritualwissenschaft ernannt werden wird, um diese als universitäre Disziplin, ja womöglich sogar als „Leitwissenschaft für Kultur-, Lebens- und Sozialwissenschaften“, zu etablieren. Das ist jedenfalls das ausgesprochene Ziel dieses Buches. Natürlich können Rituale in den verschiedensten Disziplinen wie Ägyptologie (Mundöffnungsritual), Ethnologie (schamanistische Praktiken) etc. bereits studiert werden. Aber es sei an der Zeit, so der Autor, die seit über hundert Jahren andauernde Wende, Rituale eben auch auf nicht-indigene Gesellschaften anzuwenden, ernst zu nehmen und der Transformation des Schwergewichts „Ritual“ in die flockig-postmodernen Regionen der „Eventisierung“ Rechnung zu tragen – und zwar in einer eigens dafür zu gründenden Wissenschaft. Dem Begriff Ritual hängt in unseren Tagen eine gewisse Muffigkeit an. Er wird selten in Formen vor allem personaler Selbstbeschreibung verwandt. Man denkt vielleicht an langwierige Osterprozessionen, sich über Tage hinziehende Veranstaltungen bei „Eingeborenen“, bei denen aus Knaben Männer gemacht werden. Rituale und Riten – das, so scheint es, war einmal. Die abendländischen Säkularisierungsprozesse haben dem (mit dem Unterton: Gott sei dank), ein Ende bereitet. Eine der interessantesten Thesen, die Dücker in seinem Buch vorlegt, besagt jedoch, dass Ritualkritik immer nur in Form eines neuen Rituals möglich sei. Wenn Otto Mühl (den Dücker nicht erwähnt) eine Gegengesellschaft gründet, so heißt das nicht notwendigerweise „endlich frei“, sondern viel eher „ein neuer Herr“. Weitergedacht bedeutet das, dass Rituale ihre Teilnehmer mit blinden Flecken ausstatten, so dass Rituale als Rituale nicht unbedingt zu erkennen sind. Sie sind so selbstverständlich wie der Alltag auch, von dem sie sich aber doch auch abheben durch ihre legitimierende Funktion. Hier scheint denn doch so etwas wie ein „Kern“ von Ritualen zu liegen, auch wenn Dücker sagt, dass „die Frage nach Kernelementen eines Rituals eine ritualtheoretisch brisante und offene Frage“ ist. Wenn es aber stimmt, dass eine Gesellschaft, wie komplex sie auch immer sei, sich in ihren Ritualen spiegelt und wiedererkennt, so kann man durchaus formulieren, dass Rituale metonymisch für die Gesellschaft insgesamt stehen. Rituale haben somit Ordnungs- und Ortungsfunktion. Nicht damit gemeint sein kann aber damit, dass ein besonderes Ritual für die gesamte Gesellschaft steht. Systemtheoretisch müsste das Ritual dabei überkomplex sein, wo es doch gerade um die Reduktion von Komplexität geht und die Stabilisierung von ganz bestimmten Anschlusshandlungen. Das heißt aber, dass nicht-indigene Gesellschaften sich selbst genauso untersuchen können und müssen, wie das Abendland vor über hundert Jahren indigene Kulturen untersucht hat. Ich untersuche deine Rituale, und ich sage dir, in welcher Welt du lebst. Keine Frage, dass in diesem Zusammenhang die Begriffe des „Rahmens“ bzw. der „Rahmung“ von großer Hilfe sind; sie machen nicht nur darauf aufmerksam, dass man zwischen Innen- (emisch) und Außenperspektive (etisch) zu unterscheiden hat; sie führen den Begriff des Zuschnitts ein, mit dem man Größe, Tragweite und vielleicht auch Popularität eines Rituals betrachten kann. Dücker gibt sich aber nicht damit zufrieden, Rituale auch für unsere hochentwickelten Gesellschaften gewissermaßen freigegeben zu haben. Er möchte für sich und seine abzusegnende Wissenschaft den Status des Unabkömmlichen erwirken, und das macht er mit dem Konzept des „Rituotops“, ein Wort, das Dücker eigens einführt und mit dem Ritualwissenschaft in transzendentale Nachbarschaft zu Kants Philosophie rückt. Es handelt sich bei dem Konzept des Rituotops also um einen Metabegriff, der Anspruch auf anthropologische Universalität macht und völlig von dem abstrahiert, was ein Ritual im konkreten Fall ausmacht. Hier geht es um Formen wie Anfang/Ende oder Ebenenwechsel oder Tauschprozesse oder Ehrungen. Man hat hier also eine Art von Kategorientafel, mit dem das gesellschaftliche Feld durchsteppt und auf seine implizite Form gebracht ist, die dann in den jeweiligen Ritualen explizit gemacht werden kann. Man sieht: Es geht nicht ohne Rituale. Sie sind schon da und warten darauf, dass wir uns (an welchen auch immer) beteiligen. Rituale begleiten also den Einzelnen, sie orientieren ihn, stützen ihn und machen ihn vielleicht auch zum Ironiker (man erinnere sich an Umberto Ecos Bemerkungen zur unersetzbaren Floskel „Ich liebe dich“ in seiner „Nachschrift zum Namen der Rose“). Was man als Desiderat von Dücker gerne entwickelt sähe, ist der Übergang von archaischen Ritualen hin zu postmodernen Events. Hier gehört natürlich dann auch die Frage hin, ob man bei Events immer noch von Ritualen sprechen muss. Sicher, geheiratet wird heutzutage immer noch, aber vielleicht funktionieren heute Rituale eher als (flache) Dienstleister, also ohne großen Überbau. Die schwache Stelle, wenn man will, bei Ritualen ist ja deren Anhang, also das, was danach passiert. Etwas ist geschehen (die Ehe vollzogen, ein Minister ernannt, ein junger Mensch konfirmiert), aber der Vollzug als illokutionärer Akt – sprechakttheoretisch gesehen – muss von der tatsächlichen Wirkung unterschieden werden. Das Christkind ist ein readymade und tritt vielleicht heute noch perlokutionär durch. Was Rituale leisten, ist vielleicht wirklich nicht ganz klar. Burckhard Dücker allerdings geht den umgekehrten Weg und rationalisiert auch noch die alte Zeit der indigenen Gesellschaften und deren Umgang mit Ritualen, wenn er von deren „Symbolrationalität“ spricht. Dieser Begriff ist im Anschluss an Max Webers Begriffe des Zweckrationalen und des Wertrationalen gebildet und nimmt eine Zwischenstellung zwischen diesen beiden ein. Rituale, so Dücker, sind nicht l’art pour l’art, sie haben einen Zweck und sie sind Kosten-Nutzen-Überlegungen unterstellt. Abrupt formuliert: Rituale sind die billigste Form, mit der sich Gesellschaften ihre Erhaltung sichern. Eine solche These ist schwer zu beweisen und leicht ins Schwanken zu bringen. Müsste man nicht sagen, dass zum Beispiel vor der Prozedur der Nobelpreisverleihung der Welt irgendetwas gefehlt habe? Und welche möglichen Konkurrenzunternehmen hätten „die Sache“ eher verteuert? Ist nicht der Nobelpreis ein „acte gratuit“, ein schönes Spielzeug, das man aber auch durchaus entbehren kann? Auf jeden Fall müsste Burckhard Dücker den systemtheoretischen Begriff der Selbstreferenz(ialität), den er auf Rituale anwendet, präzisieren, denn nur mit einer jeweiligen Klärung von System-Umwelt-Verhältnissen lassen sich Beobachtungen zu Kosten-Nutzen-Relationen anstellen, und diese werden nicht fix sein, denn entscheidend wird dann immer der Blick des Beobachters sein, dem etwas etwas wert ist oder nicht. Ritualwissenschaft kann letztlich gar nicht bloß beschreibend verfahren, sie ist zugleich Ritualkritik, denn wo es um Einsätze geht, ist immer auch die Frage nach der Systemstelle virulent. Es bleibt nichts anderes übrig, als dass jeder Einzelne – ob eingeschrieben oder nicht – zum Ritualwissenschaftler und -kritiker werde. Und im Grunde funktioniert ja heute Gesellschaft schon so. Rituell eben.

 

Dieter Wenk (01-08)

 

Burckhard Dücker: Rituale. Formen – Funktionen – Geschichte. Eine Einführung in die Ritualwissenschaft, Stuttgart 2007, Metzler, 250 Seiten

 

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