26. Dezember 2007

Meteoritenmädchen haben andauernd Sex

Foto: Gisela Getty

 

 

 

„Dance with the westwind.“ John Denver

 

„Thank God, I´m a country boy.“ John Sommers

 

„They can´t kid me, the bastards.” Alan Silitoe

 

 

 

In Berlin traten Anne und Anke als Hausmädchen verkleidet vor dem dritten Hank Williams auf. Nach der Veranstaltung schleuste man die ganze Bande in so ein Hypercafé ... einen veritablen Unort, der zum Schauplatz eines kurzen Streits zwischen Anne und Anke wurde. Hank, mit seinem Cowboyhut, lachte darüber, er hatte beiden Avancen gemacht, gleich bei ihrer ersten Begegnung in Lubbock, Texas. Er hatte sich aber auch bereit gefunden, die Freundinnen ihrem Idol zuzuführen, seinem Buddy Willie Nelson. Erstaunlicherweise konnte sich Hank an die Party noch detailliert erinnern, bei der es zum Showdown zwischen den countryverrückten Mädchen aus Melsungen und dem Star aus Abbott gekommen war.

Hank und ich separierten uns an einer winzigen Bar. Uns bediente eine Frau, die keine Ahnung hatte, mit wem ich mich unterhielt. Ich trank Havana Club auf Eis, 6 cl, mit sehr wenig Cola. Hank erzählte von einem Film, den Dennis Hopper über seinen Opa drehen will. Die Bedienung sah ein bißchen aus wie Conchita Alonso in dem Hopperfilm Colors.

Wieder bot Hank mir an, ihn nach Amerika zu begleiten. Anne gesellte sich zu uns, in ihrem schwarzen Strickrock aus Merinowolle.

Ihre Hochsteckfrisur war ultra vintage. Ihre beinah lebenslang beste Freundin war seit ein paar Wochen mit einem reichen Adelsmann verheiratet, der es zuerst auf Anne abgesehen hatte. Wäre sie anderen Sinnes gewesen, hieße Anne jetzt von Zierenberg. Auf den Kufen dieses Einfalls entglitt ich der Situation.

„Möchtest du immer noch nichts lieber als alle Tage im Habichtswald spazieren zu gehen?“ fragte mich Anne. Sie erwartete keine Antwort. Die Aussicht mit Hank Williams III. in Amerika auf Tour zu gehen, ließ die gelernte Backwarenverkäuferin lodern.

 

Es stimmt schon, wenn Anne von sich und von Anke behauptet, nicht von dieser Welt zu sein. Mondsteingeschöpfe wäre noch zu nahe liegend, um hier irgendetwas zu illustrieren. Da hat was einen viel weiteren Weg aus dem All zurückgelegt, um sich in diesen Mädchen zu inkarnieren oder what else. Ich denke das Wort Meteoritenmädchen, freue mich darüber wie über jeden Fund, bis mir klar wird, dass das nur eine Variation des Sterntalerthemas ist.

Auf jeden Fall sind Anne und Anke kosmisch.

 

Ich dachte dann auch noch an Lavawesen, womöglich bloß, weil Anne gerade so glühte.

„I saw her naked when she was a beauty of the world“, behauptete Hank von einer Schauspielerin, die jeder kennt. Ich hatte gleich nach ihrer Hochzeit das Vergnügen mit Anke gehabt. In einem Düsseldorfer Club hatte sie sich, einigermaßen unauffällig am Tresen, solang an mir gerieben, bis mir in der Hose einer abging.

 

Plötzlich das Übliche. Ein Pulk bildete sich wie aus dem Nichts um die celebrities. Ich driftete an den Rand der Erregung, wie ferngesteuert. Ich hätte unbemerkt absaufen können, so unsichtbar war ich. Ich fand mich hart an der Glaswand wieder, vor dem Café auf dem Bürgersteig. Schwarze Hünen in wattierten Jacken polsterten die Gegend. Beute war ich in ihren Augen.

Wind trug Regen heran und spielte sich böeig auf. Kurzeckwetter. Mein Telefon alarmierte mich. Ich kontrollierte die Anrufernummer, Anke wollte was von mir ... vermutlich wissen, wo ich hingeraten war. Bevor ich den Kontakt aufnehmen konnte, wurde er unterbrochen.

Ich zündete eine Zigarette an, vom Glück wie betäubt. ... Die Schwarzen kesselten halbwüchsige Orientalen ein. Ihre Gesichter waren tribal artig geschmückt. Ich hielt die Araber zuerst für Laufburschen, dann sah ich aber, dass sie mit den Riesen auf Augenhöhe verhandeln konnten. Ein Blick führte wie ein Strahl durch den menschlichen Verhau zu mir.

Man konnte mir allerhand wegnehmen - und warum sollte man das nicht umgehend tun?

 

Ich wendete mich ab, ich stand in einem Rechteck aus haushohen Leuchtreklamen. Auf einer Wand wurde eine fleischige Frau erkannt, wie es so schön in die Bibel heißt. Ihr Gesicht war verhangen, das Haar schwarz. Schwarz waren auch die Wäschepartikel auf ihrem rosigen Leib. Da fand Milfsex statt ... mit einem Mann, der mich an meinen leichtfertigen Erzeuger erinnerte. Er hatte eine Genspur quer durch Europa gelegt und war in Ostberlin gestorben.

Der Mann auf der Wand erschütterte die Frau immer zwei, drei Mal, bis das Bild für eine Weile wieder gefror.

 

„Gefällt Ihnen das, Herr Teichmann?“

Das fragte mich eine Frau, die zwei Gesichter zu haben schien. Sie verschoben sich ineinander und waren manchmal auch deutlich voneinander getrennt. Ein Gesicht war zweifellos ägyptisch, ebenmäßig und wie zu einer Statuette gehörend; das andere war gewöhnlich und keinen zweiten Blick erheischend. Dazu gehörte eine übertrieben biedere Frisur und all die anderen Zeichen gewollter Durchschnittlichkeit.

Ich kannte die Frau aus einem Traum als dolose Killerin. In diesem Traum reagierte sie auf eine verstellte Frauenstimme so direkt, dass ein Mann, mit dem sie eben noch vertraulich war, im nächsten Augenblick ihr erstes Opfer wurde. Sie erstach ihn; keine Ahnung, wo das Messer herkam. ... Ihre Auftraggeberin war so poussierlich wie ein Hamster, das fällt mir eben ein. In Auftrag gab sie fünf Morde.

Die Frau wandte sich mir zu, ich lag mit dem Rücken zu ihr auf ihrem Bett. Trotzdem sah ich alles. Schon fühlte ich das Messer an meiner Kehle, als sich die Auftraggeberin vernehmen ließ: „Ihn darfst du nicht töten“.

 

„Sie müssen mit meinem Werk sehr vertraut sein“, sagte ich pompös.

„Das bin ich in der Tat,“ entgegnete die Frau und jetzt hörte ich ihr kultiviertes Schwäbisch. Auch darauf war ich eingestellt, ohne eine Erklärung dafür zu haben.

 

„Kommen Sie“, sagte die Frau, „ich bringe sie zu ihrem Hotel.“

„Warum bemühen Sie sich um mich.“

„Ich hatte nicht zu hoffen gewagt, sie einmal für einen Augenblick ganz für mich zu haben.“

 

Obwohl sie deutlich kleiner war als ich und sich deshalb strecken musste, nahm sie mich unter ihren Schirm. Sie ließ nicht zu, dass ich den Schirm ihr abnahm.

Ich dachte, sie benimmt sich wie eine Gastgeberin ... sie sagte: „Ich komme zwar aus Stuttgart, heiße aber Berlin, Ira Berlin.

 

„Ich kann unmöglich Frau Berlin zu ihnen sagen.“

„Nennen Sie mich Ira. Damit machen Sie mir eine Freude.“

 

„Ira, mein Schatz“, sagte ich zum Spaß ... und zu Iras Entzücken. Sie lachte wie eine Wahnsinnige.

Ich erwachte aus meiner Trance und wollte nun nicht mehr einfach abgeführt werden. Mich lockten die Bars auf der Strecke, ich wollte unbedingt weiter trinken und auch noch einmal Hank sehen und meine Band, wie ich Anne und Anke für mich nannte. Darauf war ich an einem Sonntagmorgen im Nizza verfallen, einem Hotel im Frankfurter Bahnhofsviertel. Ich war mit den Mädchen zum Frühstück verabredet gewesen; am Vorabend hatte ich einen Vertrag unterschrieben, der vorsah, dass ich über die nordhessischen Volkssängerinnen ein Buch schreiben sollte. Es war Herbst, ich fühlte mich wie im Frühling.

Im hellen Speisesaal saßen Wolf Wondratschek und Jürgen Ploog wie vorwitzige, alte Jungs herum. Wir fotografierten uns gegenseitig.

Wondratschek fühlte mir auf den Zahn. Ich nahm ihn mit meinen Nelson Algrenkenntnissen für mich ein. Nicht, dass er zugehört hätte. Ihm reichte der Klang. ... diese Idee, dass Simone de Beauvoir Sartre alles, was sie mit Algren hatte, weiter erzählte, aber immer schön in der Höflichkeitsform.

 

Ich schubste Ira in ein Lokal, in so einen Wartesaal für Wohlhabene; an sich nichts für mich. Mich lockte immerhin ein gediegener Tresen. Ich erwartete von dem Barkeeper irgendwas Enttäuschendes, Entmutigendes ... eine kleine Gemeinheit vorab. Ich hatte vergessen, dass ich nicht mehr wie ein Penner aussah.

 

Nein, der Barkeeper nahm mich an wie einen Bringer und Bescheidwisser. Ich sah mich im Spiegel, rasiert, ausgeruht, im Anzug, mit Mantel. Neben mir wirkte Ira wie eine bessere Pomeranze ... ein Sparkassengeschöpf, das eine Romanze mit dem verheirateten Filialleiter anstrebt. Ich wußte, dass dabei viel Absicht im Spiel war.

 

Ich bestellte für Ira das Gleiche wie für mich. Ihre Entscheidung deutete ich als Signal ihrer Unternehmungslust.

„Was machst du in Berlin?“ fragte ich.

„Ich habe mir Ihre Band angeschaut“, antwortete sie so auftrumpfend, dass ich meine Frage auf der Stelle bereute.

 

Ich schätzte Ira auf Mitte Dreißig. Jünger war sie bestimmt nicht, aber vielleicht hatte sich auch eine Vierzigjährige gut gehalten. Sie war brünett und so rosig und so fleischig wie vorhin die für die Öffentlichkeit Penetrierte. Sie wollte zugeknöpft wirken, in einem kastanienbraunen Kostüm.

Sie hatte kleine Füße, wie für Trippelschritte. Sie trug einen Rucksack, ein gepflegtes Stück, dass bestimmt nur bei Ausflügen in die weite Welt zum Einsatz kam.

 

Wir stießen an, ich lauerte auf ihr Trinkwort. Sie sagte Wohl bekomm´s, das hatte ich lang nicht mehr gehört.

Sie trank mit Behagen. Offensichtlich fühlte sie sich nicht deplaziert. Ich hatte den Einfall, dass Ira in einem kleinstädtischen Bürgermeisteramt tätig war. Eine Verwaltungsfachkraft mit einem Bildungsreisenfimmel.

 

„Ich habe alle Ihre Bücher gelesen“, erklärte sie idiotisch stolz.

„Wie bist du auf meinen Namen gestoßen?“

„Zufällig.“

 

Damit konnte ich was anfangen. Jede andere Erklärung wäre abwegig gewesen. Auch ich habe mich ab und zu in das Werk eines Außenseiters versenkt, bloß weil es greifbar war ... so wie die Bücher im Regal eines guten Nachbarn oder einer Geliebten für kurze Zeit. Mir fiel ein Name ein, der dazu passte: Utschick, Wolfgang Utschick, ein Autor, der kaum über sein Debüt hinaus gekommen war. Zwei, drei Titel, die ich mir in Kohlenofennähe zu Gemüte führte, noch in Kassel.

 

Anne und Anke riefen abwechselnd an. Ich ignorierte das. Schon vor der Tournee (und Lesereise) hatte ich mich dazu entschlossen, nicht allzu lieb zu ihnen zu sein. Die beiden sind perfekt darin, nachgiebigen Naturen zuzusetzen. Meiner Reserve zum Trotz, hatten sie mich komplett besetzt, nur eben nicht ausgelöscht. Ich ging meiner Wege, trug keine Koffer außer meinem, half nicht in Mäntel und aus Jacken. Das stämmige Programm lief auf Notwehr hinaus. Anne und Anke hatten mich in den Prozessen der Niederschrift ihrer Biografie an ihre Abgründe bis zur Absturzgefahr herangeführt. Noch im Schlaf weiß ich, dass jeder Liebende in ihrer Sphäre wie von emsigen Spinnen erledigt wird. Sie können nichts dagegen machen.

 

Ich würde Hank am folgenden Morgen noch einmal kurz sehen; das sollte für diesmal genügen. Jetzt wollte ich mit dieser Ira Berlin in Berlin ins Bett. Ich wollte herausfinden, was sie mit ihrem Biedersinn camouflierte.

Ich fasste Iras kräftige Knie an. Sie trug blickdichte Strumpfhosen, die an Kniebundstrümpfe erinnerten. Der Barkeeper sah meinem Vorstoß interessiert zu. Er hatte sonst nicht viel zu tun; im Gegensatz zu den Kellnerinnen, die rasant an ihm vorbei handelten. Daran erkannte ich, dass er Chef war ... und was für ein Chef er war.

 

In Iras Zügen entdeckte ich nun nichts Zwiespältiges mehr. Sie kam mir einfach nur noch neugierig und zum an mir dran bleiben entschlossen vor. Konzentriert beobachtete sie den Zahlungsvorgang, die extreme Lässigkeit des Souveräns im Fleischenreich.

Mein Blick fiel auf eine Kellnerin mit hüftlangen Zöpfen. Sie war athletisch und arrogant und für mich unerreichbar. Meine Zeit lief ab. Diese Einsicht machte mir ein fröhliches Gesicht.

 

 

Das Hotel lag in seiner Pracht zwei Ecken weiter. Ich hoffte, Hank irgendwo auf der gewaltigen Grundfläche zu begegnen, doch war alles so zugestellt und glänzend, dass ich, geblendet und irritiert, nur noch nach schnellen Lösungen strebte. Tatsächlich fürchtete ich die Schmach eines Dienstbotenerlebnisses, ich war ganz einfach noch nicht wieder lang genug auf der Sonnenseite, um mich unter Reichen entspannt bewegen zu können.

 

Ich hielt Ira an der Hand und unterdrückte den absurden Wunsch, ihr von meiner Kellerzeit als Küchenhelfer und Aushilfskellner zu erzählen. Jahre hatte ich in der Verachtung gelebt und mir darin eine hessische Maske zugelegt, so als Schoppen petzendes Original, übrigens mit dem nome de guerre Kurt und der Variante Buffet-Kurt. Buffet ist das hessische Wort für Tresen und Kurt bedeutet Wolf auf türkisch.

 

Wir standen in einer illuminierten Glasröhre, die vertikal abging. Unsere Mitreisenden redeten auf amerikanisch über ein klassisches Konzert, das für sie gerade zum Erlebnis geworden war. Ich könnte so was niemals genießen, es würde mich nicht entspannen und heiter stimmen nach einem aufreibenden Tag.

 

Ira sah sich in meinem Zimmer um. Es war für die Ärmeren bestimmt und dabei so nobel ausgestattet wie noch kein Raum, in dem ich übernachtet hatte. Erhebend war die Aussicht.

In solcher Umgebung muss man unbedingt ein Bad nehmen. Ein Podest trug die Wanne. Sie legte römisches Wohlleben nahe. Ich ließ Wasser ein und zog mich aus, ohne auf Ira zu achten. Ich fand es nicht nötig, ihr den Hof zu machen. Ich kramte nach einer Flasche Champagner, die ich ins Zimmer geschmuggelt hatte, mit der Absicht, sie kalt zu stellen. Daran hatte ich dann aber doch nicht mehr gedacht. Also würde es warmen Champagner geben. Für mich war das großartig genug.

Ich entkorkte die Flasche in der Wanne und verstand das auch als Einladung. Aber Ira wollte nicht baden. Sie kniete am Wannenrand und massierte meinen Nacken und die drapierten Arme. Ab und zu nahm sie einen Schluck aus der Pulle. Ich fühlte mich im Paradies.

 

Ich erzählte von meinem ersten Romanversuch mit dreizehn, der Entdeckung des Namens Teichmann in dem Roman „Haie und kleine Fische“, den Prozessen seiner leitmotivischen Übernahme. Jahrelang habe ich an einem Manuskript mit dem Titel „Teichmanns Aufzeichnungen“ geschrieben.

Stumpf und zufrieden betrunken wie ich war, erwartete ich von Ira esoterischen Mist in ihren Entgegnungen. Sie sagte nichts dergleichen. Ihr Wahnsinn verbarg sich unter einer anderen Stufe. Ich spürte seine Nähe.

 

Ira war nicht meine erste Stalkerin und lustigerweise hatten alle die gleiche Art sich zu geben und zu verbergen. Ich ziehe seit meiner Jugend einen nachgängerischen Frauentyp an, der sich mit Spießigkeit tarnt. Das sind Buchhändlerinnen, Bibliothekarinnen und Lehrerinnen in ihren mittleren Jahren.

Was erwarten sie von mir? Verständnis? Davon habe ich wenig.

 

Iras Kostümjackenärmel verfärbten sich. Warum zog sie nicht wenigstens die Jacke aus? Ich wandte mich ihr zu, das heißt, ich beschrieb einen Halbkreis in der Wanne. Sofort griff sie nach meine Füßen, die ihr nun am nächsten waren, und setzte ihr Massagewerk fort. Ich fragte mich, ob sie so unwillkürlich auch nach meinem Schwanz greifen würde, wenn ich ihr damit nahe käme.

 

Mit nassen Händen fuhr sie sich durchs Haar und verjüngte sich augenblicklich mit dieser Korrektur ihrer Frisur.

 

„Du bist ein verrücktes Huhn“, sagte ich.

Das nahm sie hin, als sei ich dazu bestellt, ihr sowas zu sagen. Ich trank mit dem Kopf im Nacken, ein alter Mann von sechsundvierzig Jahren und der seelischen Ausstattung eines Siebzehnjährigen.

Ich füllte die Flasche mit Wasser, damit sie sank.

 

„Soll ich Ihnen noch was zu trinken holen?“ fragte Ira.

Ich wollte nichts aus dem Kühlschrank; ich wusste nicht, wie weit die Veranstalterverpflichtungen reichten. Klar, man kam für die Übernachtung auf und für ein Frühstück. Aber womöglich nicht für den Schnaps und das Bier aus der Minibar.

 

„Wir hätten uns noch was am Büdchen holen sollen“, sagte ich, meine Bedenken schon verwerfend. „Wenn schon. In diesen Dingern steht immer ein Fläschchen Jack Daniels. Das hätte ich jetzt gern.“

 

Ira brachte es, auf Strümpfen. Was würde als nächstes geschehen? Ich bot Ira einen Schluck an, sie mochte nicht mehr mittrinken. Ich versuchte sie mir als Mädchen vorzustellen, in der Ära ihrer unvermeidlichen Wehrlosigkeit. Mir fielen ein paar fiese Dinge ein und das brachte mich darauf, an das verschissene Kerlchen zu denken, das ich war.

 

 

ANGST WAR MEINE ERSTE EMPFINDUNG

 

Angst war meine erste Empfindung. Ich wurde mit der Angst geboren, die meine Mutter vor dem unberechenbaren und gewalttätigen Mann hatte, der mich zeugte. Der Vaterrolle konnte er im Weiteren nichts abgewinnen. Trotzdem prägte er mich mit seinen Attacken. Er hielt meine Mutter für sein Eigentum. Er schlug sie und ließ sich von ihr aushalten. Schließlich floh sie mit mir. In einer kleinen Stadt verdingte sie sich als Sekretärin. Als ledige Mutter eines Bastards musste sie an verkrätzten Stellen staatlicher und kirchlicher Fürsorge um Hilfe bitten. Das ungetaufte Kind kam in einen katholischen Kindergarten, in dem pausenlos gebetet wurde. Ihm wurde eingeschärft, keinem Menschen zu trauen. Mein Erzeuger war als Drohung immer mit von der Partie. Meine Mutter fürchtete meine Entführung. Mein einziger Kumpel war ein Gastarbeiterkind. Selbstverständlich wohnte meine Mutter mit mir zur Untermiete. Nachts begehrte der geistig beschränkte, bloß körperlich erwachsene Sohn des Vermieters in seinen langen Schiesserfeinrippunterhosen Einlass. Eine Weile lebten wir mit allen möglichen Zumutungen. An keinem Arbeitsplatz konnte sich meine Mutter lange halten. Man bedrängte sie in ihrer Notlage. Sie hatte ihre Achtbarkeit verloren, jeder konnte sich an ihr vergreifen. Für die als Vorgesetzten getarnten kleinen Räuber war sie angepflocktes Freiwild. Ohne mich wäre es für sie viel leichter gewesen. Vielleicht wurde ihr sogar dazu geraten, mich abzugeben. Mir gab sie aber das Gefühl, der Unterpfand ihres Glücks zu sein. Ich war der Grund ihres Daseins und von daher rührt das Selbstempfinden, ein Riese zu sein. Ein ängstlicher Riese.

 

...

 

Du bist nicht ganz dicht, mein lieber Freund, sagte ich freundlich zu mir. Ich reichte Ira die leere Minibarflasche und erhob mich. Ira wich zurück, mit einem Mal wie somnambul.

 

Ira saß äußerst abwesend auf dem Bett. Das Bett wirkte viel einladender als sie. Die Nacht hatte das Trullahafte an Ira monströs verstärkt. Ich hatte mich mit einer Bekloppten eingelassen, die ich rasch loswerden musste.

 

„Lass uns ausgehen“, schlug ich vor.

„Ich weiß, dass du von mir enttäuscht bist.“

Zum ersten Mal dutzte mich Ira. Sie veröffentlichte ihr Unglück mit einem Herz zerreissenden Ausduck. „Ich will doch auch Sex mit dir haben, aber das geht nicht, weil ich dich zu sehr liebe.“

 

Was erzählte die Frau da auf dem Bett? Dass sie einen Mann liebte, den sie seit ein paar Stunden kannte? Sie gab sich sichtbar einen Ruck.

„Komm zu mir. Bitte.“

 

Ich trocknete mich noch ab.

„Zieh dich erstmal aus“, sagte ich. „Schon wegen der nassen Ärmel.“

„Du meinst, sonst hol ich mir den Tod.“

 

Mit dieser Anwandlung von Humor war nicht zu rechnen gewesen. Ira hielt die Hände im Schoß und sah mich wie aus Kinderaugen erwartungsvoll an. Das war zuviel für mich. Ich beeilte mich mit allem weiteren, um so schnell wie möglich in den Lift zu kommen. Im Foyer traf ich Anne, sie trug wieder ihr Hausmädchenkostüm unter einem Mantel. Offensichtlich kam Anne von einem Rollenspiel im Hotel. Da hatte einer mehr Glück gehabt als ich.

 

 

WENN AUS HASS MITLEID WIRD

 

„Ole ist im Haus“, verkündete Anne.

Ich habe Ole einmal erlebt, nach einem Konzert von Junior Brown in Baton Rouge. Er ist ein sehr großer, sehr hagerer, sehr kaltschnäuziger, total tätowierter Bilderbuchredneck mit dem intellektuellen Radius einer Klapperschlange. Wenn sich so einer in einer Kneipe beleidigt fühlt, geht er zu seinem Auto, holt den Revolver aus der Konsole, kehrt in die Kneipe zurück und legt seelenruhig auf den Mistkerl an, der ihn beleidigt hat. Nach der Aktion setzt er sich wieder an den Tresen, bestellt noch was, in Erwartung des Sheriffs. Ich setze an diese Stelle eine Aufzeichnung von Erlebnissen, die Anne und Anke mit Ole hatten, so wie sie Anne erinnerte:

 

„Halbwegs noch minderjährig ziehen wir in Felsberg eine Mädchenwg auf. Das Pensionat, so sagen wir. Phasenweise sind wir zu viert, aber in der Olezeit wohnen Anke und ich nur mit Marion zusammen. Marion ist eine ganze Ecke älter als wir und dabei, Lehrerin zu werden. Übrigens auch Religionslehrerin. Sie ist nicht groß, nicht klein, nicht dick, nicht dünn. Sie hat eine schlichte Fassade und noch nicht einmal eine nennenswerte Haarfarbe. Sie frühstückt gern früh und ausgiebig, so mit Brötchen und Trallala und, da ist sie extravagant, mit der Bildzeitung. Wir kennen sonst niemanden, der das tut und nicht alter Proll ist. Sie hat es lieber ordentlich und räumt für uns mit auf. Uns zu ermahnen, käme ihr nie in den Sinn. Ihr Freund ist auch angehender Lehrer und der größte Langweiler auf Erden. Marion lässt ihn ab und zu bei sich schlafen, sie übernachtet nie bei ihm. Wir glauben, dass sie in dieser Beziehung die Fäden zieht, a la stille Wasser sind tief.

Marion erfreut sich an uns auf ihre Weise, bloß mit Country kann sie nichts anfangen. Sie gehört trotzdem zu unserer Stagehandcrew und sie fährt uns auch. Sie übt sich oft in Geduld. Das läuft bei ihr unter der Überschrift Girliepowersupport.

In gewisser Weise sind wir für Marion ein musikpädagogischer Projekt.

 

Eine Konzertankündigung macht uns auf Ole aufmerksam. Er ist auf dem Plakat so scharf abgebildet, das wir unsere Kontakte spielen lassen, um eins als Schmuckstück für unsere Küche zu ergattern. Selbstverständlich gehen wir zu dem Konzert ohne Marion. Oles Band ist interracial und alle nennen sich Nigger. Gespielt wird mit irrer Südstaatenhitze eine cowpunkige Mischung aus Country und Blues. Man hört viel Hellbilly heraus, wir sind hin und weg. Wir fühlen uns wie auf einem anderen Planeten ... in Kasseler Schlachthof. In dieser Stadt gibt es kein Publikum für Countryavantgarde. Das ist definitiv kein Jazz oder so was.

 

Wir wollen uns die Nacht in Kassel um die Ohren schlagen. Das kann an sich nicht aufregend sein. Ausgerechnet im Fez treffen wir dann aber Ole, der schon ziemlich in den Seilen hängt, mit seinem Stetson im Genick. Er trägt Schlangenlederstiefel. Gnadenlos cool kommt er uns vor. Wir singen ihm unsere Lieder vor und machen ihm schöne Augen. Auf seine unterkühlte Weise begeistert er sich für die Zeile „Wenn aus Hass Mitleid wird“. Wir haben den Satz blöden Fußballfans geklaut. Sie trugen ihn auf einem Transparent mit sich herum, auf dem außerdem „Fühlt euch alle gefickt“ stand. Das haben wir uns auf T-Shirts drucken lassen.

 

Für Ole sind nordhessische Hellbillybräute surreal. Ich merke schon, dass der Mann aus Alabama Anke schärfer findet als mich. Sie hat immer dann die besseren Argumente, wenn man es gern üppig hat. Sie drängt Ole ihr Dekolleté auf, total bereit für jede Schandtat. Das bin ich auch. Ich schließe auf, abhängen lasse ich mich nicht.

 

Wir besprechen uns kurz auf dem Klo, den Ole, den nehmen wir mit. Er muss bloß das Taxi zahlen. Wir laden ihn also in aller Form nach Felsberg ein, er guckt während des Vortrags von einer zu anderen, kriegt aber nicht mehr so richtig viel mit. Plötzlich zückt er sein Telefon, wendet uns den Rücken zu und führt sein Gespräch. Zehn Minuten später hält ein Nightliner vor dem Fez. Drei Typen, die alle eim bißchen wie Ole aussehen, nur eben nicht so gut, kommen breitbeinig wie zu einer Schusswechselverabredung in diese Kasseler Kneipe. Die Herrschaften haben sich auf eine beispiellos höfliche Weise bereitgefunden, uns heim zu fahren. Sie riechen nach scharfem Rasierwasser.

Im Bus liegt eine Gitarre, ich spiele und singe und Anke und Ole singen mit on the road again. Das Begleitkommando lässt die Stiefelspitzen swingen.

 

Dem Fahrer müssen wir zwischendurch natürlich viel erklären. Er erfüllt seine Aufgabe vollkommen laid back. Es ist alles wie im Film, einschließlich des Schuhkartons voll Kokain.

 

Wir steigen mit Ole vor unserer Haustür aus; er wechselt noch ein paar Worte mit seinen Jungs. So wie wir gerade unterwegs sind, dürften die alle mitkommen.

Als erstes soll Ole unser Plakat signieren. Er überschreibt fast die ganze Fläche; wir finden das chic. Er setzt sich auf einen Küchenstuhl, Anke setzt Milch für eine Seemannsmischung (heiße Milch mit Rum) auf. Ich krame unser Gras raus. ... Ole redet immer langsamer und breiter ... mit ganz schwerer Zunge. Wir verstehen ihn schon nicht mehr und kriegen gar nicht richtig mit, wie Oles Gerede in Schlafgeräusche übergeht. Er fängt auf dem Küchenstuhl an zu schnarchen, bleibt aber kerzengerade.

 

Anke und ich legen uns in ein Bett, mit der vagen Hoffnung, dass Ole sich gelegentlich dazu bequemt. Aber Pustekuchen.

 

Ich komme in die Küche, Anke schläft noch. Ole sitzt immer noch auf seinem Stuhl und redet nun wieder ... mit Marion. Die Konversation wird auf ihrer Seite verblüffend engagiert und grammatikalisch akkurat geführt. Sie beteiligt Ole an ihrer Frühstückszeremonie mit allem Drum und Dran und englischer Konfitüre. Das gefällt Ole sichtlich. Er hinterlässt dann auch ihr seine Telefonnummer. Jedenfalls kommt mir das so vor.

 

 

Drei Tage später tritt Ole in Frankfurt auf. Nur ein paar Stunden vor dem Auftritt beschließen Anke und ich, ihn uns noch einmal anzugucken. Wer weiß, wann wir uns wiedersehen. Mit der Eisenbahn fahren wir ganz langsam nach Frankfurt. Der Zug ist eine Pendlertransportmaschine und hält in jedem Kuhdorf.

In der Rheinmainsenke leben noch genug Amerikaner, der Andrang in der Batschkapp ist entsprechend. Wir stehen vor der Diskothek im Regen und versuchen Ole telefonisch zu erreichen. Irgendwann kommt ein Kontakt zustande, aber nicht mit Ole. Der Mann am anderen Telefon kann mit meinen Einlassungen nichts anfangen. Er steht im Krach, mir scheint, das meine Stimme kaum zu ihm durchdringt. So entnervt wie enttäuscht erkläre ich den Kontaktversuch für gescheitert.

Wir haben nicht genug Geld für Tickets, das Konzert ist auch ausverkauft. Zu unserem Glück taucht Silke auf, die Bookerin des Elferkellers. Wir sind da schon aufgetreten, Silke kennt uns also. Sie sorgt dafür, dass der Tourmanager vor die Tür kommt. Den kennen wir auch, er war auf der Nightlinertour dabei. Sein Gesicht hellt sich bei unserem Anblick auf, wir sind ja auch hübsch anzusehen und außerdem echte deutsche Extremcountryafficionadas und Cowpunkkennerinnen. Mit, ich möchte sagen, texanischer Freundlichkeit, bittet er uns backstage. Wir kriegen Kaffee in Pappbechern und finden das heiß. Ole kreuzt auf, küsst uns zierlich auf die Wangen. Wunderbar, dass wir es einrichten konnten, zu erscheinen. Leider gibt es keinen VIP-Bereich, aber selbstverständlich gehen alle Getränke aufs Haus und wir kriegen Pässe.

 

Ole berichtet einer wogenden Menge, dass wir da sind. Wir reißen die Arme hoch, damit alle sehen, wer mit dem Grußwort gemeint ist.

Wir tanzen entfesselt in einem Hexelkessel. Die Batschkapp bricht fast auseinander und hier gibt es, das ist für uns keine Selbstverständlichkeit, noch mehr Countryriotgirls. Wir erleben die Situation wie einen Durchbruch.

 

Bei einer Aftershowsession sind wir auch musikalisch dabei. Alle staunen. Wir bedauern nur, dass wir unsere Cowboyhüte nicht dabei haben. Aber wir tragen im Partnerlook unsere original Westernwesten und Lone Star-Shirts mit einem Aufdruck des David Crockettzitats „You may all go to hell, I will go to Texas“.

 

Wir sind ganz weit vorn in der Gunst von lauter Kennern und Könnern unseres Genres. Kann eigentlich gar nicht sein, dass wir hier ohne Plattenvorvertrag wegkommen. Warum nicht künftig vor Ole als supporting act auftreten?

Lange nach Mitternacht sitzen wir mit Ole im Taxi. Er hat das angeleiert, wir denken, wir fahren jetzt noch was trinken oder ins Hotel. Aber Ole will nach Felsberg, wir vermuten wegen your nice Freundin, die er im Verlauf des Abends schon ein paar Mal zu oft erwähnt hat.

 

Mit dem Taxi nach Felsberg?

„Why not.“

 

Der Fahrer, ein misstrauisch, missmutiger alter Kümmelsack mit Käppchen kriegt viel Kohle vorab, damit er Vertrauen fasst. Wir fürchten, dass er einen Unfall baut; er guckt ständig in den Rückspiegel, um zu sehen, wie Ole an uns herumspielt. Röckchen lüften, nennen wir das oder auch Kindergeburtstag. Wenn man einem Mann soviel in die Hände legt, dann wird er, nach unseren Erfahrungen, leicht kindisch.

 

Wir ermutigen Ole nicht all zu sehr, wegen der Unfallgefahr. Er hat einen echten Holmes in der Hose. Well, well. Einträchtig betreten wir die Wohnung ... Marion kreuzt unseren Weg wie so ein geblendetes Reh auf der Autobahn. In ihrem Heiaringelleibchen ist sie hoch erfreut, Ole wieder zu sehen und er ist auch hoch erfreut. Ansonsten ist sie zu müde und muss früh aufstehen.

Wir lotsen Ole in das Zimmer mit dem größten Bett, er zieht Anke auf seinen Schoß. Das war absehbar. Mit unverstelltem Stolz und monumentaler Zeigelust gewährt Anke dem Amerikaner einen tiefen Einblick. Er hat immer noch die Stiefel an und den Hut auf. So legt er Hand an sich.

 

Er will uns mit seinem Telefon fotografieren. Das finden wir nicht so chic. So möchten wir nicht verlinkt werden. Wir spielen Asse küssen und Königssaufen. Wir kreiieren ein widerliches Getränk aus Asbach, Wodka, Wein und Bier. Anke verfärbt sich als erste. Ich habe einen Filmriss und als ich wieder zu mir komme, bin ich bei etwas mit von der Partie, das ich so noch nicht erlebt habe.“

 

 

Das ist bereinigter Text. Nur soviel noch: den größten Eindruck machte Ole der angehenden Lehrerin Marion. Sie folgte ihm in die Staaten und ließ sich seinen Namen als Hirschgeweihvariante von Ranken umwunden stechen. Inzwischen wurde die Tätowierung mit einem Knochenx aktualisiert. Marion lebt heute in einem immobilen Wohnwagen, auf einem Abstellplatz in Carmel, Kalifornien. Wenn ich das richtig verstanden habe, dann hatte sie eine Offenbarung. Seither fühlt sie sich zu Weissagungen berufen. Anke könnte das so kommentieren: Sie versucht den Mehrwert ihres Niedergangs schamanisch abzuschöpfen. Anne würde sagen: Bist du nicht tough, wird ein anderer gleich rough. Sellerie, mon cherie.

 

Theoretiker nennt Anne Männer ohne Feuer. Sie sind ihr ein Greuel. Ich stünde auf keiner ihrer Listen, wäre ich nicht ihr Biograf. So findet sie mich irgendwie niedlich.

 

Wir saßen gemütlich ein Stündchen beisammen, Anne wirkte ungemein belebt. Otto spazierte an uns vorüber. „Wer braucht kein Kondom und keine Pill?“ rief ich, und er fröhlich zurück: „Anne Will.“

Ich hatte den dämlichen Spruch von ihm in der Höchster Jahrhunderthalle gehört und bald darauf lustigerweise mit Ottos Gagschreiber Pit Knorr das Vergnügen gehabt. Inzwischen kam ich wieder ganz schön unter die Leute.

Als ich Stunden später nachsah, hatte sich Ira absentiert. Zum Glück, ohne eine Nachricht hinterlassen zu haben.

 

 

Wir spulten in einer märkischen Kreisstadtbuchhandlung unseren Text ab. Das Publikum wirkte wie ausgehoben und zwangsverpflichtet. In der Vorbesprechung hatte jemand gefragt, ob wir an Gott glauben.

Niemand hatte daran gedacht, mich nach meinen Getränkewünschen zu fragen. Anke spielte mit der Plastikkappe einer Sprudelflasche. Ich wusste, dass sie sich so unbehaglich fühlte wie ich mich. In dieser Gegend fanden ab und zu Progromvorläufer statt. - Lightversionen der Verfolgung.

 

 

„Wo man nicht mit dem Flugzeug hinkommt, da will ich auch nicht sein“, sagte ich zu Ira Berlin. Sie war schon überall und außerdem Vorsitzende des örtlichen Kulturförderkreises. Sie hatte noch zu tun gehabt, tatsächlich im Rathaus, und war knapp vor Ende der Veranstaltung in der Buchhandlung aufgetaucht. Mit einem Stuhl wurde für sie die erste Reihe erweitert. Das erschien ihr selbstverständlich. Hier war sie wer und daran ließ diese Schwäbin in Brandenburg auch keinen Zweifel aufkommen.

 

Nun saßen wir in einer gutbürgerlichen Schenke, ich aß Schnitzel auf Empfehlung. Die Wirtin hatte etwas von einem mittelalterlichen Prälaten und mischte munter mit beim Honoratiorenzirkel. Bis hinauf zum Bürgermeister Andreas verband sich mit unserem Auftritt ein Pflichttermin.

Die Leute rochen verdorben.

Ira schirmte mich vor der bodenlosen Neugier ihres Klüngels ab. Sie garantierte meine Bewirtung.

Sie hatte Lippenstift aufgelegt.

 

Ein Mann machte sich zum Narren. Im Brokat der Selbstüberschätzung protzte die kleine Kröte des Gelehrtengedöns. Anne und Anke waren mit einem vollbärtig angereisten Regisseur zugange. Ich schnappte den Satz auf: „Das war nicht Pogo, sondern Nahkampf.“

Der Regisseur behauptete, mit einer Koryphäe, die ich nicht kannte, dies und das fertiggebracht zu haben. Anne und Anke verfügten über Reverenzen und fanden, dass er nicht übertrieb. Sie wollten ihn gleich einspannen und er wollte sich auch gleich einspannen lassen. Ich registrierte, wie sehr sich die Mädchen langweilten und empfand wieder einmal eine tiefe Verbundenheit mit ihnen.

Unterdessen bildeten sich lauter Gesprächskreise. Die Leute verzogen sich in Ecken und Nischen. Ira prüfte mein Interesse an personellen Einzelheiten. Gern hätte sie mir die Hackordnung vor Ort in ihren Fein- und Gemeinheiten erläutert, allein, mir fehlte der Wille, ihr zu folgen.

 

Auf dem Klo kriegte ich mit, dass hier, wie zu meiner Zeit in Kassel-Waldau, das politische Gespräch an den Urinalen fortgesetzt wurde. Auf dem Weg in den Schankraum kam mir Ira mit Abfangabsichten entgegen. Sie musste ihre Vorstellungen vom weiteren Verlauf dieses Abends verschleiern. Ich ließ sie ein bißchen auflaufen, am Zigarettenautomat lehnend, in einer gekachelten Kulisse. Ich habe viel Zeit in Kneipen verbracht und dabei meine Sinne für Auf- Ab- und Zugänge geschärft ... für all diese Nebensachen und für den noch nicht ganz aufgegebenen und deshalb zum Beispiel in der Sanitärsphäre abgestellten Kram ... Schirmständer, Vasen, alte Telefonbücher ... ältere Schnapsglaskollektionen.

Ich sehe so was gern, keine Ahnung warum.

 

Ich sah Iras Angst, sich mit einem durchreisenden, halbkanakischen Gaukler (an der Seite unbegreiflicher Frauen) zu kompromittieren. Das fand ich überschaubar. Irritierend war Iras rigoroser Zugriff. Ich dachte, sie hat Routine im Klandestinen. Da ist ihr viel geläufig, wie infolge einer ständigen Praxis. Vielleicht vernascht sie jeden durchreisenden Artisten.

 

Ich verabschiedete mich von Anne und Anke, ein Echo ihrer Eifersucht vernehmend. An das geschmiedete Geländer der Freitreppe war ein Hund gekettet. Er schlug nicht an. Die Säuferampel war schon aus, die Straße menschenleer. Ich ging ein paar Schritte, die Ledersohlen erzeugten lauten Widerhall. Alarmiert wie selten, verlagerte ich den Sitz meiner Pistole an der Hüfte, in Erwartung eines fröhlichen Haufen Kahlköpfe. Ich hörte ein Auto, ein einziges mitten in der Stadt, Ira fuhr vor, in der S-Klasse. Wieder erstaunte mich die Selbstverständlichkeit, mit der sie mich vom Bordstein auflas.

 

Sie hatte schon ein Gesicht für mich: eine Kompetenzlarve. Am Rückspiegel baumelte ein Steifftier. Der Wagen roch nach Kiefernnadelduftspray. Ein paar Magazine fuhren mit so wie die in kurzen Abständen enervierenden, unser Lebensalter konterkarierenden, abgefahrenen Klingeltöne der Telefone.

Die Stadt lag da wie entvölkert.

„Du kannst ruhig rauchen“, sagte Ira. Ich wähnte mich auf dem direkten Weg zu einer Kiesgrube. Ein Text stand im Raum, der vom Krieg handelte, von letzten Kämpfen im Gestrüpp und von verscharrten Toten.

...

„Was hat dich hierher geführt?“ fragte ich.

„Meine Mutter stammt aus dieser Gegend. Sie wollte in ihrer Geburtsstadt sterben. Ich habe sie bis zum Schluß begleitet und dann den Absprung nicht mehr geschafft.“

 

„Hast du eine Familie gegründet?“

„Ich habe es versucht. Mein Sohn ist zu seinem Vater nach Ulm gezogen, als er vierzehn war. Er möchte Schauspieler werden. Ich finde, er sieht aus wie Christian Klar als Jugendlicher und er heißt auch Christian.“

 

Redeten inzwischen Mütter so über ihre Söhne? Ich kannte mich damit so wenig aus wie mit dem Mordsauto, das Ira durch die märkische Totenstadt steuerte.

Wir hielten in einem Neubaugebiet mit Ein- und Zweifamilienhäusern. Sie hätten überall stehen können, die Straßen trugen Vogelnamen.

Die Dunkelheit nahm den Fassaden ihre Höhe.

Ira wohnte in der Taubenstraße. Eine Mauer grenzte den Besitz ein. Die Außenbeleuchtung war flutlichtartig und wurde von Bewegungsmeldern aktiviert.

 

„Wahrscheinlich kann hier keiner heimlich nach Hause kommen.“

Ira amüsierte sich aufklärend vor ihrer funkelnden Haustür. Die Häuser in dieser Straße standen alle leer. Die meisten waren nicht bezugsfertig. Eine Bauherrengemeinschaft war pleite gegangen, nach der amtlichen Feststellung, dass Gutachten gefälscht worden waren. Man hatte auf verseuchtem Grund gebaut.

„Und das kratzt dich nicht?“

„Dieses Haus ist nur ein Nebenschauplatz meiner Existenz.“

...

„Wieso wußtest du als rechte Hand des Bürgermeisters nichts von der Kontamination?“

Wir standen auf den weißen Fliesen eines Raums, der Wohnzimmer und Küche vereinte. Alles sah aus wie in einem Einrichtungshaus zur Ansicht aufgebaut. So unberührt.

„Du bist doch nur auf der Durchreise“, entgegnete Ira. „Wozu willst du dich mit ortsgemeiner Kuriosa aufhalten?“

Ich dachte an den ersten Augenblick unserer Begegnung: Ira hatte mir eine Ansicht ihrer Doppelwesenhaftigkeit gewährt. - An meinen Traum ... ich war von Anne und Anke verschont worden, obwohl ich sie nicht ganz zufrieden gestellt habe und sie es kaum ertrugen, meine Ressource nicht wie jedes Gefäss in ihrer Reichweite ganz auszuschöpfen. Diese Erfahrung hatte mir Mut beigebracht und meiner Neugier ein weites Feld erschlossen. Ira mochte die Trulla sein, die ich in Berlin auf dem Hotelbett gesehen hatte, totsicher konnte sie aber auch ganz anders.

 

Ich ging zu einer Flasche Jack Daniels. Sie stand allein für mich auf der Anrichte.

„Ich war vorhin noch am Büdchen“, sagte Ira.

Ich bediente mich im Schatten der futuristischen Dunstabzugshaube. Wie oft hatte ich so was zu reinigen gehabt.

 

Ich trank im Stehen, vor der Anrichte wie an einer Theke, zum ersten Mal an diesem Tag ganz entspannt. Sämtliche Apparate und alle Geräte kamen mir vor wie nie gebraucht. In diesem Haus wohnte keiner. Vielleicht diente es als Liebesnest und als Ort konspirativer Besprechungen einer schwäbisch verstärkten, ostdeutschen Kommunalpolitikermafia.

 

An den Wänden hingen abstrakte Gemälde, die mich an einen Künstler erinnerten, der auf Leinwände pisste und seine Machwerke an Banken verkaufte. Daneben die schwarzweiße Fotostrecke einer Landschaft, wie aus dem Katalog oder von einem Künstlerweihnachtsbasar. Damit war man bloß auf unverbindliche Weise Einrichtungsverpflichtungen nachgekommen.

 

Ich entdeckte keinen Kleinkram, keine Gebrauchsspuren an der Anlage, aber auch keinen Staub. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Ira sich zum Feudeln bereit fand.

 

Ira war verschwunden.

 

Ich sank mit meinem Getränk auf ein cremefarbiges Sofa. Fernbedienungen lagen in Reichweite und sprachen Aufforderungen aus, denen ich nicht nachkommen wollte.

Ich versenkte meine Pistole in Ritzen. Langsam wurde es mir zu warm in meinem Mantel. Ich stellte mir Ira in der Badewanne auf mich wartend vor. Bestimmt verfolgte sie eine Inszenierung mit umgekehrten Vorzeichen. ... Der Whisky wirkte, ich streckte mich auf dem Sofa aus, die Schuhe noch an den Füßen ... ohne eine Idee, warum ich nicht aktiver und entgegenkommender war.

Ich belauschte das Haus und seine Umgebung. Bald würde Ira barfuß im Bademantel vor mir aufkreuzen.

 

Ich erwachte. Niemand hatte das Licht gelöscht und eine Decke über mir ausgebreitet. Ich versicherte mich meiner wichtigsten Sachen und überwand dann auf einer Wendeltreppe den Abstand zum Obergeschoss. Sämtliche Türen standen auf, dem Badezimmer merkte man noch an, dass darin zu heiß gebadet worden war. Iras Düfte hatten in diesem Raum ein Heimspiel. Ein Alltag zeigte sich darin, mit Gewohnheiten und Vorlieben. Hier trieb eine Frau Aufwand.

 

Eine Frau? Für eine Frau war von allem zuviel da. Ich zählte wenigstens ein Dutzend Badezusätze. Die Schönheitsartikel waren nicht zu zählen. ... vier Zahnbürsten ... ich betrat das hell erleuchtete Schlafzimmer. Ira lag im Bademantel auf dem Bett, ihre winzigen Zehennägel waren grün lackiert.

Sie schnarchte. Ich hatte kaum je das Schnarchen einer Frau gehört. (Außer bei Kat, wenn sie sehr betrunken war.) Auf einem Nachttisch lagen meine Bücher. Einige mussten antiquarisch erworben worden sein.

 

Ich legte mich zu Ira. Sie reagierte auf diese Veränderung. Der Schnarchton bekam Nuancen.

Ich schob den Bademantel über die Schenkel, griff in erschlafftes Gewebe. Bindehautschwäche, dachte ich sonderbar.

 

Ich wachte mit heftig schaukelnden Brüsten vor der Nase auf. Ihre Höfe waren groß wie Unterteller.

Ein Ausdruck irrer Zärtlichkeit entstellte Ira. Über mir auf allen Vieren, fragte sie: „Hast du schön geschlafen?“

Darauf wollte ich nicht antworten. Ich kannte diese Frau kaum. Sie war mir auch nicht besonders angenehm.

Sie versuchte mir eine Brust in den Mund zu stopfen. Ich sollte regredieren und wie ein Baby krähen. Das ist mir nicht zu haben. Ich stieß Ira weg, sie fiel mit einem Schmollmund um. „Du bist ein Schlingel“, stellte sie fest.

 

Sie schien an Idioten gewöhnt zu sein; an Provinzpotentaten, die sich an einer Hundeleine erleichterten.

 

„Ihr dreht hier Pornos“, sagte ich, einer Eingebung folgend. Ira berührte mit einem Finger meine Nase an der Spitze. Offenbar fand sie mich neckisch.

Ich konnte sie nicht aufregen.

 

„Du hast doch längst spitz gekriegt, dass ich Wachs bin in deinen Händen.“

 

Auch wenn das hochmütig klingt, für mich war das keine neue Erfahrung. Neu war mir nur meine Indolenz, die Unlust am direkten Vollzug und daran, einer Frau, und sei es nur aus Höflichkeit, Befriedigung zu verschaffen. Ich langweilte mich und verspürte Hunger.

 

Ira nahm noch einen Anlauf, indem sie sich auf mich setzte und ihre Brüste in meine Hände gab. Sie registrierte meine Gleichgültigkeit und deutete sie als Unvermögen. „Kannst du zu mir nicht ein wenig lieb sein“, fragte sie mit erschreckender Kindlichkeit. „Ich habe mir extra wegen dir den Vormittag frei gehalten.“

 

Zum Glück war es schon halbelf. Eine halbe Stunde später marschierte Ira ins Bad und ich inspizierte die Etage. Ich entdeckte eine zweite Küche. Sie gab alles her für ein Frühstück. Ich stellte für Ira eine Tasse bereit, das freute sie ... in ihrem schwarzen Hosenanzug. Sie war nun wieder die patente Verwaltungskraft, eine gescheite Person in Verhältnissen, die sie brillant erscheinen lassen konnten. Sie bot mir an, zu bleiben, „solang du magst.“

Sie riet mir, ein Taxi für jede räumliche Veränderung zu nehmen.

 

 

Ich hatte zwanzig neue Nachrichten in meinem Notebook. Anne und Anke erzählten mir eine Konkurrenzgeschichte. Sie wollten wissen, wo ich steckte. Zur Zeit stand ich Anne näher als Anke, das änderte sich immer mal wieder. Davon hing die Ausführlichkeit unseres Gesprächs ab. Anke hatte mir einmal, Anne sieben Mal geschrieben. Ihre Gedanken kreisten um die erste Begegnung mit Willie Nelson. Sie sah mich in erster Linie immer noch als Chronisten ihrer Leidenschaften.

 

 

An diesem Abend hatte ich keine Verpflichtungen, am folgenden auch nicht. Dann sollten wir in Leipzig auftreten. Ich war schon einmal in Leipzig gewesen, mit Kat, die da studiert und ihren Mann kennengelernt hatte. Ich erinnerte einen Spaziergang im Clara Zetkin-Park, nach einer Lesung im ehemaligen Johannes R. Becher-Institut. Haslinger hatte mich eingeladen. Fast erschüttert stellte ich fest, wie wenig innerer Aufruhr sich noch herstellen ließ mit einer Katgedenkminute ... nach all den furiosen Jahren, halb in der Gosse. Mein Hass, meine Liebe, meine Enttäuschung und mein angegriffenes Ehrgefühl hatten mich von allem isoliert. Vorderhand befasste ich mich mit dem letzten Dreck der Leute, während ich in Wahrheit wie wahnsinnig vor mich hin wütete. Bis in meine Träume verfolgt von Kat, hatte ich für den schäbigen Rest, der mich doch ständig aufhielt, rein gar nichts übrig.

Jetzt hatte mich die Gegenwart und mein Ehrgeiz wieder. Zu meinem Erstaunen reichte meine Geistesgegenwart, um Erfolg zu haben. Auf einer Außenbahn des Gesellschaftlichen folgte ich einem Kometenschweif. ... Ich verabredete mich mit der Band in Leipzig; solang wollte ich in diesem Haus bleiben. Das verriet ich nicht. Ich wusste, dass ich im märkischen Augenblick zu Text kommen würde. Ira war die Lieferantin.

 

Die Ereignisse kamen mir wie auf einem Schwungrad entgegen. Einer Eingebung folgend, sah ich mir meine Bücher auf Iras Nachttisch an. Eines hatte ich Kat gewidmet. Nicht, dass mich das gewundert hätte. Ich fühlte mich wie in einem Zauberwald.

Um vierzehn Uhr erreichte mich ein Brief von Anke: „Lieber Jamal, ich hoffe, Du denkst ununterbrochen an meinen Arsch. Was auch immer Du treibst, es soll mir gleich sein, solange Du mir nur treu bleibst. Heute hat mir mein Mann am Telefon gebeichtet, wie scharf er immer noch auf Anne ist. Ich erwäge, sie diesem Kretin für 10.000 Euro eine Nacht lang zu überlassen. Wie denkst du darüber?“

Unterschrieben hatte Anke mit rich bitch no.one.

 

Ständig versuchte mich jemand zu erreichen. Ich war für niemanden zu sprechen. Ich nahm einen alten Erzählfaden auf, mit ihm ging der Tag zu Ende. Am frühen Abend legte ich mich ins Bett, in Erwartung eines starken Traums. In produktiven Phasen geschieht alles wie im Schlaf.

 

Ich erwachte von Geräuschen zu ebener Erde. Mir war schon klar, dass Ira mir noch etwas bieten würde. Ich schlich zur Treppe und sah durch Streben einen Fuß im Mund des Bürgermeisters Andreas. Natürlich sah ich viel mehr, aber dieser Kontakt bot das stärkste Bild.

 

Ich fasse das Weitere zusammen. Bürgermeister Andreas trank Wasser aus einem Napf. Er ließ sich durchs Wohnzimmer führen. Er bellte. Er befolgte Kommandos wie jeder brave Hund. Er hörte auf den Namen Boss ... Boss sitz undsoweiter. Er leckte Ira, die als sein herrisches Frauchen auftrat. Ira gab die Domina so schwäbisch, dass es mir eiskalt den Rücken herunterlief.

 

Wieder im Anzug fand Bürgermeister Andreas zu seiner öffentlichen Rolle zurück ... ein Routinier auf jeden Fall. Die Sitzung hatte wenigstens eine Stunde gedauert, der Amtsinhaber war nun in Eile.

 

Ira hielt ihn nicht auf. Als ich die Treppe herunterging, wusste ich bereits, mit welchem Blick sie mir begegnen würde.

Sie verbarg ihren Triumph nicht vor mir. Sie spielte mit der Leine, hielt das Halsband hoch. „Hast du alles gesehen?“

„Ich glaube schon. Wie ist der Mann auf den Hund gekommen?“

„Das weiß ich nicht. Als ich seine Geliebte wurde, hatte ich keine Ahnung von seinen Vorlieben. Er hat nie auch nur Andeutungen gemacht, solang unser Verhältnis sich im Beruflichen erschöpfte. Er hat sich dann sehr behutsam vorgetastet, zuerst nur mit den beiläufigsten Bemerkungen. Aber da war mir schon klar, dass er im Bett nicht das Nullachtfünfzehnding wollte.“

„Und dir gefällt das so?“

„Nicht uneingeschränkt. Ich habe mich in meiner Rolle ihm gegenüber erst einleben müssen.“

„Verkehrt er mit seiner Ehefrau auch so?“

„Wenn es stimmt, was er sagt, dann hat er zuhause keinen Sex mehr.“

„Glaubst du das?“

„Ich halte es für möglich.“

 

„Warum hast du mir dieses Schauspiel geboten?“

Mit einer unerwarteten Geste der Hilflosigkeit signalisierte Ira einen Erklärungsnotstand. Sie war immer noch fast nackt und dabei so unbekümmert wie auf Rügen.

 

„Glaubst du, dass ich mich an eine Leine legen lasse?“

„So denke ich überhaupt nicht über dich nach.“

Plötzlich wußte ich, dass Ira nicht zufällig an meine Bücher geraten war. Hatte sie jemand auf mich angesetzt?

 

 

 

ELBARNO

 

In Leipzig lasen wir in der Nato. Anke trug die Elbarnoballade vor. Die Namenskreation verbirgt die wahre Identität eines spät erst, dann aber gründlich vor die Hunde gegangenen Tausendsassas, der mit den Beatles am Anfang ihrer Laufbahn und so auch mit Elvis und Johnny Cash zu tun hatte. Als Musiker war er bekannt geworden, als Lebemann, Impressario und stiller Teilhaber von diesem und jenem lange eine hanseatische Erscheinung geblieben. Alt, pleite, polytoxikoman und von der Welt vergessen, fanden ihn die Mädchen zufällig als Nachbarn hoch unter einem Hamburger Dach, in einer Flucht trostlos verlassener Buden. Nur Elbarno nistete wie eine traurige Schwalbe in von Spinnweben überzogenem Gebälk. Die Mädchen ergötzten sich an der Tristesse und dem illustren Nachbarn. Man bekam viel voneinander mit. Die Kammern hatten Wände aus Presspappe. Elbarno stand schon bis zu den Knien im Dreck. Wie aufräumen geht, wusste er nicht oder was auch immer.

Die Mädchen organisierten für ihn ein Benefizkonzert. Plötzlich erinnerte man sich wieder an Elbarno. Sie engagierten einen Studenten als Putzkolonne. Der junge Mann entdeckte im Wust nicht einen einzigen Roman und keinen Tonträger. Dabei war Elbarno als Musiker charttauglich gewesen und mehrmals ausgezeichet worden.

 

„Wir kommen mit einem Eimer Farbe an. Elbarno ist entsetzt, er will seine Ruhe. Das macht er uns so deutlich, dass wir uns verziehen. Wir wissen nicht, was er alles nimmt. Es ist auf jeden Fall eine ganze Menge.

 

Wir zerlegen eine Trennwand und vergrößern so unseren Wohnraum. Den Korridor nutzen wir als Lagerplatz. Das wirkt belebend, auch auf Elbarno, der anfängt, zutraulich zu werden. Er kommt in unsere Unterkunft, wenn wir nicht da sind, stellt seinen Wein und Kram in unserem Kühlschrank kalt und trinkt gegebenfalls unseren Wein. Wir mögen ihn sehr, seine verhangene Art, die abgelebte Kraft ... seinen Humor und seine Höflichkeit.

Er erzählt von einer religiösen Krise, die ihn Jahre seines Lebens gekostet habe. Wir, diesseitig bis zum Anschlag, können das kaum glauben.

Elbarno spielt immer noch großartig Gitarre. Manchmal passt er unpassende Augenblicke ab, um uns zu besuchen. Dann steht er wie blind in der Tür und sieht vermutlich doch alles. Ein Liebhaber, der Elbarno gegenüber ausfällig wird, darf nicht mehr kommen.“

 

 

Nach der Lesung ließen es die Mädchen in einem Südstadtclub krachen und ich überließ mich meinen Erinnerungen. Bei meinem letzten Aufenthalt in der Stadt hatte ich einen Taxifahrer gebeten, mich zu einer volkstümliche Gaststätte zu bringen. Er setzte mich vor dem herausgeputzten Mückenschlösschen ab. Ich fühlte mich in Leipzig unverstanden und wurde das Gefühl da auch nicht mehr los. Ich sah mir dann auch noch die Schneiderpassage an und verblüffte in der Pfeffermühle einen, weil ich wußte, wer Conrad Reinhold war. Das war Zufall, ich habe mal in der Frankfurter Romanfabrik gewohnt, in Nachbarschaft von Reinholds Tochter. Ihr Vater hatte sich rechtzeitig abgesetzt, im Gegensatz zu Erich Loest.

 

Ich betrank mich in der Hoffnung, im Duhnast mit Kat hadern zu können. Das war solang meine Lieblingsbeschäftigung gewesen, Ausgangspunkt eines fruchtbaren Selbstgesprächs. Aber an dieser Stelle war kein Text mehr. Statt dessen fiel mir Victoria Duffy ein, ich betrachtete sie auf meinem Rechner. Sie erschien mir total kontrolliert und wie geschaffen für rote Teppiche. Sie kam mir vor wie ein designtes Geschöpf. Der formidable Sugar Daddy hielt sich immer ganz dicht bei ihr.

Die Mädchen und ich waren Dennis Hopper in Los Angeles begegnet. Wir hatten dort auch Kris Kristofferson getroffen. Vor solchen Leuten konnten sich die Mädchen wie Groupies aufführen. Sie fotografierten dann auch mit ihren Telefonen.

 

Hoch über den Lichtern von LA standen wir in den Hollywood Hills und fühlten uns, jeder auf seine Weise, wie Major Tom im Raumschiff.

Die Mädchen verschwanden bald ohne ein Wort. Erst zwei Tage später tauchten sie wieder in unserem Hotel auf; zu keiner Auskunft bereit.

 

Immerhin hatte mich jemand halbwegs aufgeklärt:

„Did they tell you about being locked in that room?

Ice tricked me. He woke me at six in the morning and said, “The girls are here.”

“Fantastic,” I said. Ice told me to come to his place. All these guys have secret apartments, paranoia places, big locks on the doors.

I asked, “Where the girls?”

There were maybe ten of them, smart guys at all, and they had been there for a while, so you can imagine the tension. …”

 

 

 

In dieser Nacht gab es Streit. Ihm voran ging ein heftiger Wortwechsel zwischen Anke und der sehr typisch ostholden Veranstalterfreundin. Ich kannte das Programm. Da vertrug sich eine süße Ausstrahlung mit Partisanenhärte. Der Chef vor Ort erschien so schlaksig wie Sir Edmund Hillary auf dem Mount Everest. Wie ein Double glich er dem Bergsteiger als junger Mann. Seine Freunde hätten sich jederzeit als Brüder ausgeben können. Das waren hypermaskuline Sachsen. Skinspotidealbesetzungen. Der Haustechniker gehörte dazu in seiner Zimmermannskordkluft. Wie Waffen hingen Werkzeuge an seinem Gürtel.

Die Mädchen mobilisierten ihren Chefroadie Rouven, einen totaltätowierten Felsberger. Der nordhessische Redneck hatte sich als Ankes Liebhaber um größere Aufgaben beworben.

Er konnte alles fahren, alles reparieren und wieder gerade biegen. Er war ein Rigger vor dem Herrn, so schwindelfrei wie ein Mohawk.

 

Vielleicht ist das übertrieben.

 

Rouven sammelte seine Schäfchen um sich, drei Crewhansel und ein paar Fans der Mädchen, die Rouven alle mit Namen und von Gelagen kannte. Krass sein auf der Gasse war sichtlich ihr Motto.

Ich zählte nicht.

 

Viele Worte wurden im Weiteren nicht gemacht. Die eher kleinen Hellbillies nahmen umgehend Gegenstände zur Hand, um damit Sachbeschädigung zu betreiben. Die Sachsen waren sofort auf Personenschäden aus. Anne sagte bewundernd über Rouven: „He is so committed to his work.”

Nach zehn Minuten war die Schlacht vorüber. Es ging, glaube ich, nur darum, den Rücken gerade gemacht zu haben. Jedenfalls war man einander dann überhaupt nicht mehr Gram. Es folgte eine sehr seltsame Verbrüderungsveranstaltung. Irgendwann entdeckte ich Anne auf dem Schoß von Sir Edmund - und dessen Freundin, ich sag jetzt mal in den Armen eines anderen. Mir fiel ein, dass ich sie schon einmal gesehen hatte, als aus Welsau gebürtiges Bildzeitungsmontagsmädchen.

 

 

In einer Kneipe hörte ich: „Bin ich mal wieder der Letzte?“

„Mach dir nichts draus. Du kannst doch nichts dafür, dass die anderen so früh gehen.“

...

„Er war temporär talentiert.“

 

 

HEIDEMARIE ... if the devil's got a daughter …

 

Wir kamen durch eine Märklinlandschaft, kaum dass ich noch an Ira dachte. In der Nähe von H. besuchten wir einen Musenprinz mit Mephistofrisur. Seit zwanzig Jahren fotografierte Erich eine zähe Gothicbiene namens Heidemarie. Anke entzückte mich mit der Beobachtung: „Wie so eine ihr Elend dekoriert, das ist schon sehenswert.“

Uns wurde Kaffee und Kuchen auf einer verglasten Terrasse voller Blumenkübel angeboten. Bevor Erich auf Heidemarie eingestiegen war, hatte er vor allem skandinavische Landschaften fotografiert. Sie hatte den Islandexperten auf sich eingeschworen, auf ein Schwarzweisskunstgewerbe mit Accessoires und verspielter Peinlichkeit. Im Übrigen saß bei Heidemarie jeder Schlag ins Kissen.

Hausarbeit war für sie etwas Buddhistisches. Sie war auf kein Geschlecht festgelegt und einmal sehr an den Mädchen als Paar interessiert gewesen. Anne und Anke sind aber für Inszenierungen mit Rosenblättern und Gummihandschuhen nicht einfach zu haben. Immerhin hatten sie Erich gestattet, Fotos von ihnen auf der Heide und in Cowboystiefeln zu machen. Damit war Erich zu einem Sternfotografen gegangen, der dann die erste Deutschlandtournee der Mädchen dokumentierte.

 

Heidemarie fing an, Annes Haar nationalsozialistisch zu flechten. Nazischeiß gehörte in heimlicher Weise zu ihrem Schick. Ihre Gerissenheit machte sich unauffällig, aber ich sah klar, worauf Heidemarie hinaus wollte. Die Mädchen waren ausgepowert, und Anne ließ das Gefummel zu. Vielleicht gefiel es ihr sogar. Sie vermochte es immer wieder, mich zu überraschen.

Drogen wurden ausgepackt, Anke spielte den Gastgebern einen Konzertmitschnitt der Hellbilly Boys vor, aufgenommen im Rokkikellari von Seinäjoki. Die Mädchen sind da auch schon aufgetreten und haben seither einen finnischen Fanclub. Der Vorsitzende ist hauptsächlich Tangoliebhaber. Auf seine Empfehlung hin hörte ich mir einmal Vaaralliset huulet in Tübingen an.

 

Leute kamen, irgendwas Größeres bahnte sich an. Ich zog mich in ein Gästezimmer zurück, bald würde der Rummel für mich vorbei sein. Ich fand eine Nachricht von Ira, abgefasst in einem unfassbaren Schmollton. Sie tat so, als hätte ich ihr gegenüber einen Liebesschwur gebrochen. Unglück war für sie billig zu haben. Sie versuchte, mich mit einer Geschichte zu ködern, mein Interesse zu wecken für eine Schmonzette, in der ein israelischer Student die Hauptrolle spielte. Angeblich erinnerte ich Ira an einen, der sie so weit gebracht hatte, dass sie von ihm umgebracht werden wollte. Er sollte sie erschießen, so wie einst die Deutschen undsoweiter. Diese Verstiegenheit fand ihren Klimax in den Zuschreibungen „jüdischer Prophet“ und „Hitlers Enkeltochter“. Er erschien mir als ein ... und war ich nicht ...? Das muss man nicht vertiefen.

 

 

Ich entdeckte Anke vor dem Etagenabort. Ihr war speiübel.

Anke, die Besungene. In ihrer Kammer erzählte sie, wie belastend für ihre Ehe Johnny Colgate immer noch sei. Mit dem weltweit blödesten Namen hatte einer im Land der Fischköpfe ein bisschen Erfolg als Sänger, der inzwischen unter seinem Taufnamen zum Sozialfall geworden ist. Anke war nie richtig mit ihm zusammen, sie hatte sich lange einfach nur seiner Aufdringlichkeit nicht recht entziehen können. Ständig halb verschmäht, verfiel er darauf, Anke in genug Liedern für zwei Tonträger anzuschmachten. Ich merkte mir das als Beispiel für mediale Aneignung. Der letzte Titel lautete „Du hast nur mit mir gespielt“, und so war es wohl auch gewesen. Ankes Adelsmann kann nicht immer glauben, wie egal seiner Frau Colgates musikalische Verehrung ist. „Diese Scheißcompactdiscs“, sagte sie. „Was habe ich denn davon? Einen Scheiß. Und verkauft haben sie sich auch nicht.“

 

Anke rief ihren Mann an und setzt ein paar Lügen in die Welt. Ich war solang still, ich wäre auch vor die Tür gegangen. Das wollte Anke nicht. „Kannst du nicht einfach hier bleiben?“ fragte sie. „Nur einfach so.“

 

Bevor sie einschlief, erzählte sie noch einmal, dass am Ende ihrer Colgatezeit zuerst ihre andere beste Freundin schwanger geworden war und dann eine gute Freundin, von einem Vertriebsleiter aus Melsungen; während Colgate in einem Loch hauste, „in dem sich nur das Ungeziefer wohl fühlte.“ Bei der Trennung hatte er ihr „so viele Steine in den Weg gelegt, obwohl wir doch nie ernsthaft ein Paar gewesen waren.“

...

„Zum Schluss wollte ich nur noch, dass er sich sonst wohin verpisst.“

 

 

In der Nacht tauchte Anne auf, sie wollte auch nicht allein schlafen und auch nicht mit Heidemarie, während Erich den Voyeur gab. Provinz pervers.

Anne zog sich vor mir aus. Jemand, den sie mochte, sollte ihre Strumpfbänder sehen. Das war ein autoerotischer Vorgang, das tat sie nur für sich. Mir fiel dazu ein Katsatz ein: „Ich fühle mich nicht wohl, wenn mich nicht ab und zu einer nackt sieht“.

 

Anke wachte auf, ich kam mir ein bisschen blöd vor in meinen Boxerkurzen und so einem ausgesuchten Leibchen auf dem failure is not an option stand. Ich verstand mal wieder überhaupt nicht, wieso mich die Mädchen so in ihr Herz geschlossen hatten. Ich war doch bloß ein Armleuchter, der auf ihrem Ticket reiste. – Ein Stubenhocker, hinter dem die Wohnungstür ins Schloß gefallen war.

 

Die Mädchen hatten ihren Spaß. Sie sangen „Ausziehen und Votzen lecken“ à la well, if the devil's got a daughter I got her in my arms. She drinks Gin and water when she hears those.

Ich war kurz davor, zu fliehen, dann sagte Anke aber „Spässchen, wir machen doch bloß Spässchen“ und damit hatte sich das.

 

Ich wurde wach, weil Anke sich gestört fühlte. „Du schnarchst.“

Sie empfahl mir, mich auf die Seite zu legen. Ich sollte sie in den Arm nehmen.

Anke führte meine Hand zu ihrem Bauch, „fühlst du das?“

„Bist du schwanger?“

Anke grub ihren Kopf ins Kissen, das verstand ich als Aufforderung zu schweigen. Ich ahnte ihren Kummer und verstand nun auch besser ihre Redseligkeit von vorhin. Als ich wieder erwachte, lag Anke immer noch in meinen Armen. Anne hatte auch Anschluß gesucht. Ich war mal Zeuge, wie zwei Türken im Frankfurter Bahnhofsviertel einer Hure ein Sandwich antrugen: „Lass uns Sandwich machen“.

 

Der Tourbus schien auf der Anliegerstraße regelrecht zu landen. In dieser kleinteiligen Umgebung wirkt er so mächtig wie eine Boeing. Rouven sollte die Mädchen zu ihrem nächsten Auftritt nach Hannover fahren, während ich nach Frankfurt zurück wollte. Für mich war die Party vorbei.

 

Rouven stand vor seinem Bus, trank seinen eigenen Kaffee und strahlte intensiv Missmut aus. Ich war ihm ein Dorn im Auge und stank ihm mächtig als Stinknormalo. Ich fand seine Einschätzung meiner Person sensationell. Auch war die Verachtung nicht gegenseitig. Es fiel mir schwer, Rouven nicht zu bewundern.

 

Ich sah ihn mir von der Terrasse aus an. (Gedeckt von Palmen.) Die Mädchen frühstückten noch, das hieß, sie rauchten. Unsere Gastgeber hatten zehn verschiedene Müslis auf den Tisch gebracht. Nachts Dildos, morgens Müslis.

Rouven kam, Gepäck holen. Er nahm alles auf einmal und grüßte keinen. Sich in den Hüften wiegend, folgte Anne ihm zum Bus. Anke verzögerte den Aufbruch. Wollte sie mir noch etwas sagen? – Dass sie nicht von ihrem Mann schwanger zu sein glaubte? Auf jeden Fall war sie das nicht von mir. Ich war sehr erleichtert, nun wieder meinen einzelgängerischen Neigungen frönen und meiner Reiseunlust nachgeben zu können.

 

 

DAS DEUTSCHE WESEN

 

Wir hatten uns kaum voneinander verabschiedet und uns doch einer außerordentlichen Nähe versichert. Diese Nähe gab mir Rätsel auf.

Das berufliche Band zwischen den Mädchen und mir riss wie mit einem Ruck. Unser Buch lag in den Läden nicht mehr stapelweise an attraktiven Stellen. Wir kriegten keine Talkshowtermine mehr zusammen und lasen auch nicht mehr gemeinsam in evangelischen Gemeindehäusern. Die Mädchen lebten in Erwartung ihrer Amerikatournee. Ihre Wünsche erfüllten sich außerhalb der Literatur. Sie schrieben mir kaum noch und wenn, dann Floskeln. Ich erkannte daran, dass ihnen zu mir nichts mehr einfiel. Trotzdem stand außer Zweifel, dass jede Begegnung herzlich verlaufen würde.

 

Täglich googelte ich die Mädchen. Von Ankes Schwangerschaft war nie die Rede. Schließlich fragte ich schriftlich an, ob sie in anderen Umständen auf der Bühne auch andere Erlebnisse habe. Sie antwortete: „Ich bin nicht mehr in anderen Umständen und im Übrigen Schwamm drüber.“

 

Ein paar Tage später: „Das deutsche Wesen will doch immer nur an Tokio Hotel genesen.“

Das war ein neuer Ton. Ich vernahm eine ganz und gar unerwartete Resignation. Wurden die „deutschen Dixie Chicks“, so die ZEIT völlig daneben, müde? Ich fing wieder an, im Veilchenhof zu arbeiten, um reichlich Trinkgeld zu haben. Mock gefiel das, ein Prominenter zum Anschnauzen. Elch war jovial wie eh und je. Der Rock´n´Roller war ausgeschieden. Angeblich hatte er den Suff übertrieben. An seiner Stelle arbeitete ein vor dreißig Jahren aus dem Ruhrgebiet eingewanderter Holzkopf. Er trug das ganze Jahr kurze Hosen und gab sich als Anarchist aus. Tatsächlich führte er höfische Bezeichnung im Veilchenhof ein. Nun stand Elch allen als König vor und Mock war Fürst der Finsternis.

Jeder zeigte sich fleißig darin, meinen kurzen Aufstieg klein zu reden, und ich ging wieder zu einem türkischen Friseur, der mich für zehn Euro auch rasierte.

 

 

IRA IN FRANKFURT

 

Tagelang lag eine verrottete Socke auf dem Grab von Siegfried Unseld. Sie veranlasste mich zu der Vermutung, dass das Bedürfnis nicht allgemein ist, sich in der diffundierten Gegenwart des großen Toten daran zu erinnern, wie es war, als Schriftsteller vom Schlag eines Uwe Johnson in dieser Gesellschaft Geltung verschafft wurde.

 

Peter Körte zitierte Cees Nooteboom mit dem Satz „Die Erinnerung ist wie ein Hund, der sich hinlegt, wo er will“, und ich erinnerte mich an Inka. Ich hatte sie nur einmal gesehen, eine große, flotte, dunkelhaarige Frau.

 

Sie ist eine Jugendfreundin von Kat. Sehr interessant insofern, als dass sie einem Unternehmerhaushalt in der Deutschen Demokratischen Republik entstammt. Solang dieser Staat existierte, war ihr Vater Direktor jenes volkseigenen Betriebs, den sein Großvater aufgebaut hatte. 1990 kriegte er das Unternehmen wieder als Eigentum. Gleich nach der Wende erwarb er eine Wohnung in Berlin. Diese Variante ist kaum geläufig.

 

Wenn Kat nach Berlin fuhr, dann angeblich immer zu dieser höheren Tochter. Sie erschien mir haarklein so wie viele ihrer Schwestern im Westen.

 

 

Mein Blick schweifte vom Text ab, in dem kleinen Café an der Schwarzburgstraße hielt nichts ihn fest.

Ich erinnerte mich an einen Samstag im Januar 2003. Kat war zwischen den Jahren weg gewesen, angeblich bei ihrer Freundin Inka. Vielleicht war sie tatsächlich da, dann aber bestimmt nicht ohne männliche Begleitung. Ich tippte immer noch auf A. als Begleiter. Dieses Arschloch brachte es dann auch noch fertig, mich zwei, dreimal anzurempeln.

 

 

Wieder in meiner Höhle zog ich „Rituale“ aus dem Regal. Die Suhrkampsachen standen gesondert, zu meiner Freude an einem lichten Sonntagvormittag. Mit Cees Nooteboom verbindet mich eine umfassende Projektion. Ich halte ihn für besonders listig. Ich glaube, dass er die Kunst beherrschte, erreichbar nur zu erscheinen, während er in Wahrheit stets knapp außerhalb der Reichweite jedweden Gegenübers operierte. In seiner Gegenwart war mir in den Sinn gekommen, wie wichtig es für einen Schriftsteller ist, jenseits seiner Landesgrenzen wahrgenommen zu werden. Er steht im Ausland so wunderbar als ein ganz anderer da. Zuhause ist er bloß eine Geisel der Kompetenten. Die alphabetisierte Fraktion der Republik schaut ihm über die Schulter, wohl immer auch erstaunt, dass ausgerechnet er etwas fertig bringt. Im Ausland weiß keiner was von Büchernotverkäufen, idiotischen Einsätzen bei Verlagsfußballspielen und erotischen Niederlagen im Dunstkreis des Betriebs. Das Erbärmliche wird nicht übersetzt. Ich konnte mir Nooteboom nicht mit Klopapierrollen unterm Arm vorstellen, schon nachmittags angesäuselt und erpicht auf Kontakt mit einer Kellnerin. Ich sah ihn vielmehr als Weltreisenden, pendelnd zwischen Flughäfen und Hotels.

 

 

Ich kam gerade beim Friseur durch die Tür ins Freie als Ira meinen Weg kreuzte. Sie tat überrascht, aber ich glaubte ihr kein Wort in meinem Räuberzivil.

Gleich würde ich wieder Karotten schälen. Es war nun wieder immer Winter. Wenn ich in eine Bar ging, konnte es passieren, dass die Bedienung fragte: „Kommst du zum Sterben her?“

Mir war das recht.

 

Ira gab dann auch zu, auf der Suche nach mir gewesen zu sein. „Ich kann dich nicht vergessen.“

 

Ich konnte Kat nicht vergessen, auch wenn ich sie inzwischen nur noch hasste. Das war ein starkes, gutes Gefühl. Man wird auch von dem zusammengeschweißt, was man sich nachträgt. Ich folgte Ira in ihr Hotel, eine Stunde wollte ich Zeit für sie haben. Sie ging auf mein barbarisches Angebot ein.

„Du gefällst mir so viel besser“, behauptete sie. In meiner natürlichen Umgebung sozusagen. Und unrasiert. Gewöhnlich trug ich drei Kapuzenpulloverjacken übereinander und am liebsten zuoberst den mit der Bornheimstickerei und der heiklen Wolfsangel, darunter einen der amerikanischen Armee und zutiefst den der Veilchenhoftheatercrew. Dazu später mehr.

Allgemein fand man mich unpassend angezogen, zu jugendlich, sagten die meisten. Aber ich fühlte nun mal so. Ich war vor Jahrzehnten vom Weg ins Erwachsenenland abgekommen. Mir fehlte auch nichts als alter Knabe.

 

Ira spielte mir in ihrem Hotelzimmer ein Westernjodelduett der Mädchen vor. Sie machte einen kläglichen Versuch, einzusteigen. Was sollte das?

Ira verschwand im Bad und ich gab auf ihrem Rechner Bearshare als Suchbegriff ein. Ich hatte gelesen, dass Bearshare das virenträchtigste Wort überhaupt sei. Ich sah Iras Dateientitelliste durch, eine trug meinen Namen und einen den Namen der Unseldwitwe. Ich kam nicht dazu, weiter zu forschen. Ira hatte bei Beate Uhse eingekauft. Dann stand ich wieder mit Holzkopf in der Küche. Er erzählte von Onkel Hermann, dem besten Schmied (zu seiner Zeit, also vor dem Zechensterben) am Niederrhein. Onkel Hermann konnte mit bloßer Hand in die Glut fassen. Der Eisenmann hatte Stalingrad und russische Kriegsgefangenschaft überstanden und war sein ganzes Leben lang - als aufrechter Sozialdemokrat und Deutscher Meister im Boxen – immer nur geradeaus gelaufen.

 

Für Holzkopf war fast alles und jeder schwul. Tomaten waren auf jeden Fall schwul, Taxi fahren konnte schwul sein. Es gab schwule Getränke.

Holzkopf war schon ein ziemlicher Idiot. Immer wieder versuchte er mich tückisch in Rage zu versetzen. Ich erfreute mich an dem Gedanken, dass ihm schon lange keine Frau mehr so entgegen gekommen war wie Ira eben mir. Grundsätzlich entging ich allen Schikanen in der Gedankenflucht.

 

 

SCHADE UM DEN SCHÖNEN DURST

 

„Schade um den schönen Durst“, sagte man in meiner Kindheit, wenn einer „ein Cola“ bestellte oder, was noch zweifelhafter war, gelbes Sprudelwasser. In einer Pilsstube hatte man Pils zu trinken, aus Nullzweilitergläsern, mit abnehmender Trinkgeschwindigkeit. Allein die ersten drei waren im Nu zu leeren, anderenfalls ergaben sich Nachfragen, etwa, ob man „vorgetrunken“ habe. Das folgte einem strikten Reglement, von dem mein Onkel Kurt behauptet, es sei von seinem Patenonkel festgelegt worden. Unsere Familie brachte einige Wirte hervor, die meisten versorgten ihre Gäste in volkstümlicher Umgebung. Es gab Aufschwünge, bis zum Genre der Edelverköstigung, in Naumburg und Waldkappel, wo meine in Nordhessen an jeder Ecke und in allen Winkeln ansässige Verwandtschaft (immer noch) vornehmlich aus Bauern und Metzgern besteht. Von deren Wohlstand waren meine direkten Angehörigen abgeschnitten, schon in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts, ging für die Sippschaft meiner Mutter das Elend los, dem Onkel Kurt zu seiner Zeit mit einer kleinen Wirtschaft zu entkommen suchte. Er war der erste Pächter einer Pinte mit Kiosk im Waldauer Einkaufszentrum. Seine Gäste waren zugezogene Familienväter, beschäftigt im VW-Werk Baunatal. Ihre Frauen waren dankbar für Putzstellen. Wer auf dem Büro arbeitete, hatte es weit gebracht. Allgemein wurde auf den Pfennig geachtet. In diesem Klima war es heikel, Geld in der Kneipe zu lassen. Die Schluckspechte kannte in Waldau jedes Kind. In meiner Erinnerung zeichnen sie sich durch eine gewisse Unabhängigkeit aus. Sie kamen mir lässiger vor als die anderen. In jedem Fall standen sie mit deutlichem Eigensinn zu proletarischen Traditionen. Sie erschienen gleich nach der Arbeit. Onkel Kurt würfelte mit ihnen an der Theke, jeder Stammgast besaß einen eigenen Becher. Untereinander war man laut und umgänglich und dazu aufgelegt, sich gegenseitig auf die Schippe zu nehmen. Dem Gemeinschaftssinn zum Trotz entgleisten Freundschaften, so dass es nie wieder gut wurde zwischen zwei Männern. Fremde fanden sich nicht unbedingt willkommen in diesem öffentlichen Wohnzimmer, das der Wirt für seine Gäste aufhielt. Frauen im Lokal hatten Ehefrauen zu sein und zu warten ohne Aufsehen zu erregen. Anderenfalls mussten sie mit übler Nachrede rechnen. Im Verlauf der Jahre trug Onkel Kurt ein paar Freundschaftszeichen zusammen, so wie ein Wimpel und Schnitzkram aus dem Erzgebirge, der über den Flaschen auf einem Regal verstaubte. Mit einer Glocke wurden Thekenrunden eingeläutet. Das passierte nicht oft. Es gab Termine der Freigiebigkeit, Onkel Kurt hielt sie sorgsam ein. Ansonsten versuchte er, halb vergeblich, einen Abstand zu wahren, der ihm krumm genommen worden wäre, hätte davon jemand was mitgekriegt.

 

„Schampfütze“ ist ein treffendes Wort für den Rest, den einer im Glas lässt.

...

Am Stammtisch ließ sich Elch von ein paar Kokskoryphäen aufs Ohr quatschen. Alle waren schon wieder am Schreien, vermutlich um Grete zu strapazieren. (Siehe hierzu:

 

 

IM VEILCHENHOF

 

WIR SITZEN HIER AM TRESEN UND SIND SCHON AM VERWESEN

 

 

Gerade erzählt Grete ihrem liebsten Kollegen Kurt, dass Winnie sie gestern Nacht darum gebeten hat, ihn als Toilette zu benutzen. „Das waren seine Worte“, sagt Grete ohne Verachtung und Erstaunen.

Sie steht da wie eine Tanne im Unterholz. Grete trägt eine trügerische Mädchenhaftigkeit mit Zopf, Seitenscheitel, Spange und Schlaghosen zur Schau. Bei ihren Gästen unterscheidet sie zwischen Patienten und unheilbar Kranken. Grete ist keine verkappte Schauspielerin. Ihre direkte Ansprache verstört das zufällige Publikum. Stammgäste schwören aber auf Grete. Sie haben die Bedienung zur Umsatzkönigin erhoben. Nehmen wir Winnie, das Klo. Er ist immer gut für zehn dunkle Weizen. An jedem Greteabend hat Winnie seine dreiunddreißig Euro Minimum auf dem Deckel, und wenn Grete Zeit hat und gut aufgelegt ist, lässt sie ihn dann noch einmal für wenigstens die Hälfte seiner üblichen Zeche komischen Text aufsagen. Dabei steigert er sich von Mal zu Mal. „Ich kann dir jetzt schon sagen“, sagt Grete zu Kurt, während sie dem Fleischlieferanten Heinz-Zwo zu verstehen gibt, dass er lästig wird, „demnächst will Winnie, dass ich mir Schuhe mit hohen Absätzen zulege und ihm die Absätze, einen nach dem anderen, behutsam ins Arschloch schiebe.“

 

Grete findet Heinz-Zwo unappetitlich. Dass er den Veilchenhof mit abgezweigter, umdeklarierter und sonst wie zweifelhafter Ware versorgt, stört sie aber nicht. Ein seltsames Hausrecht scheint im Veilchenhof die Gesetze des Staates abgelöst zu haben.

 

Manche nennen Heinz-Zwo Schweinebacke. Das kommt für Kurt nicht in Frage. Mit dieser zärtlichen Zuschreibung bedenkt er immer noch und ausschließlich einen Freund, der als Metzgersohn, über die Grundschulzeit hinaus, Fleisch unter seinen Fingernägeln verrotten ließ. Obwohl er nach Aas stank, hielt Kurt es jahrelang neben ihm an einer Schulbank aus. Kurt ließ sich von Schweinebacke mit Fettbomben ausrüsten, die wie Pausenbrote aussahen. Die Metzgermutter hatte mit ausgewogener Ernährung nichts am Hut.

Kurt fragt Heinz-Zwo: „Suchst du Streit oder Anschluss?“

Heinz-Zwo weiß nicht, wie er das verstehen soll. Ihm könnte sogar einfallen, sich provoziert zu fühlen. Er legt eine Hand auf Kurts Schulter. Wie schon mit zwölf bei solchen Gelegenheiten, sagt Kurt: „Pfoten weg.“

„Du bist ganz schön empfindlich“, behauptet Heinz-Zwo. Grete befiehlt Heinz-Zwo Kurt in Ruhe zu lassen. Er pariert sofort, anscheinend froh darüber, von Grete überhaupt beachtet zu werden. Er will einen ausgeben. Kurt entscheidet sich für etwas Spezielles.

 

Spezialgetränke heißen im Veilchenhof Mao-Ono (mit Blutorangensaft) oder Yokotse extra trocken. So was denkt sich Elch aus. Er lagert am Stammtisch. Ein Blechschild weist darauf hin, dass dieser Tisch täglich ab siebzehn Uhr für Ernst Mosch und seine Freunde reserviert ist. Elch gehört das ganze Haus als Erbe.

 

Seine hundertdreißig Kilo hat er in eine Art Strampelanzug gepackt. Er quatscht mit Qualle. Raub und Diebstahl brachten den Küchenhelfer ins Gefängnis. Im Veilchenhof hält man das für lässlich. Qualle findet nichts dabei, als anerkannt Bedürftiger den Staat zur Kasse zu bitten, so wie er überall ruchlos zugreift. Er wird bestimmt nicht alt in der Hofküche. Mit solchen Überlegungen hält sich Kurt auf.

 

 

 

Mock ist wieder da. Mock war eine Woche im Ostblock oder sonst wo. In Polen gehört ihm ein Haus. Mock ist clever … und voller Verachtung, für alle, die sich vorführen lassen; so wie die dämlichen deutschen Handlanger. Für Mock sind das bloß Billigheimer, die sich nach seiner Lust und Laune auszahlen lassen müssen; womöglich erst morgens um eins, zwei Stunden nach Schichtende. Mock speist sie ab, in seiner Eigenschaft als Geschäftsführer des Veilchenhofs. Er traktiert sie bei jeder Gelegenheit. So hält er die Männer in einem Zustand der Duldungsstarre.

 

Mocks Revier ist ein Vorhof der Dritten Welt mitten in Deutschland. Für die Verworfenen sind Verhältnisse alltäglich, wie man sie sonst nur aus Beschreibungen prekärer Migration kennt. Die Subalternen überleben in einem Schattenreich, eben so wie Leute ohne gesicherten Aufenthaltsstatus, die beruflich und privat illegal irgendwo unterkommen müssen. Die Deklassierten kommen aber alle nicht von außen.

Sie unterscheiden sich kastenartig voneinander. Die Unberührbaren sind ganz klar für den letzten Dreck zuständig. Man bezeichnet sich als Küchenhelfer und Läufer und wenn man Chef ist und betrunken auch schlicht als Sklaven. Über ihnen stehen die Köche, allesamt abgebrochene und längst in die Jahre gekommene Studenten. Die Autodidakten am Herd bekämpfen sich gegenseitig, so wie sie auf die buckeligste Weise um die Gunst des Elchs buhlen. Weitgehend ausgeschlossen von der Hackordnung sind drei Frauen. Sie verrichten keine Aufgaben in der Küche. An ihren Diensttagen werden sie am Tresen geschont. Dafür bedanken sie sich mit mehr oder weniger verhaltener Zugänglichkeit.

 

Oft spricht Mock Kurt wie einen Hund an. Mock bellt Befehle, die Kurt mit rätselhafter Nachgiebigkeit ausführt.

Keinem wird hier mehr zugesetzt als Kurt. In wölfischem Einvernehmen will ihm die Meute den Rest geben.

Er wehrt sich unauffällig. Meistens fühlt er sich wohl in seiner Haut. Seine Zufriedenheit ist ein Geschenk des Himmels. Man soll ihn für schläfrig halten, so wie jetzt am Stammtisch hockt; … die Lider auf Halbmast; der Rücken rund. Kurt markiert den Abgekämpften, um nicht gestört zu werden bei seinen Beobachtungen. Er guckt sich das Ritual der Auszahlungen an. Der Rock´n´Roller kassiert seinen Kochlohn wie eine Gage. Er sagt dazu etwas Englisches. Später wird er in seinen Wahn abdriften. Er verteilt gern Kopfnüsse, wenn er blau ist.

Grete bedankt sich für ein Zubrot. Sie kann sich im Veilchenhof nichts vergeben. Auf sie wartet viel Gutes draußen. (Sie trinkt Rotwein zum Feierabend. Der Wein setzt sich in Rissen ihrer Lippen fest und färbt sie blau.)

Kurt nimmt, was ihm zukommt, ohne aufzusehen. Elch stößt den Knecht kräftig an, gerührt von der eigenen Leutseligkeit.

 

Kurt hat schon viel darüber nachgedacht, warum ihn sämtliche Bewährungen vor Ort nicht befördern konnten. Er schweigt sich aus, während der Stammtischbetrieb sich zunehmend stärker wie ein Tumult ausnimmt. Wie herannahender Geschützlärm klingen die Lachsalven. Man überbietet sich in seiner betrunkenen Lustigkeit und jedweder Gemeinheit. In diesen Runden sind immer zuerst die Abwesenden fällig, bevor Abfälligkeiten auch Anwesende treffen.

 

Kurt entzieht sich der Turbulenz. Seine Absicht mit ein paar sinnlosen Schlenkern durch den Schankraum verschleiernd, setzt er sich behutsam in den Clubraum ab. Da steht der Fernseher, neben einem Turm aus leeren Kästen. Auf dem Tisch liegt eine angeknabberte Nussecke auf ihrer Tüte. – Die Kronkorkensammlung in alten Bindingbiergläsern.

In einem schweren Aschenbecher aus der Ernte 23-Ära wartet ein halbgerauchter Joint auf die Rückkehr des Hofherrn.

Ein Western mit Clint Eastwood garantiert Kurts Seelenfrieden. Er verliert sich im Anblick des Helden. Er träumt von der Macht aus Coltläufen. Das amerikanische TV-Heldentum erscheint unversehens auch in Frankfurt am Main möglich. Kurt fühlt sich stark nach dem fünften Bier und eben so vielen Schnäpsen.

Der Rock´n´Roller tritt ein und fragt blöd: „Wo steckst du denn?“

Er haut Kurt brutal aufs Kreuz und kriegt dafür aus der Drehung dermaßen eine verpasst, dass er kurz abhebt und ihm die Luft wegbleibt. Kurt stellt sich halb gedeckt auf; ein Kirmesboxer in Erwartung unbelehrbarer Mutwilligkeit.

Der Rock´n´Roller ächzt.

„Musste das sein?“

„Allerdings“, entgegnet Kurt aufgeblasen. Er kennt den Rock´n´Roller seit zwanzig Jahren. Seine körperliche Überlegenheit stand nie in Frage.

 

 

Der Rock´n´Roller spricht mal wieder über Junior Browns selbstgebaute Gitarre. Er ergötzt sich am Klang des Wortes Pedal Steel. Immer weiß er, wer ein Lied zuerst gesungen hat und in welcher Version es richtig klingt. Ihn verstimmt, dass zurzeit alle Welt Johnny Cash hört. Sein Großvater war Weidenkorbflechter, sein Vater Polizist in einem Taunuskaff, das nach dem Zweiten Weltkrieg zum pittoresken Randbezirk einer amerikanischen Garnison wurde. Auf Dorfstraßen lernte der Rock´n´Roller die Weltsprache der Sieger. Er ahmte Soldaten in allem nach und übernahm so zufällig einen fremdländlichen Lebensstil. Bauernsöhne aus Tennesee ließen ihn mit ihren Waffen spielen. Sie brachten dem Rock´n´Roller Kneipenspiele bei und diese zurückgelehnte Art, die der fast Fünfzigjährige im Veilchenhof wie ein Schild zu seiner Verteidigung einsetzt. Er glaubt immer noch, mit den Adlern zu fliegen … während Mock ihm mit Verachtung zusetzt …

 

Elch röhrt. Er möchte ein von Kurt gezapftes Bier. „Prompt, aber Premium.“ Andere schließen sich mit Forderungen an. Ihr heftiges Verlangen ist so gewaltsam wie ein Angriff. In einem Augenblick sackt der attackierte Mann hinter dem Tresen in sich zusammen. Man könnte ihm noch alles Mögliche auftragen, so wie Fässer zu wechseln oder Kartoffeln zu schälen. Sowieso muss Kurt nach die Fensterläden schließen und Tische abräumen. Er trägt das Tablett auf besonders anstrengende Weise. Kurt trainiert. An seinen guten Tagen ist jede Bewegung Gymnastik. So hofft er, im Veilchenhof mit allem klarzukommen: als Kraftpaket. Man kann Kurt einiges antun, aber für schwere Demütigungen riskiert man seine Haut.

 

„Ab morgen fick ich dich wieder“, sagt Mock, als Kurt vor ihm ein Bier abstellt. Er sitzt da mit offenem Hosenstall und vermisst die Eier anderer Leute. Das kratzt keinen.

Inzwischen wird tüchtig aufs Haus getrunken. Angeblich stammt der Schnaps, den Kurt an den Tisch bringt, noch aus Wehrmachtsbeständen.

 

...

 

Grete hatte ihren Spaß an der Kraftmeierei. Männliche Beherrschungsfantasien belustigten sie.

 

Big Mäc trat auf. So nenne ich den Veilchenhoftheaterdirektor. Andere sagen lieber Gott zu ihm.

Wie gesagt, es gibt auch ein Veilchenhoftheater. Das findet statt in einem Saal neben dem Schankraum. Seit Jahren arbeite ich auch im Theater am Tresen, als Ausnahmeerscheinung in so einer wippende Pferdeschwanzphalanx.

...

Big Mäc zog Elch unverzüglich hinter einen Vorhang des Vertrauens.

 

 

 

„Vielleicht lernst du noch, mich zu lieben.“ Das vernahm ich beim Abhören meiner Nachrichten. Ira teilte mir noch mit, dass sie ihren Aufenthalt in Frankfurt verlängern würde.

Ich nahm ein Taxi zu ihrem Hotel, Gelegenheit macht Diebe. Ira saß in der Bar und erschien dem Barmann tragisch. Ich sah das in Spiegeln, die glänzend eingefasst waren. Die Beleuchtungskörper spielten mit bei einer Einsamkeitsschmonzette, in der ausgerechnet ich die Rolle des Heilands übernehmen sollte.

 

Ich wirkte inzwischen wieder abstoßend, auf Barmänner und Verkäuferinnen vor allem. Da war eine Frau, die ihren Arbeitsplatz, eine Metzgerei in der Humboldtstraße, jeden Tag aus dem Umland erreichte, die dörfliche Ordnung ihres Feierabends zum ständigen Gegenstand einer Schwärmerei machte und mich zum Popanz ihrer Verachtung. Sie verweigerte mir jeden Gruß, während sie im Übrigen ihre Aufgaben unentwegt plaudernd (in einem Zustand geschäftiger Aufgeräumtheit) erledigte. In einer Bäckerei an der Eckenheimer Landstraße meinte eine eingewanderte Verkäuferin sich etwas zu vergeben, „den schmutzigen Ausländer“, also mich zu bedienen. So äußerte sie sich gegenüber einer Kollegin. Ihr Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass sie sich voll und ganz im Recht wähnte; eben so wie der Wirt einer schwulen Pilsstube an der Schwarzburgstraße, der mir auch nicht verhehlen konnte, dass ich ihm nicht gefiel. Diese Leute fanden mich verkommen. Im Gegenzug wähnte ich sie verhaftet in einer Firlefanzwelt. So wie ich sie sah, stellten modische Maßnahmen ihre Unvollkommenheit nur heraus. Ich wollte mich mit dem ranzigen Kram nicht ohne einen guten Grund aufhalten.

 

Ich musste nun auftreten. Ira freute sich so sehr, dass ich, schon wieder halb weggetreten, auf den Gedanken kam, sie zu heiraten. Plötzlich traute ich Ira zu, meinen Verfall aufzuhalten. Mit ihr sollte alles möglich sein, was ich allein nicht fertig brachte: zum Zahnarzt zu gehen, Rückengymnastik zu machen und aus meiner Einzimmerhöhle endlich raus zu kommen.

Erstmal gingen wir auf ihr Zimmer. Ich schrubbte mir den Küchen- und Kneipengestank vom Leib, Ira reichte mir ein Handtuch. Sie salbte mich und lullte mich ein. Schon im Halbschlaf nahm ich sie an ihrem Rechner wahr und dann träumte ich von ihrem Tagebuch und von Machenschaften.

 

 

Im Zimmer roch es nach Bad. Wie aus weiter Ferne vernahm ich Walter Davis´ „I think you need a shot (mama)“. Eine Hand schob sich unter die Bettdecke und verirrte sich auf dem Laken. Ich fürchtete so etwas wie einen Klaps als morgentliche Ermunterung.

 

Die Hand verzog sich.

 

„Goin´ down this road and I´m feelin´ bad, baby”. Das stellte Big Bill Broonzy fest. Er war da, wo die Dinge geschahen, also in Chicago, bevor Muddy Waters und Willie Dixon im elektrifizierten Bluesexpress zur Weltreise antraten. Im Echoraum von Big Bills Sound lässt sich aber auch noch the postbellum South deutlich vernehmen. Ich hatte darauf lang nicht mehr geachtet. Woher wusste Ira, dass ich mit Blues groß geworden war?

 

 

„Goin´ down this road”. Man konnte sich diese Straße gar nicht dörflich und staubig genug vorstellen.

 

 

AUF ERNSTZUNEHMENDE WEISE MUSIKALISCH

 

I wasn´t lucky enough to grow up in Chicago, when you could hear Blues on seven or eight radio-stations each night.

 

Auf ernstzunehmende Weise musikalisch oder auch nur musikalisch interessiert ist in meiner Familie, bis hin zu meiner Urgroßmutter Pauline, kein Mensch je gewesen. Oma Peule war so fromm, dass sie schon zu Lebzeiten Engel singen hörte. Ihr Schwiegersohn hörte Reiterlieder und meine schöne Mutter Bill Haley and The Comets. Dieser Wundermann des Rock´n´Rolls sah für den Sechsjährigen, der ich war, so schmierig aus wie ein Handelsvertreter mit getürktem Behindertenausweis. Es gab in den frühen 1960iger Jahren noch viele Versehrte und verdattert aus dem Krieg Heimgekehrte, die als komische Onkel ihr Wesen trieben. Wie gesagt, solche hatten es besonders auf meine Mutter abgesehen. Aber das ist eine andere Geschichte. Sie tanzte mit mir um 1970 noch Twist. Ich glaube, Simon & Garfunkel war das letzte, was sie mitbekam. (Man hatte abends um halbzehn auf der Matte zu stehen, um seine Mutter dabei zu erwischen, wie sie versonnen den Sound Of Silence vernahmen.) Zum Bestand gehörten Platten aus der DDR, Amiga-Tonträger mit Aufnahmen von Ella Fitzgerald, Bessie Smith und Billie Holliday. Ich habe sie als die ersten Blue Note-Records meines Lebens in Erinnerung. Sie gaben meiner Neigung eine Richtung. Mir gefiel von Anfang an nur Blues. Den extrahierte ich aus allem Jazz und Rock´n´Roll und Rock in meiner Umgebung. Dieser Eigensinn immunisierte mich gegen die Kaufhausmusik meiner Jugend, dem Sweet- und Sladepop, Singlewahn und Posterquatsch. Mein erstes Doppelalbum war eine best of T-Bone Walker. Die zufällig gelesene Widmung auf einem Cover führte zu einer Entdeckung Muddy Waters´, ein anderer Hinweis zu John Lee Hooker. Ich fand den wunderbaren Satz: „I wasn´t lucky enough to grow up in Chicago, when you could hear Blues on seven or eight radio-stations each night“. Als britische Mode kam der Blues in der alten Welt an: so viel wusste ich schon in meiner Vorstadtisolation und Gesamtschuldumpfheit. Ich riss einem Kamm die Zähne aus und traktierte damit im Kinderzimmer eine akustische Gitarre … und kapierte rasch, dass ich es nicht drauf hatte. Ich konnte mir keinen Text merken und das Bluesschema nur repetieren. Als hoffnungslosen Fall stufte mich schließlich auch Peter S. ein, bei dem ich Unterricht nahm. Der Kamerad hatte ältere Brüder, elektrische Gitarren, ein Tonbandgerät und eine Mordsplattensammlung. Er beeindruckte mich mit der Fähigkeit, alle möglichen Lieder einfach nachspielen zu können. (Wie die meisten Begabten war Peter kein Purist.) Nun erinnerte seine Version von „I Wonder Who“ nicht an Ray Charles. Sie klang so rockig und war doch Blues. Ich bat um eine Erklärung, an einem sonnigen Nachmittag in Peters Bude, die vermutlich wie ein Pumakäfig stank und ganz bestimmt voll gestopft war mit dem ganzen Übergangskram, der das Ende einer Kindheit markiert.

„Das ist Gallagher“, sagte Peter, glänzend informiert. „Der hat schon mit sechzehn professionell in einer Band gespielt.“

Wie jeder weiß, gründete Gallagher als Neunzehnjähriger „Taste“ (1967 – 1970). Für mich zur Offenbarung und zu meinem lebenslangen Lieblingsalbum wurde die „Irish Tour ´74“. Ein ähnlich starkes Musikerlebnis verschaffte mir nur noch ein Auftritt von Johnny Winter im Rockpalast 1979. Der Albinofürst sollte dann auf der Lorelei spielen. Er sagte ab, nachdem ich schon eine Karte gekauft hatte.

 

Ich war als Jugendlicher und junger Erwachsener kein großer Konzertgänger. Irgendwohin gefahren, um jemanden zu sehen, bin ich nur drei, vier Mal … einmal wegen Dr Feelgood und sonst bloß wegen Gallagher, dessen mythischer Ruhm zunehmend wie reine Zirkelprominenz wirkte. Er trat in Göttingen sauer (nach Nina Hagen) auf, die Gitarre wie eine Waffe ins Publikum haltend. Ich erlebte ihn in Pforzheim und in Offenbach. Bis heute fehlt mir jedes Verständnis dafür, dass sein Genie nicht anziehend genug für die großen Hallen der Republik war. Gallagher hätte bei den Rolling Stones einsteigen können, falls das überhaupt eine Reverenz ist.

 

Die zwei Mal, die ich mir als Erwachsener noch mal die Haare wachsen ließ, gingen auf Gallaghererlebnisse zurück, ebenso wie meine inzwischen abgelegte Vorliebe für Baumwollhemden. Ich musste diese Zeilen schreiben, um mir darüber klar zu werden, dass Gallagher für mich ein Vorbild war, als einer, der von der Föhnwelle über diese Kifferförmlichkeiten bis zu den hochgezogenen Jackettärmel nicht modisch dabei sein wollte. Gallagher gut zu finden, hieß Bier gut zu finden als alle Tee tranken und so eine unaufgeregte, zurückgelehnte Art für das Wahre zu halten als alle alles ständig besprechen wollten. Heute ahne ich in dem Wunsch eines Adoleszenten, so schnell wie möglich zum Veteranen seiner musikalischen Ansichten zu werden (und sich dabei unbeugsam zu fühlen), die Schmalspurigkeit eines nicht übermäßig Empfänglichen. Was habe ich nicht alles mit Absicht nicht mitgekriegt? – Auf jeden Fall Reggae und Punk und viel Rock … Lieder von Led Zeppelin und Deep Purple, die ich mir sehr spät doch noch zugelegt habe.

 

 

Meine erste große Liebe war mit Gallagher schon vertraut, bevor wir zusammen kamen. Ihr Gallagherwissen verdankte sie Peter, der M. auch gut fand. Es gab da einen denkwürdigen Abend, der etwas von einem Wettrennen mit M´s Bett als Ziel hatte, tatsächlich zu „Cradle Rock“ und „Walk On Hot Coals“, das ich glücklich gewann.

 

 

SIEGFRIEDS ERBEN

 

„Du musst dich endlich von der Idee verabschieden, dass du ihn verraten könntest, wenn du mit mir über ihn sprichst. Ich bin dein Freund. Er ist deine lausige Vergangenheit.“

 

So redete Dr. No über mich. Freundlicherweise hatte Ira ein Gespräch für mich aufgezeichnet, in dem Kat aus dem Nähkästchen plauderte und Dr. No mit guten Ratschlägen nicht geizte. Ich lag mit verschränkten Armen und geschlossenen Augen auf dem Bett und hörte mir das an. Ich hörte mir an, wie ein Mann, dem ich nie im Leben die Hand geben würde, mich so auslegte wie Juristen einen Fall. Dr. No hatte mich kaum je gesehen und bestimmt keine Ahnung, was ein time warrior ist, wusste aber genau Bescheid. Und Kat, die meine Vertraute gewesen war, tat so, als hätte sie noch nie etwas Gescheiteres gehört.

 

Das war ein erbärmlicher Augenblick in meinem Leben. Ich stand kurz davor, seelisch zu hyperventilieren. Mir fiel dann auch noch der Dritte im Bund dieser Kanaille ein, ein menschenförmiger Münchner Misthaufen, der sich mit einer verehelicht hat, die mir auch schon die Zunge in den Hals gesteckt hatte.

 

„Wie kommst du dazu?“ fragte ich Ira.

„Alle, die mit dir zu tun haben oder hatten, wurden überprüft.“

„Von wem?“

„Ich bin bereit, dir viel zu sagen, wenn ich nicht alles sagen muss. Ich gefährde mich auch so schon genug.“

 

„Du hast es doch selbst vernommen. Ich bin ein harmloser Spinner.“

„Das glaube ich inzwischen auch. Aber es gibt Leute, die davon ausgehen, dass du in Frankfurt ein großes Rad drehst.“

 

Ich hatte mich immer mal wieder gefragt, ob man mich mit den Bösen im Veilchenhof verwechseln könnte. Ob da verdeckt ermittelt wurde.

Ich fragte: „Halten mich diese Leute für einen Drogenbaron?“

„Sie halten dich für einen im Spagat zwischen verschiedenen Sphären. Sie glauben, dass du einem Geheimbund angehörst.“

 

„Hat dieser Bund auch einen Namen?“

„Siegfrieds Erben.“

 

Zum ersten Mal an diesem Morgen war mir zum Lachen zumute. Siegfrieds Erben, das war herrlich. Das Wort stammte von ... . Er wollte so eine Fussballmannschaft nennen, die nach dem Verbot der Suhrkamp-Schusterjungen zum Sammelbecken der immer noch Spielfreudigen werden sollte.

Die Witwe hatte die Auflösung der Suhrkampfussballmannschaft betrieben. Weil es so schön war, hatte ich das Wort aufgegriffen und unsinnig lanciert. Mal waren Siegfrieds Erben dies, mal das. Mehr als haltlose Behauptungen verbanden sich damit nie.

 

UNBEMERKT WIE EIN BULLE IN ZIVIL

 

Ich kam mit Ira nicht weiter. Kaum war sie weg, hatte ich sie auch schon wieder vergessen. Mir waren ihre Observationen so egal wie irgendein Gefasel. Mein Leben war fest gefügt. Ich fühlte mich in meinem Quartier wie ein pflügender Landmann. Mein Lebensmut schwang sich auf, während meine Unternehmungslust dahin schwand. Ich musste auch nicht viel prall bringen. In der Regel kam ich mit charmanten Lösungen aus.

 

Anke schrieb kuriose Briefe. „Ja, der ist dann im Suff durch die Glastür gelaufen und hat sich dabei die Kehle aufgeschnitten. Von einem Ohr bis zum anderen. Betrunken und mit Schluckauf beugte sich Anne über den Verblutenden.“

Über ihre beste Freundin: „Jetzt hat sie wieder einen, an dem sie sich aufreiben kann. Sie legt gerade mal wieder eine Menge in sich still.“

 

Meine Emphatie für die Mädchen schwand. Ich vernahm ihren Atem nicht mehr durch alle Wände hindurch. Ich distanzierte mich von ihrer grandiosen Egozentrik. Bei Lenz fand ich die Wendung „prächtiger Mord“.

 

Von Jörg Fauser las ich die „Die Tournee“.

 

Ich war höchstens vierzehn, aber vielleicht auch erst zwölf, als ich von Jörg Fauser eine Abfälligkeit las, die Rolf Dieter Brinkmann treffen sollte. In einem Untergrundmagazin, das den englischen Little Mags nachempfunden war und unter anderem von Jürgen Ploog herausgegeben wurde, der mir als Pilot und Burroughsvertrauter, so jedenfalls nahm ich ihn wahr, sehr bedeutend vorkam, bezeichnete Fauser, ich glaube, in einem Leserbrief, den Lieblingsdichter meiner Jugend als „abgehalfterten Establishmentschreiber“. Diese Feststellung ist bei mir so hängen geblieben wie nur wenige Sätze ohne narrative Umgebung. Sie wirkte bestimmend, ich konnte von Fauser nichts lesen ohne seine Herabsetzung mitzudenken. Ein anderer solcher Satz stand im Übrigen und kurioserweise auf dem Taschenbuchrücken von „Notes of a dirty old man“. Den Band hatte ich in Kassel bei Vaternahm entdeckt und – zur finsteren Verwunderung meiner an sich aufgeschlossenen Mutter – mit nach Hause gebracht. Bukowski sei, so stand das auf dem Buchrücken, „infiziert vom Terror des amerikanischen Albtraums“. Jahrelang hielt ich den Satz für ein Zitat von Henry Miller. Er war so deklariert. Ich lebte schon in Frankfurt, als mir Walter Hartmann, der mit Ploog zusammen das Magazin edierte, erzählte, dass die Bukowski charakterisierende – und mir in meinem Kinderzimmer großartig erschienene Zuschreibung von Carl Weissner in die Welt gesetzt worden war - als Reklamemaßnahme. In meiner Kasseler Isolation hatte ich den Satz für bare Münze genommen, für einen alles – und vor allem die astreine Kollegialität – unter den großen Amis klar belegenden Fund. Einmal abgesehen davon, hätte ich mir auch nicht vorstellen können, dass ein Weissner warb. Auch er war an dem Magazin beteiligt, so schließt sich dieser Kreis. Heute und schon länger halte ich für möglich, dass sogar der „abgehalfterte Establishmentschreiber“ ein Redaktionseinfall war, während Fauser im Schmalen Handtuch der Bornheimer Finnin endlich gerecht zu werden sich vornahm.

So stellte ich ihn mir vor, bis Freunde von ihm mein Bild zurechtrückten: abgewetzt, wie die Hinterzimmerjournalisten bei Graham Greene, und Gottlob unbemerkt wie ein Bulle in Zivil. So einer kriegt keine Preise, hält keine Reden … der schlägt sich noch durch nach dem Durchbruch, weil er gar nicht anders vorhanden sein kann. Sein Lebensmittelpunkt liegt immer an einem Rand. Nach einem Job beim Funk klappert er Wasserhäuschen ab, einen Vertragsabschluss feiert er in einer Dunkelkammer des Lebens.

Besonders treffend finde ich eine Zuschreibung von André Dahlmeyer, der Fauser einen „Frittenbudenfeldforscher“ genannt hat.

 

Als Fauser starb, sagte man ihm nach, er habe als Schriftsteller alles gekonnt. Nun ist Vielseitigkeit in der Literatur nicht wie im Zehnkampf etwas Ausgezeichnetes.

 

 

Wird fortgesetzt.

 

Von Jamal Tuschick erscheint im Feb. 2008 der mit Gisela Getty und Jutta Winkelmann zusammen verfasste Lebensbericht „DIE ZWILLINGE oder VOM VERSUCH, GELD UND GEIST ZU KÜSSEN“ als erste Publikation des soeben in Frankfurt am Main von Anya Schutzbach und Rainer Weiss gegründeten Verlags weissbooks.