29. November 2007

Ceci n’est pas une Kylie, das kann ich auch!

 

Die neue Platte von Kylie Minogue kennzeichnet den Übergang zu einer neuen Ära der Popmusik

 

Spätestens mit Marcel Duchamps Pissoir, welches er zur Kunst erklärte, wodurch es zur Kunst wurde, hielt das Behaupten eines Kunstzustands Einzug in die Kunst: Ich behaupte, also ist es. Unabhängig von seiner tatsächlichen künstlerischen Qualität kann ich faktisch von allem behaupten, es sei Kunst, und nicht zuletzt dieser Zustand hat zu der in der Kunst zum Klischee gewordenen Reaktion geführt, beim Betrachten eines Werks auszurufen: Das kann ich auch! Das Behaupten eines Kunstzustands wird allerdings relevanter, wenn durch ein gewisses Renommee Zugang zum Kunstbetrieb besteht: Hängt ein behauptetes Kunstwerk erst einmal im Museum, ist sein Kunstzustand dringlicher.

 

Die Popmusik existiert inzwischen in einem Umfeld, indem tatsächlich jeder sagen kann: Das kann ich auch. Ich kann dahergehen und an meinem Computer einen Song samt Video erstellen. Zu einem gewissen öffentlichen Raum, der es in seinem Popzustand adelt, hat auch jeder Zugang: Ein Song auf MySpace ist wie ein behauptetes Kunstwerk im Museum. Insofern könnte man sagen, die Popmusik ist in ihrer Ära der Behauptung angelangt.

 

Kylie Minogue ist nun ein Popstar aus einer ganz anderen Ära der Popmusik: Aus der Ära des Musikvideos. Da sie aus gesundheitlichen Gründen seit vier Jahren keine Platte veröffentlichen konnte, stammt ihre vorletzte CD „body language“ nun noch aus eben dieser Ära des Musikvideos, ihre neue CD „X“ aber aus der Ära der Behauptung. Während die zentrale Marketingstrategie im Falle von „body language“ das grandiose, von Baillie Walsh inszenierte Video zum Überhit „slow“ war, ist es im Falle von „X“ die von der Kritik einhellig akzeptierte Behauptung, dies sei die erste musikalisch ernst zu nehmende Platte, die Kylie gemacht hat. Diese Behauptung ist jedoch ebenso falsch wie wahr: Natürlich ist „X“ keine gute Platte, aber die bloße Behauptung, sie sei es doch, macht sie zu großer Kunst. „X“ ist, wenn man so will, Kylies Pissoir. (Es sei an dieser Stelle am Rande erwähnt, dass Madonna den Übergang von beiden Ären der Popmusik dadurch zu bewältigen versucht, ihr nächstes Album gar nicht mehr von einer Plattenfirma vermarkten zu lassen, sondern von einer Konzertagentur. Ein heutiges, großes Popkonzert ist auch dem Popscharnier der Behauptung zuzurechnen, weil sein Livecharakter tatsächlich bloße Behauptung, da in Wirklichkeit rezeptionsunabhängig wiederholbar ist.)

 

Von jeher durchzieht die Karriere von Kylie Minogue die Rückversicherung bzw. eben Behauptung, dass sie Musikerin ist, wo sie doch zuallererst eine visuelle Künstlerin ist. Am bislang eindringlichsten ist ihr das gelungen, als sie 1995 „where the wild roses grow“ veröffentlichte, jenes Duett mit Nick Cave, mit dem sie sich einen gänzlich anderen Hörerkreis erschließen konnte, und mit dem sie im gewissen Sinne den heutigen Indiehörer vorwegnahm, der auch einen Superhit von Timbaland zu goutieren weiß. Nun also ist ein komplettes Album in dieser kylieschen Tradition erschienen, und seine wahren Qualitäten wird es erst dann erweisen, wenn weitere Singles von ihm erschienen sein werden, weil bei einer Platte, die von Hits wimmelt, es immer die Behauptung eines Hits ist, der ihn zu einem Hit adelt. (Das in diesem Sinne beste Album aller Zeiten ist ganz sicherlich „Bad“ von Michael Jackson, von dem 9 der 10 Songs als Single ausgekoppelt wurden.) Man kann davon ausgehen, dass „sensitized“ als Single herauskommen wird, eine Uptemponummer, deren schleppender Beat auf einem MC Solaar-Sample beruht, welches seinerseits von Serge Gainsbourgh gesampelt wurde, und dass „Nu-di-ty“ Nummer eins in ganz Europa werden wird: Dies Ding kommt so elektropopdadaistisch daher, dass man ganz süchtig wird. Warten wir es ab – „X“ als Album zu hören ist, wie gesagt, ein großer Spaß: Man muss sich beim Hören einfach die ganze Zeit denken, dass es Kylies Pissoir ist.

 

David Gieselmann

 

www.popticker.de

 

Kylie Minogue: X

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